Bewegungsmangel 5 Minuten

Die „tickende Zeitbombe“ der Bildschirm-Gesellschaft

Vom Jäger und Sammler zum modernen Bewegungsmuffel: Die Entwicklung des Menschen geht hin zu einem immer bewegungsärmeren Alltag.
Vom Jäger und Sammler zum modernen Bewegungsmuffel: Der aufrechte Gang der Menschen kämpft gegen die Bildschirmsucht. | Quelle: Lilli Pospischil
31. Jan. 2025

Schlaganfälle, Diabetes und Herzerkrankungen: Der zunehmende Bewegungsmangel macht die Menschen krank. Doch wie viele Menschen sind wirklich davon betroffen? Und wie schaffen wir es, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren? 

In unserer modernen Welt voller Mobilitätshilfen wie Fahrstühlen, Rolltreppen und Autos werden wir kaum noch zu regelmäßiger Bewegung gezwungen. Wer sich viel bewegen will, muss das aus Eigenmotivation heraus tun. Doch wer keine Lust hat, kann ohne Weiteres auf einen aktiven Alltag verzichten und wird erstmal keinen Einschnitt in die Lebensqualität spüren – ganz im Gegenteil. Natürlich ist es viel entspannter, den Aufzug zu nehmen anstatt das lange Treppenhaus hinaufzugehen. Allerdings bezahlen wir für ein bewegungsfaules Leben mit unserer Gesundheit. Zivilisationskrankheiten wie Herzerkrankungen, Fettleibigkeit oder Diabetes werden immer häufiger diagnostiziert.

Denn ein bewegungsarmer Lebensstil entspricht nicht dem, wofür der menschliche Körper ursprünglich gemacht ist: „Die Prozesse in unseren Körpern sind auf die Lebensweise des Jägers und Sammlers ausgelegt“, erklärt Alexander Woll, Institutsleiter für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie. Unsere Vorfahren aus der Steinzeit waren zur Nahrungssuche oder zum Schutz vor angreifenden Tieren deutlich mehr in Bewegung. Die Steinzeitmenschen legten pro Tag durchschnittlich 20 Kilometer zu Fuß zurück. Davon ist heute nicht viel übriggeblieben. Durch vielfältige Mobilitätshilfen vernachlässigt der Mensch nach und nach sein evolutionäres Erbe. Statt der Jagd nach Tieren gibt es heute im besten Fall den Spaziergang zum Supermarkt. Im schlechtesten Fall steigt man dafür auf den E-Roller oder ins Auto.    

Warum brauchen wir Bewegung?

Bewegung ist die Voraussetzung für viele lebenswichtige Prozesse im Körper. Ein gesunder Stoffwechsel kann ohne ausreichende Bewegung nicht funktionieren. Zudem ist Bewegung unverzichtbar für unsere Gelenksysteme und eine gesunde Verdauung. Eine aktuelle Studie zeigt sogar den direkten Zusammenhang zwischen Bewegung und der Prävention von Darmkrebs. Doch auch unsere psychische Gesundheit hängt eng mit unserem alltäglichen Bewegungspensum zusammen. Denn bei Bewegung wird vermehrt das Glückshormon Endorphin ausgeschüttet. Kein Wunder also, dass der Mangel an Bewegung psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen begünstigt.

Insgesamt werden laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO im Zeitraum zwischen 2020 und 2030 knapp 500 Millionen Menschen neu an Krankheiten erkranken, die auf mangelnde Bewegung zurückzuführen sind. Die steigenden Kosten zur Behandlung dieser Erkrankungen führen schon jetzt zu großen Herausforderungen für die globalen Gesundheitssysteme. Die WHO prognostiziert dafür bis zum Jahr 2030 Mehrausgaben in Höhe von 300 Milliarden Euro weltweit.

Wie viel Bewegung braucht der Mensch?

Die WHO empfiehlt Erwachsenen eine Mindestbewegungsdauer von 150 Minuten pro Woche. Kinder sollten sich mindestens 60 Minuten pro Tag bewegen. Die körperliche Aktivität sollte dabei in moderater bis hoher Intensität ausgeübt werden. Doch kein Grund zur Sorge: Es muss nicht direkt ein anstrengendes Workout sein. Auch etwas leichtere Aktivitäten wie zügige Spaziergänge oder Radfahren werden bereits zur moderaten Bewegung gezählt.

Umso besorgniserregender sind die zuletzt veröffentlichten Zahlen. Eine wissenschaftliche Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass 31 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung die Empfehlung zur täglichen Bewegung nicht erreichen. Noch dramatischer ist die Lage bei Kindern. Laut einer in der Fachzeitschrift „The Lancet“ erschienenen Studie erreichen weniger als 20 Prozent der 11- bis 17-Jährigen die Mindestbewegungsdauer von 60 Minuten pro Tag. Dabei ist Bewegung für Heranwachsende so wichtig wie für keine andere Altersgruppe, da die „kindliche Entwicklung direkt an den Bewegungsfertigkeiten festgemacht wird“, erklärt Woll.  

Industrienationen sind besonders bewegungsfaul

Hochentwickelte und wohlhabende Länder schneiden im globalen Vergleich besonders schlecht ab. Alexander Woll ist sich sicher, woran das liegt: „Bewegungsmangel ist letztlich Ausdruck, wie viel Technik in der Gesellschaft eingesetzt wird. Menschen in Afrika brauchen keinen Schrittzähler oder Fitnessprogramme, wenn sie 10 Kilometer zur nächsten Wasserstelle laufen müssen“, sagt der Sportwissenschaftler. Neben westlichen Industrienationen sind besonders Menschen in asiatischen Ländern wie Indien oder Südkorea von einem starken Bewegungsmangel betroffen. Der letzte Bericht der WHO zeigt nicht nur Differenzen zwischen den einzelnen Ländern, sondern auch einen bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern. Frauen bewegen sich im Schnitt noch weniger als Männer. Das liegt in vielen Ländern an kulturellen und gesellschaftlichen Normen, die Frauen den Zugang zu genügend Bewegungsräumen verbieten. 

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| Quelle: WHO

Wie sind Studierende vom Bewegungsmangel betroffen?

Der Sprung aus der Schule an die Universität bedeutet für junge Menschen oft einen Einschnitt in der Bewegungsbiografie. „Einige Studierende fallen aus ihrem gewohnten Umfeld mit Vereinssport heraus und finden keinen neuen Zugang“, erklärt Alexander Woll. In Kombination mit langen, bewegungsarmen Lerntagen in der Bibliothek können Studierende schnell bewegungsfaul werden. Doch es geht auch anders. Studierende, die sich vor dem Studium wenig bewegt und kaum Sport getrieben haben, entdecken durch den Hochschulsport oder Fitnessstudios eine neue Sportart für sich. Wie wichtig Bewegung für effektive Lernprozesse ist, wurde wissenschaftlich belegt. Untersuchungen zeigen, dass Bewegung neben einer besseren Gehirnleistung auch die Neurogenese (Aufbau von neuen Nervenzellen) fördert. Wer sich im Studium genügend bewegt, muss im Zweifel also weniger Zeit über den Büchern verbringen.

Doch wie aufwendig ist es, genügend Bewegung in den Uni-Alltag zu integrieren? Das haben zwei Redakteurinnen des edit.-Magazins für vier Wochen in einem Selbstexperiment ausprobiert. 

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Wie lässt sich mehr Bewegung in unseren Alltag integrieren?

Neben sportlichen Aktivitäten wie Joggen oder dem Fitnessstudio ist es wichtig, Bewegung bewusst in alltägliche Abläufe zu integrieren. Man kann zum Beispiel auf die Rolltreppe oder den Fahrstuhl verzichten und stattdessen die Treppen benutzen. Denn selbst wenn es dann nur drei Minuten Bewegung mehr sind, ist dem Körper schon geholfen: „Jede Minute zählt. Man muss jede Chance auf Bewegung nutzen“, appelliert Alexander Woll. Ein weiteres nützliches Utensil ist ein Schrittzähler, den man einfach auf dem Handy installieren kann. So kann man immer wieder überprüfen, ob man sich schon genügend bewegt hat. Hier empfiehlt Woll, sich am Wert von 10.000 Schritten pro Tag zu orientieren. Das fällt bei einem stressigen Alltag gar nicht so leicht, bemerkt Redakteurin Lilli im Selbsttest-Video: „Spaziergänge an der frischen Luft haben sich trotzdem positiv auf mein Wohlbefinden ausgewirkt, auch wenn es am Ende des Tages nicht 10.000 Schritte waren.“

„Jede Minute zählt. Man muss jede Chance auf Bewegung nutzen.“

Alexander Woll, Sportwissenschaftler

Spätestens durch den steigenden wirtschaftlichen Druck auf die weltweiten Gesundheitssysteme sind die Regierungen alarmiert, das Problem Bewegungsmangel aktiv anzugehen. Experten warnen, dass die Herausforderungen in der Zukunft eher größer als kleiner werden. Grund dafür ist der massive Bewegungsrückgang bei Kindern und Jugendlichen. Denn wer als Kind nicht lernt, sich genügend zu bewegen, wird wohl kaum ein bewegungsintensiveres Leben im Erwachsenenalter führen. Alexander Woll beschreibt den wachsenden Bewegungsmangel schon seit Längerem als eine „tickende Zeitbombe“, die immer größer und bedrohlicher wird. Ob und wann sie explodiert, entscheiden wir selbst – denn unser Körper bringt alles mit, um in Bewegung zu kommen.