„Am Anfang meint man, sich selbst als ‚Monster‘ akzeptieren zu müssen“
Der Kampf gegen das innere Monster
Der Sekundenzeiger einer runden, grauen Wanduhr tickt laut. Ansonsten herrscht eine beinahe bedrückende Stille. Vincent* schlägt eine Zeitschrift zu und hebt den Kopf. Er hatte sie sich zuvor vom Stapel auf dem kleinen Ecktisch genommen, um die Wartezeit zu überbrücken. Auch sein Blick findet die tickende Uhr. Trotz des gebuchten Termins dauert es manchmal ein wenig, bis er drankommt. Dann liest er immer den Spiegel, so wie gerade. Irgendwo öffnet sich eine Tür. Lauter werdende Schritte auf dem Flur. Vincent blickt erwartungsvoll zum einzigen Eingang des Wartezimmers, in dem wir sitzen. Eine zierliche, lockige Frau kommt einen Schritt herein und ruft ihn per Nachnamen auf. Er ist dran. Vincent lächelt sie mit einem kurzen Nicken an. Dann steht er auf, zupft sich die Hosenbeine seiner schwarzen, zerrissenen Jeans zurecht, legt den aktuellen Spiegel auf dem Tisch ab und verlässt mich Richtung Behandlungszimmer. Vincent ist hebephil. Er fühlt sich zu Mädchen mit pubertären Körpermerkmalen hingezogen. Um seine Neigung kontrollieren zu können und das Risiko einer künftigen Straftat zu minimieren, hat er sich therapeutische Hilfe gesucht.
* Name von der Redaktion geändert
Pädophilie: Sexuelle Präferenz, bei der sich die Betroffenen zu Kindern mit einem kindlichen (vorpubertären) Körperschema hingezogen fühlen.
Hebephilie: Sexuelle Präferenz, bei der sich die Betroffenen zu Kindern mit einem jugendlichen (pubertären) Körperschema hingezogen fühlen.
Die Betroffenen wünschen sich oft nicht nur Sexual-, sondern auch Lebenspartner*innen im jeweiligen Alterssegment. Oft ergibt diese nicht ausgelebte Sexualität einen großen psychischen Leidensdruck. Pädophilie wird in der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-10) von der Weltgesundheitsorganisation WHO als „Störung der Sexualpräferenz“ eingeordnet.
„Anfangs war das ja normal“
Vincent ist Mitte zwanzig und studiert. Entdeckt hat er seine Hebephilie vor einigen Jahren. Häufig entwickeln Pädo- oder Hebephile bereits im Vorfeld Suchtabhängigkeiten und andere psychische Erkrankungen. Oft kommen sie aus zerrütteten Familien. So auch Vincent, der vor seiner Hebephilie bereits mit Depressionen zu kämpfen hatte. Er wächst als zurückgezogenes Kind auf, das nur redet, wenn es angesprochen wird. Gemobbt wurde er nie. Damals verbringt er viel Zeit alleine, erzählt er mir, aber meistens wäre das ja gar nicht so schlimm gewesen.
Auch in der Liebe lief es lange nicht gut. Durch seine introvertierte Art fällt es ihm schwer, potentielle Partnerinnen zu finden. Mit 17 lernt er dann ein damals 14-jähriges Mädchen kennen, beide verlieben sich, eine halbjährige Liebesbeziehung entsteht. Nach der Trennung ist Vincent erneut lange einsam, durstig nach Nähe, Liebe und Körperlichkeit. „Ich glaube, da hat's so ein bisschen angefangen“, erklärt er. „Ich hatte nach der Beziehung jahrelang sexuelle Gedanken an meine Ex-Freundin. Sie war damals meine einzige Referenz für Zärtlichkeit und Nähe. Seitdem bin ich gealtert, meine Ex-Freundin in meinen Vorstellungen aber nicht.“ Ein schleichender Prozess. „Anfangs war das ja normal. Ich habe mir ja nur das Mädchen vorgestellt, in das ich verliebt war und mit dem ich intim wurde und die das auch wollte. Ich hab' das auch nie wirklich hinterfragt.“ Daran, sich Hilfe zu suchen, denkt er damals nicht.
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Vincent ist, wie die meisten Betroffenen, nicht kernhebephil. Diese Spezifizierung beschreibt pädo-/hebephile Menschen, die sich ausschließlich von (prä)pubertären Körpermerkmalen angezogen fühlen. Für Vincent kommt also auch eine Partnerin aus der eigenen Altersklasse in Frage. Die Altersobergrenze seiner präferierten Partnerinnen wächst und altert mit ihm, die Untergrenze nicht. Seit acht Monaten führt er eine glückliche Beziehung mit einer Gleichaltrigen.
Eine unbehandelte Pädo-/Hebephilie kann mit einem einzigen Vergehen gleich mehrere Leben zerstören. Damit es niemals so weit kommen muss, hat Vincent sich schließlich Hilfe gesucht. Erst bei seiner Mutter, dann professionell. Online stößt er auf die Website des „Kein Täter werden“-Programms und nimmt Kontakt auf. Hierbei handelt es sich um ein landesweites Präventionsnetzwerk, das Menschen wie ihm spezielle Therapieplätze bei geschultem Personal bietet. Kurze Zeit später geht er das erste Mal hin. Das war vor fast einem Jahr, seitdem ist er regelmäßig dort.
Straftätig ist Vincent bisher nicht geworden, weder durch Übergriffe noch durch den Konsum von Kinderpornographie. Früher hat er mit dem Gedanken gespielt, Sonderpädagogik zu studieren. Letzten Endes hat er sich dagegen entschieden – um sich selbst und die Kinder zu schützen, sagt er. „Ich hab' in der Therapie gelernt, dass ich aufpassen muss, in welche Situationen ich mich begebe. Auf solche Sachen muss ich halt achten, auch wenn es manchmal schwer ist.“
Häufig wird der Begriff des Pädophilen im wissenschaftlichen, medialen und gesellschaftlichen Diskurs als Synonym für sexuellen Missbrauch Minderjähriger verwendet. Dabei setzt diese Form des Missbrauchs nicht zwingend eine spezifische Sexualpräferenz für diese Altersgruppe(n) voraus.
Nicht jede*r Pädophile ist ein Täter. Viele sind sich möglicher juristischer sowie moralischer Konsequenzen bewusst und bleiben ein Leben lang abstinent. Auch ist bei weitem nicht jede*r Täter*in pädosexuell. Rund die Hälfte der sexuellen Übergriffe auf Minderjährige in Deutschland gehen von Menschen ohne pädophile Neigung aus. In diesen Fällen liegt die Ursache des Missbrauchs oft in dissozialen Störungen, Intelligenzminderungen oder im Frust aufgrund sexueller Unerfahrenheit.
Sein allergrößtes Geheimnis
Als ich Vincent das erste Mal treffe, wirkt er sehr nervös. Bei unserem kurzen Spaziergang Richtung Park meidet er meinen Blick und läuft mir zunächst ein paar Mal fast davon. Unterwegs quatschen wir, er entspannt sich zunehmend und wenig später erreichen wir unser Ziel. Hier, auf einer Bank an einem ruhigen Platz, wollen wir über seine Neigung sprechen. Ich setze mich schräg hin, um ihn anschauen zu können. Vincent nicht, er guckt geradeaus, an mir vorbei. Er wirkt wieder angespannter als in den Minuten davor. Seine Hände halten einander auf seinem Schoß fest. Im anschließenden Gespräch schaut er mich nur vereinzelt an. Zu Beginn schweigt er jedes Mal kurz und denkt merklich intensiv nach, ehe er meine Frage beantwortet. Dabei fällt mir auch zum ersten Mal auf, wie er in den unangenehmeren Momenten des Gesprächs seine Augen zusammenkneift. Manchmal glaube ich kurz zu erkennen, wie er hinter ihnen eine präzise Formulierung vorbereitet.
Mit jeder weiteren Frage legt sich seine Anspannung. Später erzählt er mir, ich sei die erste Person in seinem Leben, die schon vor dem gegenseitigen Kennenlernen „Bescheid weiß.“ Außer seiner Therapeutin natürlich, aber das sei was anderes. Daher die Anspannung. Generell könne er die Menschen, die von seiner Hebephilie wissen, „an einer Hand abzählen.“ Zu groß sei die Angst vor Vorverurteilungen und Ablehnung. Er müsse erst komplett sicher sein, dass eine Person ihn „aufrichtig kennt und schätzt“, ehe er ihr sein „allergrößtes Geheimnis“ anvertraut. Seine WG- sowie Uni-Freund*innen wissen von nichts. Sein Vater auch nicht. Das ohnehin gestörte Verhältnis zu ihm würde eine solche Beichte wohl nicht überstehen. Vor kurzem hat er seine Partnerin eingeweiht. Viel Überwindung habe ihn das gekostet, erzählt er mir. Zu ihrer Reaktion möchte er mir nicht viel sagen, außer, dass sie einen Moment gebraucht hätte, um das zu verdauen. Ein Paar seien die beiden aber nach wie vor.
Nach Vincents heutiger Therapiesitzung kommen wir an einer Gruppe Teenagerinnen vorbei. „Musstest du da jetzt widerstehen?“, frage ich ihn. „Ach was“, erwidert er locker, ganz ohne zugekniffene Augen. „So schlimm ist’s bei mir zum Glück nicht. Und direkt nach der Sitzung sowieso nicht.“
In der Therapie lernt er, seine Gefühle zu regulieren, Risikofaktoren zu erkennen und die passenden Handlungsalternativen zu suchen. Im Fokus stehen auch gesunde Wege zur Selbstbestätigung. Soziale Kompetenzen werden geschult und andere Probleme wie Drogenmissbrauch und Depressionen werden behandelt. Bei Nicht-Kernhebephilen wie Vincent werden zudem die Beziehungen zu Gleichaltrigen behandelt. Möglich wäre auch eine medikamentöse Behandlung, bspw. durch SSRIs (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), die den Testosteronspiegel reduzieren und so die sexuellen Triebimpulse lähmen. Ihre Wirkung reicht bis zur erektilen Dysfunktion, man spricht dann von „chemischer Kastration.“ Solche Methoden schließt Vincent kategorisch aus. Er will sich seinen sexuellen Trieb erhalten, nicht zuletzt aufgrund seiner laufenden Beziehung. Zudem möchte er es durch Willenskraft schaffen, abstinent zu bleiben, betont er. „Für immer solche Medikamente zu nehmen, kommt eh nicht in Frage. Und wenn ich sie irgendwann absetze und die Reize wieder zurückkehren? Dann fange ich wieder bei null an – ohne verinnerlicht zu haben, wie ich aus eigener Kraft mit ihnen umgehe.“
Zukunftsfragen, Zukunftsängste, Zukunftsträume
Für die Wissenschaft ist inzwischen klar: Die Erkrankten trifft keine Schuld, sie haben sich diese Vorliebe nicht ausgesucht. Eine Erkenntnis, die in der Bevölkerung noch nicht ganz angekommen zu sein scheint, bestätigt Vincent mir. Auch ihm kam sie damals verspätet: „Am Anfang meint man, sich selbst als ‚Monster‘ akzeptieren zu müssen. Ich hab' dann aber irgendwann gemerkt, dass ich mir das so ja nicht ausgesucht habe. Danach kippt's eher Richtung Selbstmitleid und Ursachenforschung.“ Vincent gehört zu den jüngeren Patient*innen, die die Dienste von „Kein Täter werden“ in Anspruch nehmen. Und auch wenn er sich oft mit seinem Problem alleine gelassen fühlt, so ist er bei weitem kein Einzelfall: Schätzungen gehen von 250.000 bis 300.000 pädo- oder hebephilen deutschen Männern aus. Männer sind signifikant öfter betroffen als Frauen. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Viele entdecken ihre Neigung, wie Vincent, im jungen Alter. Aber nicht jeder sucht sich auch die nötige Hilfe. Wieso Menschen eine pädophile Neigung entwickeln, ist ungeklärt. Ein Gen im Erbgut wurde nicht entdeckt. Die Ursachen sind mit großer Wahrscheinlichkeit biopsychosozial verankert, beinhalten also biologische, psychologische und soziale Komponenten.
„Eigentlich hätte ich gerne mal eigene Kinder, aber ...“
Vincent muss aufgrund seiner Erkrankung viele Abstriche in seinem Privatleben machen, die Arbeit mit Kindern blieb ihm verwehrt. Die Möglichkeit, irgendwann eigene großzuziehen, schließt er aber nicht grundlegend aus: „Eigentlich hätte ich gerne mal Kinder“, sagt Vincent. Dann wird seine Stimme eine Nuance leiser, das leichte Lächeln schwindet. „Aber ob das so gut wäre? Die Kinderfrage käme jetzt aber auch ohne Erkrankung zu früh, deswegen denk ich darüber noch nicht wirklich nach. Ich hoffe aber, dass ich mir diese Option offen halten kann.“ Ebenso hält er sich offen, wie lange er die Therapie noch machen möchte: „Ich weiß nicht, an welchem Punkt ich sagen werde, dass meine Therapie erfolgreich abgeschlossen ist. Oder ob das überhaupt jemals passieren wird“, erklärt er nachdenklich. Seine Augen kneift er dieses Mal so zu, als würde er seine eigenen Antworten unmittelbar reflektieren. „Die Fortschritte des letzten Jahres sind zwar spürbar und ich hab' viel gelernt – über mich, über meine Krankheit. Am Ziel bin ich aber noch lange nicht.“
Mit dieser Einschätzung dürfte Vincent Recht haben. Viele Patient*innen bleiben ein Leben lang in Behandlung, manche werden auch nach jahrelanger Therapie straftätig, die Krankheitsverläufe unterscheiden sich individuell stark. Eine vollständige Heilung wird es für Vincent nie geben. Und auch sein Wunsch, dass Menschen wie ihm irgendwann ähnlich viel Verständnis entgegengebracht wird wie anderen psychischen Erkrankten, wird wohl für's Erste ein Wunsch bleiben müssen. „Wenn man uns nicht sofort als Monster sehen und schreiend wegrennen würde, wären neue Lösungen möglich. Es wäre so viel einfacher, sich Hilfe zu suchen oder sich mal offen auszutauschen. Und davon hätten ja alle was.“