„Ultras sind ein wohltuendes Gegengewicht zur ungezügelten Kommerzialisierung des Fußballs (...).“
Ultras – Ultra missverstanden?
Sommer 2024: Deutschland ist mal wieder im Fußballfieber. Drei Wochen später fliegt die deutsche Nationalmannschaft aus der EM und die Aufmerksamkeit der Public Viewer schwindet. Für andere, wie Benjamin* und Dennis*, dominiert der Fußball das ganze Jahr. „Ich plane meinen Urlaub nach dem Spielplan. Mein ganzes Leben geht danach“, erzählt Benjamin. „Naja, vielleicht 90 Prozent“, schmunzelt er. Die beiden sind zwar keine Ultras mehr, aber die Begeisterung für Fußball ist geblieben. In der Ultra-Bewegung gehe es nicht um den Erfolg, erklärt Dennis. „Ultra sein heißt 100 Prozent Support. Du gibst 90 Minuten alles, mit all deinen Emotionen, egal wie es ausgeht. Das ist eine Lebenseinstellung.“
Der Ruf, dass Ultras gewaltbereit seien, hält sich hartnäckig. Zwischen gewalttätigen Konflikten und Pyrotechnik findet die Liebe zum Fußball nur wenig Platz in den Medien. Ausschreitungen vor oder nach Spielen bestärken dieses Bild. Doch die Realität sieht anders aus. Gewalt geht oft nur von einzelnen Gruppen oder Personen aus. Zwischen Ultras und Hooligans wird selten unterschieden, was den schlechten Ruf zusätzlich belastet.
Die Hooligan-Bewegung ist in den 1960er Jahren in Großbritannien entstanden. Sie ist eng mit der Arbeiterklasse und den gesellschaftlichen Spannungen dieser Zeit verbunden. Hooligans haben ihren Fokus mehr auf gewalttätigen Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Gruppen, hauptsächlich außerhalb des Stadions. Ihre Aktivitäten sind weniger auf den Fußball selbst ausgerichtet.
Die Ultrakultur hingegen entstand in den 1950er und 1960er Jahren in Italien, inspiriert von Leidenschaft und Organisation lateinamerikanischer Fans. Ultras sind mit ihrem Verein emotional sehr verbunden und oft auch politisch oder sozial engagiert. Der aktive Support durch Choreografien, Gesänge, Fahnen und Banner steht im Vordergrund. Ultras pflegen eine starke Gemeinschaft und betonen Werte wie Loyalität und Anti-Kommerzialisierung. Gewalt ist nicht der Fokus, auch wenn es dazu kommen kann.
Die Gefahr im Stadion
In den Augen vieler sind Ultras vor allem eins: gefährliche Problemfans. Aber wie viel Gefahr geht tatsächlich von ihnen aus? Nach den Zahlen der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) lag in der Saison 2023/24 der Anteil der Verletzten bei Spielen der deutschen Fußball-Ligen bei 0,0047 Prozent. Laut DFL sei die Zahl der „gewaltbereiten und gewaltsuchenden Personen“ seit Jahren konstant niedrig. Auch Prof. Dr. Harald Lange, Sozial- und Sportwissenschaftler, sieht Ultras nicht als Gefahr im klassischen Sinn. Vielmehr „sind sie eine Gefahr für die sich etablierenden Strukturen im Kommerzfußball, denn die Ultras sind quasi der Gegenpol zur Kommerzialisierung“, so der Leiter der Fan- und Fußballforschung am Institut für Sportwissenschaft in Würzburg.
Krawall gegen Kommerz
Für Vereine sind Ultras häufig unbequem, weil sie vieles kritisieren. Sie protestieren gegen Sponsoren, Vereinsentscheidungen oder den modernen Fußball. Singen sie gegen steigende Ticketpreise, treffen sie den Nerv vieler Fans. Wenn aber Spiele unterbrochen werden, weil hunderte Tennisbälle auf dem Rasen liegen, fehlt so manchen Familien im Stadion das Verständnis. Doch ihre Kritik hat oft fundierte Gründe. „Mit dem Blick auf die letzten Jahre kann man attestieren, dass Ultras ein wohltuendes Gegengewicht zur ungezügelten Kommerzialisierung des Fußballs sind, sportbezogene Werte hochhalten und dass sie es schaffen, Probleme des Fußballs durch ihre Protestaktionen in die Mitte der Gesellschaft zu spülen“, erklärt Herr Lange. Sie setzen sich für fanfreundliche Preise, Mitbestimmung und den Erhalt der Vereinsidentität ein. Ihre Aktionen sollen nicht destruktiv sein, sondern Ausdruck ihres Engagements. „Aufhalten kannst du die Kommerzialisierung eh nicht mehr, aber man muss sie ja nicht ungehemmt voranschreiten lassen!“, so Benjamin.
Pyrotechnik: Magie oder Sicherheitsrisiko?
Die Tribüne leuchtet rot, ein Meer aus Fackeln taucht das Stadion in Rauch. Das Spiel wird unterbrochen und auf den Bildschirmen liest man: „Bitte unterlasst das Abbrennen von Pyrotechnik!“ Bengalos sind einer der größten Streitpunkte zwischen Ultras und Behörden. Für die Ultras ist Pyrotechnik Ausdruck von Leidenschaft und Kreativität, für andere ist sie ein Sicherheitsrisiko. Die Angst vor Verletzungen ist nachvollziehbar. Erst kürzlich wurde ein Balljunge bei einem Spiel des VfB Stuttgarts von einer brennenden Fackel verletzt. Trotzdem wird der Ruf nach der Legalisierung von Pyrotechnik in Stadien immer lauter und auch Expert*innen sehen darin einen Vorteil. Man müsse das Thema versachlichen und aus der Demonstrationsebene rausholen, so Herr Lange. Pyrotechnik dürfe nicht mehr als Symbol des Widerstandes gelten und dann könne man auch, gemeinsam mit den Fans, nach Möglichkeiten suchen, Bengalos weitgehend kontrolliert abzubrennen.
Gemeinsame Fandialoge sind ein wichtiger Ansatz, um die Beziehung zwischen Ultras und Vereinen zu verbessern. In regelmäßigen Gesprächen setzen sich Fanbeauftragte und Vertreter der Ultras mit Vereinsführungen zusammen, um gemeinsame Lösungen zu finden. Dabei geht es oft um sensible Themen wie Kollektivstrafen oder den Umgang mit Polizei-Einsätzen. Themen, die häufig auch Gegenstand aufwändiger Choreografien sind. Die Grenzen zwischen kreativer Unterstützung und Provokation sind dabei fließend. Politische oder beleidigende Banner sorgen immer wieder für Diskussionen. Wo der Dialog gelingt, kann jedoch gegenseitiges Verständnis entstehen – ein Gewinn für die gesamte Fußballkultur.
Vielfalt und Verantwortung
Die Ultra-Kultur ist vielfältig, und der Umgang mit Themen wie Politik, Sexismus und Rassismus unterscheidet sich stark zwischen den Gruppen. Während „Ultrà Sankt Pauli“ eine Choreo zum Weltfrauentag zeigt und Regenbogenflaggen schwenkt, ist bei anderen Gruppierungen der Sexismus unübersehbar. So gibt es einerseits umstrittene Banner, etwa von Anhängern von Bayer Leverkusen oder Dynamo Dresden, andererseits Gruppierungen wie „QUEERPASS Bayern“, die LGBTQIA+ Interessen vertreten. Unter den über 300 Ultragruppen mit rund 25.000 Mitgliedern in Deutschland finden sich sowohl problematische als auch wünschenswerte Strömungen. Nicht alle Ultragruppen sind gleich – es gibt solche, die sich aktiv für Toleranz einsetzen und das Stadion zu einem sicheren Ort für alle machen wollen und andere, die mit problematischen Aktionen auffallen. Um fair zu bleiben, darf die Szene daher nicht über einen Kamm geschoren werden.
Abseits des Stadions engagieren sich Gruppierungen oft für soziale Projekte. Sie fühlen sich nicht nur ihrem Verein, sondern auch ihrer Stadt verbunden. Sie organisieren Spendenaktionen für lokale Einrichtungen und unterstützen soziale Initiativen. Für viele Ultras gehört Solidarität zur Gemeinschaft – sowohl im Stadion als auch darüber hinaus.
Leidenschaft mit Ecken und Kanten
Ultras sind weder Helden noch Schurken. Ihre Aktionen polarisieren, weil sie oft an der Grenze des Erlaubten agieren oder diese manchmal überschreiten. Nicht jedes Vorurteil über Ultras ist falsch, aber einige sind übertrieben. Um der Ultra-Kultur gerecht zu werden, bedarf es einer differenzierten Betrachtung, die sowohl die Probleme und Herausforderungen als auch die positiven Seiten anerkennt. Denn Ultras sind ein unverzichtbarer Teil der Fankultur. Was wäre Fußball ohne sie? „Sehr wenig“, sagt Benjamin nach kurzem Überlegen. „Und langweilig“, fügt Dennis hinzu, „Fußball lebt von Stimmung und Emotionen und die kommen von den Ultras“.
*Die Namen wurden von der Redakteurin geändert.