„Hitler hat vergessen, euch zu vergasen!“
Makkabi, hebräisch für gelebtes Miteinander
Warnung: Dieser Text enthält explizite Sprache, die antisemitische Beleidigungen wiedergibt.
Noch weniger als eine Stunde bis Anpfiff. Ein schwarzer Ford rollt auf das Gelände der Sportanlage Bertramswiese. Als er aussteigt, springt seine große schwarze Jacke mit Stern auf der Brust sofort ins Auge. Bisher hat den 1,95-Mann noch niemand erkannt. Er holt den Sanitäter-Rucksack aus dem Auto. Betritt den heiligen Rasen, der von allen liebevoll nur „Berte“ genannt wird. Auf den zweiten Blick ist das Grün gar nicht mal mehr so heilig, sondern eher Kreisoberliga-typisch: Mehr Erde als Gras, große Löcher im Boden und selbst die weißen Markierungen fehlen an mancher Stelle.
Schon von Weitem hat er die blau-weißen Trikots seines Vereins mit dem Stern entdeckt. Denn neben seinem Team trainieren parallel auch noch zwei Jugendmannschaften auf dem Gelände – trainiert von jungen Erwachsenen, die oft selbst noch in der Jugend spielen. „Ari, schön, dich zu sehen.“ Zu ihm wird aufgeschaut, er wird von nahezu jedem Spieler auf und neben dem Platz erkannt. Ari begrüßt jeden auf seinem Weg zur Kabine per Handschlag, manche sogar mit herzlicher Umarmung und Smalltalk. Egal ob den Platzwart, die Kinder auf der Bank oder die Eltern, die gerade ihren Jungs zuschauen. Denn Ari ist eines der bekanntesten Gesichter des Vereins mit dem Stern, der für sie so viel mehr bedeutet, für den sie sich schon so viel anhören mussten. Auch heute wissen sie nicht, was sie gleich noch erwarten wird.
Hinter dem Logo verbirgt sich der Turn- und Sportverein Makkabi Frankfurt. Wenn man genauer hinsieht, wird klar, warum die Spieler mit einem stilisierten Davidstern auf der Brust auflaufen. Denn Makkabi Frankfurt ist ein jüdischer Sportverein.
Makkabi Frankfurt
Angefangen mit 300 Mitgliedern und fünf Abteilungen, ist Makkabi Frankfurt heute mit mehr als 2.600 Mitgliedern und 27 Abeilungen der größte der insgesamt 40 Ortsvereine des jüdischen Sportverbands Makkabi Deutschland.
Das Wort Makkabi kommt von Judas Makkabäus, der Hammergleiche, der Juden im Kampf gegen das hellenistische Reich der Seleukiden anführte. Seit 1965 ist der jüdische Sportverein in Frankfurt aktiv und setzt sich neben dem Sport auch für die Vermittlung von Werten wie Integration und den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus ein. Für sein gesellschaftliches Engagement wurde der Verein 2018 sogar schon mit dem Integrationspreis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet.
Ariel Leibovici, von allen nur Ari genannt, ist seit über 30 Jahren bei Makkabi. Ein Schulfreund hat ihn damals mitgenommen. Schnell hat Ari gemerkt, dass Makkabi für ihn immer sein Verein bleiben wird. Schon als Jugendlicher trainiert er die E-Jugend, später dann die A-Junioren. Nach einem vierjährigen Engagement in Köln schlägt er bei seiner Rückkehr nach Frankfurt das Angebot zum Sportlichen Leiter und Trainer der ersten Mannschaft aus. Er würde sich aber eine zweite Mannschaft zutrauen, die es bisher noch nicht gab, die er aber gerne aufbauen würde. Seit nunmehr fünf Jahren betreut Ari die erste Mannschaft in Frankfurt als zentrale Bezugsperson neben Cheftrainer Marlon. Zudem ist er zum Sportlichen Leiter des Dachverbands aufgestiegen. Sein Engagement bei Makkabi ist nicht nur sein Job, es ist sein Leben.
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„Wenn man Respekt erwartet, muss man das auch vorleben und Vorbild sein“. Deshalb schüttelt Ari auch so viele Hände und geht eben nicht ignorant an Jugendspielern und Familie vorbei. „Ich weiß nicht, ob mich jeder kennt, dem ich begegne. Trotzdem bin ich aber verantwortlich für Makkabi, ich repräsentiere Makkabi“. Und seine Repräsentation zeigt Wirkung: Täglich bekommt er zahlreiche Mails von Eltern mit der Frage, wie ihre Kinder ein Teil von Makkabi werden können. „Ich habe gehört, da gibt es diesen Ari, deshalb schreibe ich dir“, zitiert er aus einer der vielen Anfragen.
Als Sohn einer finnischen Mutter und eines rumänischen Vaters bekommt Ari im multikulturellen Offenbach Respekt und Wertschätzung von klein auf vorgelebt. Die jüdische Kultur zog sich dabei nahezu durch sein gesamtes soziales Umfeld. Begonnen im jüdischen Kindergarten, mit sechs Jahren im jüdischen Jugendzentrum und später auf der jüdischen Förderschule – in seinem jüdischen Umfeld hat sich Ari bei fast allen wohlgefühlt.
Die Gefahr spielt immer mit
Eine halbe Stunde vor Anpfiff laufen die Vorbereitungen am ,,Berte”. Im ersten Spiel der Rückrunde geht es gleich gegen FC Posavina. In der Kabine ist eine leichte Anspannung zu spüren. Von einer möglichen Angst vor Anfeindungen aber nichts. „Wie war`s im Urlaub? Musst du arbeiten morgen? Wie geht es deiner Schwester?“ – alles Fragen, die die Männer beschäftigen. Religion ist hingegen kein Thema. Eine Gefahr auf antisemitische Beleidigungen aufgrund ihres Sterns besteht aber immer. Auch heute könnte es wieder dazu kommen. Der gegnerische Trainer war in der Vergangenheit schon öfter mit antisemitischen Bemerkungen aufgefallen.
Ari allein kann dutzend Geschichten über persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus erzählen. Er erinnert sich an einen Vorfall im Kindesalter, als ihm mit Makkabi der Kabinenschlüssel vom Platzwart überreicht wurde. Auf einem kleinen Holzschild am Schlüsselbund war ein Hakenkreuz eingeschnitzt. Neben körperlichen Androhungen gehören Bemerkungen wie „Hitler hat vergessen, euch zu vergasen“ für Makkabi zur Tagesordnung. Der Verein kann diese Normalität mit einer Umfrage unter Mitgliedern sogar statistisch belegen. 39 Prozent der Befragten sind schon mindestens einmal selbst Opfer eines antisemitischen Vorfalls geworden, im Fußball waren es sogar 68 Prozent.
Auch wenn Ari das Makkabi-Logo auf Trikot oder Sporttasche nie aus Angst verdeckt hat, blieb ein mulmiges Gefühl. Wenn er bestimmte Wege kenne, wisse er auch, was auf ihn zukommt. Manche Makkabi-Jugendspieler berichten davon, dass sie aus Vorsicht den Stern auf der Vereinskleidung lieber doch verdecken. In bestimmten Parks und U-Bahn-Stationen seien Beleidigungen und körperliche Angriffe fast schon zu erwarten.
„Vielleicht sind die Judenhasser auch einfach nicht so gut im Sprayen“
Seine Heimatstadt schätzt Ari dabei aber trotzdem noch weltoffener ein als Berlin. Allein auf seiner Fahrt zum Spiel entdeckt er zwei Jugendliche auf dem Rad mit Makkabi-Rucksack auf dem Rücken. „Teenager mit Makkabi-Jacken und Sporttaschen sind hier schon fast Teil des Stadtbilds. Du kriegst es mit und nimmst es einfach wahr.“ Als Stadt mit einer großen jüdischen Gemeinde, rund 7.000 Mitgliedern aktuell, wird Frankfurt von Makkabi-Präsident Alon Meyer als „jüdischste Stadt Deutschlands“ genannt. Die Stadt sei speziell und kompakt. „Hier sind Tür und Tor in den Organisationen, in den Vereinen schneller offen, ehrlicher offen, direkter offen.” Es gebe keinen einzigen Stadtteil, wo man diese Diversität auf der Straße nicht spüren würde. „Das ist multikulti, das ist Frankfurt und das macht uns aus.“ Der Frankfurter Verkehrsbetrieb hat als Zeichen der Unterstützung und Verbundenheit mit dem jüdischen Sportverein 2015 mehrere U-Bahnen blau und weiß gefärbt und mit Makkabi-Sternen beklebt. Seit jeher fahren sie quer durch die Stadt. Ari erzählt von dem Gerücht, dass die U-Bahnen mit Makkabi-Branding noch nie besprüht wurden: „Vielleicht sind die Judenhasser auch einfach nicht so gut im Sprayen“.
Heute ist Makkabi nicht nur für Jüd*innen ein Zuhause
Sich mit dem Makkabi-Stern auf der Brust öffentlich zu zeigen, bedeutet auch für nicht-jüdische Menschen, sich der Gefahr auf antisemitischer Anfeindungen wegen ihrer Zugehörigkeit zum Verein auszusetzen. Und davon gibt es ganz schön viele im Verein. Mehr als 60 Prozent der Mitglieder sind gar keine Juden. Dass alle Menschen unabhängig ihrer Religion Teil des Vereins sein können, ist dabei seit mittlerweile 16 Jahren möglich. Erst mit der Berufung Alon Meyers zum Präsidenten öffnete sich Makkabi 2007 für nicht-jüdische Mitglieder, die sich mit den Werten des Verbands identifizieren können. Es markiert einen Meilenstein in der langen Geschichte des Verbands, denn heute ist Makkabi „offen für alle Menschen“. Ein aktuelles Beispiel dazu: Es wird muslimisches Mutter-Kind-Schwimmen angeboten – bei einem jüdischen Sportverein.
Makkabi - zwischen Gründung und Verbot
Als Makkabi Deutschland 1903 von deutsch-jüdischen Sportvereinen als Dachverband gegründet wurde, konnten damals ausschließlich Personen jüdischen Glaubens dem Verein beitreten. In vielen Ländern war es ihnen nicht gestattet, Sportvereinen beizutreten. Sie bauten eigene Vereine und damit einen Safe Space auf, um dort mit anderen jüdischen Menschen zu trainieren.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der jüdischen Bevölkerung jeglicher Vereinssport verboten und Makkabi Deutschland komplett aufgelöst. Erst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg formierten sich in den sogenannten Displaced Persons Camps wieder jüdische Sportgruppen. Die Alliierten sprachen den KZ-Häftlingen, Zwangsarbeiter*innen und Kriegsgefangenen als „Displaced Persons“ einen Anspruch auf besondere Fürsorge zu.
In den späten 50er- und 60er-Jahren entstanden wieder richtige jüdische Sportvereine, 1965 kam es zur Neugründung des deutschen Makkabi-Sportverbandes.
Und so lässt diese offene Ausrichtung des Vereins zu, dass Ari heute Mourad Aboulmakarim als Verteidiger und Kevin „Ushky“ Ushky vor ihm auf Linksaußen aufstellen kann. Ushky ist Jude, Mourad Moslem. Sie heißen Younes, Kurt, Santi oder Zapke. Aris Mannschaft besteht aus Juden, Christen, Moslems, Atheisten – aus allen möglichen Ländern. Makkabi nimmt jeden auf, der ein gutes Miteinander vorleben möchte. Ari selbst hat nie einen Spieler von Makkabi gesehen, der jemanden beleidigt oder angegriffen hat.
Es steht kurz vor Anpfiff in der Kabine, Marlon hält die finale Ansprache. Gemeinsam mit den Jungs sitzt Ari still auf der Umkleidebank, lauscht ernst und konzentriert seinen Worten. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal so sagen werde …“ setzt Marlon an. „... aber ja, ich verspüre die ganze Zeit, wie soll ich`s anders sagen, einfach good vibes“. „Good vibes“, das positive Miteinander, Makkabi als Familie – am Spieltag wird nicht nur darüber gesprochen. Normalerweise wimmelt es in Fußballmannschaften nur so vor zu großen Egos – hier nicht. Kein einziger Spieler aus dem Team lässt die Chance zu, überhaupt denken zu können, er würde sein Ego über den Verein stellen.
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„Wir sind keine richtigen Pädagogen“, macht Ari nochmal klar. „Aber wir halten bei Makkabi die Augen offen, wollen Veränderungen wahrnehmen und uns gemeinsam mit den Eltern fragen: Wie geht es meinem Kind, meinem Sportler?“ Die Sportler*innen sollen hier Schutz finden. Nicht nur, aber vor allem dann, wenn es im sonstigen sozialen Umfeld gerade Schwierigkeiten gibt.
In Aris Philosophie bei Makkabi soll die sportliche Leistung trotzdem nicht komplett vernachlässigt werden, es gehe um eine „Balance zwischen Sport und Menschlichkeit“. Jedoch wird er immer wieder den Spieler eher aufstellen, der sportlich etwas schlechter ist, dafür aber „menschlich nach links und rechts guckt“.
Mittlerweile läuft das Spiel seit zehn Minuten. Es schaut nicht nur die Makkabi-Bank zu. Eltern, Bekannte und sehr viele Spieler sind gekommen, die wegen einer Verletzung oder anderen Gründen gerade nicht einsatzfähig sind. Während Marlon als Spieler selbst auf dem Platz steht und von dort aus Anweisungen gibt, kommt Ari mit allen ins Gespräch. Nach nur 30 Minuten auf der Uhr der erste Wechsel. Der ausgewechselte Spieler ist sichtlich enttäuscht. Er wird von Ari sofort in den Arm genommen. Er streichelt ihm nahezu väterlich den Kopf, tröstet ihn und gibt ihm aufmunternde Worte mit auf den Weg.
„Es klingt plump,“ sagt Ari, „aber Makkabi ist für mich Familie“. Zuerst käme die „richtige“ Familie, dann seine Freunde, und dann direkt die Makkabi-Familie. Auf Verbands-Lehrgängen und Veranstaltungen spüre man diese vertrauten Verbindungen. Mit dem Wasserball-Trainer aus Trier, dem Volleyball-Trainer aus Stuttgart, dem Fecht-Trainer aus Köln – mit allen führt Ari familiäre Gespräche, weil ein aufrichtiges Interesse an seinem Gegenüber besteht.
Schabbat und Makkabi: Das gelebte Miteinander
Schon beim Schabbat haben seine Eltern damals gezeigt, wie ernsthaftes Interesse an Menschen aussehen kann. Familie Leibovici, sowie vielen anderen Familien, geht es beim jüdischen Ruhetag vor allem um das Zusammenkommen beim gemeinsamen Abendessen. Keine Woche vergeht, in der Ari nicht zusammen mit seinen Eltern feiert, in der Freunde oder Familie nicht zum Schabbat eingeladen werden. Fast wie ein unausgesprochenes Gesetz. Für Ari war es normal, dass Leute bei ihnen ein und aus gingen. Er ist so groß geworden, es gewohnt, neue Leute kennenzulernen. Religion und Traditionen werden „super light” ausgelebt. Denn trotz des wöchentlichen Gangs in die Synagoge sei er sehr eigentlich sehr unreligiös. Er glaubt an Gott, die Zehn Gebote, lebt hier und da jüdische Traditionen – koscher wird zu Hause aber nicht gegessen. Das Leben in der jüdischen Gemeinde bedeutet für ihn vor allem eins: Das Leben in der Gemeinschaft, Teil des Ganzen zu sein. Es gehe nicht darum, religiös zu sein oder unbedingt beten zu müssen.
Ein erfolgreicher Nachmittag geht für Aris Jungs zu Ende: Sie gewinnen mit 2:0. Vielleicht noch viel wichtiger als das Ergebnis ist der Fakt, dass es heute keine Vorfälle wegen des Sterns auf der Brust gab. In der Mannschaft herrscht eine ausgelassene Stimmung mit Bier, lauter Musik und Fußballer-Humor. Nach einer Weile zückt Ari sein Handy und öffnet die Fairness-Tabelle der Liga. Makkabi steht auf Platz eins, mit keiner einzigen Roten Karte. „Andrii, in drei Minuten ist Abfahrt.“ Der 23-Jährige kommt aus der Ukraine und ist vor sechs Monaten vor dem Krieg geflohen. Vier Monate spielt er nun bei Makkabi, ist jetzt schon Stammspieler. Er hat Andrii in den Deutsche-Bank-Park eingeladen. Zum Bundesliga-Abendspiel, die Eintracht spielt gegen Bremen. Ari packt den Sanitäter-Rucksack, verabschiedet sich mit Andrii im Schlepptau und öffnet die Tür zu seinem Auto. Der Ford rollt vom Gelände – und die schwarze Jacke mit dem Stern mit ihm.