Bäume, die Geschichten erzählen
Mönchsdeggingen, ein kleines Örtchen im bayerischen Donau-Ries. An diesem Montagvormittag im Februar fühlt es sich fast nach Frühling an, denn es ist mild und die Sonne scheint. Licht und Schatten umspielen die Türme der St.-Georgs-Kirche und des ehemaligen Klosters. Gotteshäuser, die das hiesige Landschaftsbild prägen. Die Geräuschkulisse hingegen lässt sich kaum beschreiben - es gibt fast keine. Nur vereinzelt fährt ein Auto vorbei, ein Hund trottet hechelnd neben seinem Herrchen her und eine freundliche Einwohnerin sagt nickend im Vorbeigehen „Griaß di“. Mönchsdeggingen ist die pure Idylle, aber eben auch ein verschlafenes Nest. Nur etwa 100 Arbeitsplätze kann die Gemeinde ihren rund 1.460 Bürger*innen anbieten. Die Menschen ziehen weg, nach Augsburg oder München - Landflucht nennt man das Phänomen. Doch eine Bewohnerin bleibt und das seit vielen Jahrhunderten.
Es ist die alte Sommerlinde unterhalb der evangelischen St. Georgskirche am Ortsrand. Sie fällt auf den ersten Blick kaum auf: Der Stamm ist nicht sonderlich hochgewachsen, die Astkrone ist auch nicht wirklich ausladend. Und doch ist ihre Erscheinung ungewöhnlich. In der Taille liegt ihr Umfang bei etwa fünf Metern. Nur einige Zentimeter oberhalb des Bodens teilt sich ihr Stamm dann entzwei. Ein Teil steigt weiter nahezu senkrecht in die Höhe, der andere Teil wächst als ebenso langer und dicker Arm fast waagerecht zur Seite. Schaut man vom kleinen Trampelpfad zur Kirche aus auf die alte Linde, so erscheint sie stark, fest verwurzelt und durch nichts ins Wanken zu bringen. Trotzdem wird ihr seitlicher Ast durch zwei Metallstreben gestützt. Läuft man um den Baum herum, sieht man sofort, wieso: Auf der Rückseite klafft ein großer Hohlraum. Die Linde ist seit vielen Jahren nicht mehr ganz so massiv. „Nicht ungewöhnlich für ihr Alter“, sagt Stefan Kühn vom Deutschen Baumarchiv. Solche Löcher entstehen, wenn Äste zum Beispiel bei Unwetter herausbrechen. So war es bei der alten Sommerlinde um 1800. Heilen können diese Wunden nicht. Und wie Wunden am menschlichen Körper, stellen sie Einfallstore für gefährliche Krankheitserreger dar.
Für ihr Alter ist die Sommerlinde trotzdem noch recht rüstig. Aber was ist überhaupt ihr Alter? „1.100 Jahre“, würde so manche*r in Mönchsdeggingen wohl stolz antworten. Das Landesamt für Umwelt Bayern nennt dieselbe Zahl, kann aber kein dementsprechendes Gutachten liefern. Stefan Kühn gibt der Sommerlinde im Kreis Donau-Ries maximal 700 Jahre. „Die Tausendjährigen in Deutschland sind meist ein Mythos. Wenn wir dann das Alter schätzen, auf Basis von Stammumfang, Vergleichswerten mit Bäumen, deren Pflanzung dokumentiert wurde, und jahrelanger Erfahrung sind die Menschen oft etwas enttäuscht“, sagt er. So oder so, die Linde wurde Zeitzeugin des Wandels in Mönchsdeggingen - und war dabei stets ein fester Bestandteil ihrer Gemeinde. Was ist ihre Geschichte?
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Die Linde als Ort der Verhandlungen
In Mönchsdeggingen kennt man die Sommerlinde eher als Gerichts- oder Thinglinde. Das Thing oder Ding waren regelmäßige Volks- und Gerichtsversammlungen nach germanischem Recht. Daher kommt übrigens auch die Redewendung „Jemanden dingfest machen“. Die Verhandlungen fanden stets unter freien Himmel statt, oftmals unter einer Eiche oder eben unter einer Linde - der Thinglinde. Über mehrere Tage hinweg berieten sich die ausschließlich männlichen Teilnehmer über Recht und Ordnung in ihren Gemeinden und bestraften nicht selten mit der Blutrache. Mit der Christianisierung und Karl dem Großen ab 800 n.Chr. wurde das Gerichtswesen dann aber revolutioniert. Von da an wurde nur noch drei Mal jährlich im Februar, Juli und Oktober getagt, das Gericht fand üblicherweise nicht mehr im Freien statt, die Zeug*innenbefragung gewann an Wert und die Urteilsfinder waren Schöffen. Damit ist klar, dass die Mönchsdegginger Linde sicherlich nie eine Thinglinde nach germanischem Verständnis war. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass sie trotzdem als Schauplatz der Verhandlung kleinerer Delikte diente. Ein offizielles Gemeindehaus, geschweige denn ein Gericht in der näheren Umgebung, gab es nicht und war für die Interessenskonflikte der Bürger*innen auch meist nicht notwendig. Man einigte sich einvernehmlich und außergerichtlich. Gelegentlich unterstützte dabei ein externer Richter, der neben einem geringen Honorar vom Dorf mit gutem Wein und Hausmannskost verpflegt wurde. Die schweren Delikte oblagen aber trotzdem dem „obern strenngen gericht“, wie Graf Wolfgang I. von Oettingen 1520 festhält.
Eine neue Rolle im Brauchtum
Mit der zunehmenden Bedeutung des Christentums entstanden auch neue Feierlichkeiten wie Erntedank oder die Kirchweih. Diesen Jahrestag der Segnung und Einweihung einer Kirche feiert ihre Gemeinde oft tagelang. In der Mitte solcher christlichen Veranstaltungen befindet sich bis heute oft ein Baum: die Tanzlinde. Als solche hat auch die Linde in Mönchsdeggingen gedient. Ihre frühere Form eignete sich dafür hervorragend. In ihrer Baumkrone, damals noch bestehend aus drei kräftigen Ästen, befand sich das für Tanzlinden typische Podest, auf welchem Mädchen und Jungen bis in die Nacht hinein ausgelassen tanzten. Darunter, in den sogenannten Lauben, saßen die Eheleute, feierten etwas gemäßigter und unterhielten sich wohl über Gott und die Welt. Etwas abseits beobachteten oftmals Witwen in dunkler Tracht nostalgisch das fröhliche Treiben. Dabei fällt auf: Alles hat hier Rang und Ordnung. Verheiratete Frauen und Männer durften das Podest zum Tanz nämlich gar nicht erst betreten. Tanzlinden wurden oft in der Nähe von Kirchenhäusern errichtet oder andersrum - die Kirche wurde in der Nähe einer bestehenden Tanzlinde erbaut. So konnten die Geistlichen ihre Gemeinden ein wenig im Auge behalten. Diesen Hintergrund könnte es auch in Mönchsdeggingen geben. Die nur 60 Meter entfernte St. Georgskirche in ihrer heutigen Gestalt wurde nämlich 1750 geweiht. Ob der damalige Pfarrer Müntscher wohl hin und wieder seine Gemeinde durch die kleinen Kirchenfenster beäugte?
Am Ende des 18. Jahrhunderts verliert die alte Linde dann ihren dritten Arm in einem Unwetter. Die dabei entstehende Höhle wird bald von Pilzen und Fäulnis befallen. Die Menschen füllen sie mit einer Betonplombe. „Das macht man heutzutage nicht mehr, denn es schadet den Bäumen enorm. Sie wachsen, biegen und bewegen sich schließlich und in den Räumen zwischen Plombe und Baum wird es dann erst recht modrig“, sagt Stefan Kühn. Das Tanzpodest in der Krone der Sommerlinde wird abgebaut und sie gerät allmählich in Vergessenheit. Den anfänglichen Schätzungen zufolge dürfte sie zu dieser Zeit bereits 500 bis 900 Jahre alt gewesen sein.
Die Rettung der Linde erhält das kulturelle Erbe
Erst in den 1960ern beschließt jemand, der alten Sommerlinde zu helfen. Es ist Johann Friedrich Wiedemann. „Wer sich mit der jungen Geschichte Mönchsdeggingens beschäftigt, kommt an ihm nicht vorbei“, erklärt Bürgermeisterin Karin Bergdolt anerkennend. Um zu zeigen, was der Mann für sein Heimatdorf getan hat, wäre es wohl schneller zu sagen, was er nicht getan hat. 1897 in Mönchsdeggingen geboren, startet er seinen Werdegang in der Landwirtschaft, ehe er mit 30 Jahren beginnt, für die Kirchengemeinde zu arbeiten. Er scheint alles Organisatorische der evangelischen Gemeinde zu verwalten, hilft jungen Pfarrern bei ihren Predigten und ist zudem Totengräber für Mönchsdeggingen und fünf Nachbarorte. Dazu ist er freier Mitarbeiter für sechs Regionalzeitungen. Privat tut der Junggeselle alles, um das kulturelle Erbe seiner Heimat zu wahren. So war Mönchsdeggingen rund zwei Jahrhunderte lang auch die Heimat einer jüdischen Community. Im Dritten Reich kauft Wiedemann deshalb den jüdischen Friedhof, um ihn als sogenannten „arischen Besitz“ vor den Nationalsozialist*innen zu beschützen.
Im Zeichen der Dankbarkeit
Im Jahr 1961 ist sich Johann Friedrich Wiedemann sicher: Die ehemalige Gerichtslinde und spätere Tanzlinde muss ebenfalls als Teil der Kultur in Mönchsdeggingen erhalten bleiben. Er hört von moderneren Maßnahmen zur Baumpflege, die die Koryphäe auf ihrem Gebiet, Michael Maurer, in den Vereinigten Staaten gelernt und nach Deutschland gebracht hatte. Eine Untersuchung ergibt, dass eine umfassende Sanierung 4.000 Deutsche Mark kosten würde. Eine Rechnung, die in der Gemeinde niemand übernehmen möchte. Also beginnt Wiedemann zu sparen. Sechs Jahre lang legt er jede übrige Mark seiner Invalidenrente, er hatte bei einem Unfall seine rechte Hand verloren, zur Seite. Diese Beharrlichkeit sei für ihn typisch gewesen, heißt es in der Chronik anlässlich 1.000 Jahren Mönchsdeggingen, in welcher er den*die Leser*in auf verschiedenen Fotos ernst durch seine dicke Brille beäugt. 1967 hat er die hohe Summe, die heute wohl knapp 9.000 Euro entspräche, endlich beisammen und kann den Auftrag erteilen. Letztendlich beschließt die Stadt sogar doch, sich zumindest an den Kosten zu beteiligen. Bei der Sanierung wird die Betonplombe entfernt und es werden Maßnahmen getroffen, die man laut Stefan Kühn zum Teil heute noch so anwendet. Nur so übersteht die alte Linde die vielen Jahrzehnte, in denen ihr Gesundheitszustand kritisch, und ihr Schicksal besiegelt schien. Nur so ist es möglich, dass sie bis heute unweit der Kirche und oberhalb des Rathauses und damit im Zentrum Mönchsdeggingens verwurzelt ist. Sie war ein wichtiger Bestandteil der Gemeinde, und ist es dank des Engagements von Johann Friedrich Wiedemann bis heute.