Journalismus

„Die Übermacht des Fernsehens bricht“

Patrick Uhe ist seit vielen Jahren bei der tagesschau und begleitete den Bau des neuen Newsrooms.
16. Dez. 2022
Das Internet und die sozialen Medien stellen den Journalismus auf eine harte Probe. Er muss sich am neuen Konsumverhalten der Zielgruppen orientieren, um sie nicht zu verlieren und Algorithmen bespielen, um relevant zu bleiben. Wie reagiert die Branche auf die Transformation?

Patrick Uhe ist leitender Redakteur bei ARD-Aktuell und war unter anderem viele Jahre Chef vom Dienst bei der tagesschau um 20 Uhr. Von 2015 bis 2019 leitete er das Nachrichtenhaus-Projekt in Hamburg. Dabei wurde ein moderner Newsroom gebaut und die Redaktionsstrategie wurde so weiterentwickelt, dass eine stärkere Crossmedialität und agilere Prozesse mit höherer Mitarbeiter-Beteiligung entstanden. Seit 2020 ist er als Change-Manager aktiv. Er begleitet in dieser Funktion verschiedene Veränderungsprozesse und ist für das Recruiting von neuem Personal zuständig.

 

Herr Uhe, wie bemerken Sie konkret den Wandel im Journalismus bei ARD-aktuell?

Das Mediennutzungsverhalten hat sich radikal verändert. Wir erreichen eure Generation nicht mehr abends in der 20-Uhr-Sendung der tagesschau. Junge Zuschauer*innen wollen News on Demand dann, wenn sie Nachrichten für ihren Lebensrhythmus brauchen. Wir haben sehr früh in tagesschau.de investiert und waren die erste große Nachrichtenmarke bei Instagram. Da sind wir mit momentan fast viereinhalb Millionen Nutzer*innen sehr erfolgreich. Wir haben zwar noch zehn bis zwölf Millionen Zuschauer*innen im linearen Fernsehen, abends um 20 Uhr, aber das sind nicht die gleichen Zielgruppen. Die Hauptveränderung ist, dass die jahrzehntelange Übermacht des Fernsehens bricht. Wir waren die ersten, die zu TikTok gegangen sind. Da sagten die Leute „Ihr spinnt ja total, chinesische Anbieter und alberne Tanzvideos? Was wollt ihr da mit Nachrichten?“ Da haben wir uns dazu entschieden, es mal auszuprobieren. Unser Auftrag ist es, alle Menschen zu erreichen und dafür müssen wir uns erst anschauen, wo sie unterwegs sind.

Die Leute sagten: “Ihr spinnt ja total, chinesische Anbieter und alberne Tanzvideos? Was wollt ihr da mit Nachrichten?”

Patrick Uhe

Was ist ARD-aktuell überhaupt?

Wir bei ARD-aktuell produzieren alles für die Marke tagesschau. Die klassischen Fernseh-Sendungen, den Nachrichtenkanal tagesschau 24, aber auch tagesschau.de sowie alle Social-Media-Angebote inklusive der TikTok-Videos. 

Und wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?

Ich bin kein Kind der ARD, obwohl ich wirklich schon viele Jahre hier arbeite. Vorher habe ich einige Jahre bei RTL Aktuell gearbeitet und bin dann über den ARD-Hörfunk zur tagesschau gekommen. Das war damals ein eher ungewöhnlicher Weg. Ich bin einfach mal auf dem Gelände vorbeigegangen, um zu schauen, ob jemand mit mir spricht. Plötzlich saß ich in dem Büro von Uli Deppendorf, dem damaligen Chefredakteur der tagesschau.

Wie kam es zu der Idee des Newsrooms?

Das hat viel mit der veränderten Medienwelt zu tun. In den alten Räumlichkeiten haben wir sehr separiert gearbeitet. Dadurch, dass man sich oft untereinander nicht gesehen hat, kam es zum Informationsverlust. Die verschiedenen Redaktionen waren nicht wirklich flexibel, vor allem wenn es darum ging, die Online- und die Fernsehwelt enger zusammenzubringen. 

Hat sich das durch den Newsroom geändert?

Stand heute würde ich diesen Schritt wieder so gehen, weil wir diese Integration, diese Gemeinsamkeit und dieses schnelle Kommunizieren erreicht haben. Ich finde es auch total wichtig, dass man in jeder Redaktion und in jedem Unternehmen eine hohe Identifikation erreicht. Diese Gemeinsamkeit, dieses zusammen am Kaffeeautomaten stehen und sich austauschen, ist wertvoll: Man gibt einander hier noch eine Idee oder dort noch ein Lob mit. Ich glaube, für eine Nachrichtenredaktion, die schnell sein muss, gemeinsames Wissen herstellen soll und um Begriffe und Themen ringt, ist das eine total gute Entscheidung gewesen, diesen Newsroom zu konzipieren und dann auch so zu bauen.

Ich finde es auch total wichtig, dass man in jeder Redaktion und in jedem Unternehmen eine hohe Identifikation erreicht.

Patrick Uhe

Es gibt ja überall alteingesessene Redakteur*innen, die mit Wandel und Umstrukturierung nicht so gut klarkommen. Gab es bei euch Personal, das man erst abholen musste?

Klar, aber diese Innovationsfähigkeit war keine Frage des Alters. Es gab auch junge Leute, die keine Lust auf Veränderung hatten und ältere Kolleg*innen, die Feuer und Flamme waren. Das war ein sehr interessantes Learning. Es gibt in Change-Prozessen eine Art Formel: Du hast ein Drittel Befürworter*innen, du hast ein Drittel Leute, die das ablehnen und du hast ein Drittel, das unentschieden ist. Und da gibt es den schönen Rat: Konzentrier dich auf die in der Mitte. Alle, die es ablehnen, kriegst du sowieso nicht und die, die es gut finden, hast du schon auf deiner Seite. Trotzdem haben wir versucht, jede*n zu überzeugen. Wir haben sehr viel in Information und Transparenz investiert. Man sagt immer „Man muss die Leute mitnehmen“. Ich glaube aber, man muss noch einen Schritt weitergehen und die Menschen beteiligen. „Beteiligen“ heißt „bringt eure Ideen mit ein!“. Wir hatten den Newsroom einst ganz anders geplant, was die Möblierung und die Struktur angeht. Wir dachten, wir präsentieren das drei, vier Tage, rote Schleife drum, gekauft, so machen wir das. Dann haben die Leute gesagt: „Blöde Nähebeziehungen, blöde Sichtachsen, blöde Hierarchisierung!“ Es gehörte Mut dazu, zu sagen „Wir räumen den Newsroom sowohl im Kopf als auch real komplett leer und fangen nochmal von vorne an“. So sind wir unter Beteiligung der Redaktion zu ganz anderen Strukturen, Workflows und Sitzordnungen gekommen und haben eine sehr hohe Zufriedenheit erreicht, weil wir ganz viele Punkte, die kritisiert wurden, in die neue Lösung eingearbeitet haben.

Nochmal zurück zu Social Media: Dass Medienmarken wie die Tagesschau sich den Algorithmen großer Konzerne ausliefern, ist ja nicht unumstritten. Wie denken Sie darüber? 

Wir müssen uns zähneknirschend den Algorithmen der Tech-Unternehmen unterwerfen, um nicht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Am Anfang hieß die Kritik bei TikTok zum Beispiel, dass es sich um einen chinesischen Anbieter handelt, der viele Inhalte zensiert. Wir haben dann gleich am Anfang China-kritische Videos rausgehauen und haben geguckt, ob wir damit überhaupt durchkommen oder nicht. Wir kamen durch, aber wie das letztlich bei den User*innen landet, weiß man auch nicht genau, weil man in diesen Algorithmus nicht reingucken kann.  

Sie arbeiten auch im Recruiting. Was muss man Ihrer Meinung nach als junge*r Bewerber*in, der bei der tagesschau anfangen will, mitbringen?

Wir merken schon jetzt: Die Leute stehen nicht alle vor unserer Haustür und rütteln am Zaun und wollen unbedingt zu uns. Wir sind vielleicht eine coole Marke, hoffe ich, aber die restliche Medienwelt vergibt auch viele gute Jobs. Wir müssen uns als tagesschau mehr als Ausbildungs-Redaktion verstehen. Das heißt, wir kriegen künftig Leute, die ungewöhnlichere Lebensläufe haben, die aus Agenturen kommen, die Filme gemacht haben, die bislang nicht zwingend mit Nachrichten in Berührung gekommen sind. Wir nehmen nicht nur die Vollblut-Nachrichtenjournalist*innen. Das wäre aus zwei Gründen Quatsch. Problem Nummer eins: Vielleicht kriegen wir die gar nicht. Problem Nummer zwei: Wir müssen uns mehr öffnen für Menschen, die grundsätzliches Interesse an uns haben, die auch bereit sind, im Schichtdienst und an Weihnachten oder Ostern zu arbeiten, denn die tagesschau gibt's immer. Womit wir aber punkten können, ist unser Anspruch, die Leute mit guten Nachrichten zu versorgen. Das ist gerade wichtiger denn je, siehe Ukraine, siehe Trump. Und das macht uns interessant für Menschen, die richtig Lust haben, was für die Gesellschaft zu tun. Klar, wenn jemand Nachrichten-Erfahrung hat, ist das gut. Man braucht als Bewerber aber ebenso Offenheit, Lust auf Nachrichten und Lust, sich weiterzuentwickeln. Das Recruiting wird in Zukunft offener und flexibler werden, da gehe ich fest von aus.

Als Recruiter suchen Sie auf der einen Seite neues Personal, möchten möglichst breit und divers aufgestellt sein. Auf der anderen Seite gibt es ja auch Leute, die sagen, Volontär*innen bei den Öffentlich-Rechtlichen sind nur noch grün-wählend und weiblich. Inwiefern hat bei Ihnen die Nachricht etwas damit zu tun, wer sie verfasst?

Für uns gilt der Grundsatz und der Wunsch, diverser zu werden. In unserer Redaktion haben wir wirklich einen sehr kleinen Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte, was total schade ist. Wir haben im Recruiting viele verschiedene Wege ausprobiert und die Zahlen von Bewerber*innen aus verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen sozialen Milieus waren wirklich gering. Da müssen wir noch eine andere Ansprache und andere Wege finden. Und was die politische Haltung der Volontär*innen angeht: Letztlich darf das keine Rolle spielen, denn in unserer Berichterstattung zählt nicht meine eigene Meinung. Die sollte jeder beim Betreten vorne am Tor abgeben.

In unserer Redaktion haben wir wirklich einen sehr kleinen Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte, was total schade ist.

Patrick Uhe

Man kann als Chef vom Dienst von der 20-Uhr-Tagesschau nicht sagen „Weil ich die AfD blöd finde, kommt sie nicht in unserer Sendung vor“. Es ist unsere Aufgabe, ein Meinungsspektrum abzubilden, völlig egal, wo man sein Kreuz auf dem Wahlzettel setzt. Trotzdem erhoffe ich mir, dass wir diverser werden und so vielleicht andere Perspektiven auf Themen bekommen. Oder ganz andere Themen reingespült kriegen im Sinne von „Hey, achtet doch mal auf das“ oder „In meinem Umfeld ist gerade das ein großes Thema“. Es gibt da nicht die eine eindeutige Antwort. Die Gesellschaft verändert sich und da wäre es gut, wenn sich auch die Belegschaften in Redaktionen verändern.

Dieses Interview haben wir am 23.11.2022 im Rahmen der Gesprächsreihe „Der Wandel im Journalismus“ geführt. Studierende des Studienganges Crossmedia-Redaktion/Public Relations hatten die Gelegenheit, Fragen an den Gast zu stellen.