„Ich stoße jeden Tag auf Unverständnis, weil man mir meine Krankheit einfach nicht ansieht.“
Unsichtbar krank
Es kribbelt an der linken Seite meiner Oberlippe. Ein paar Tage später auf der gesamten linken Gesichtshälfte und noch einen Tag später habe ich Schwierigkeiten beim Sprechen. So sehr ich auch bei der Vermutung eines eingeklemmten Nervs bleiben möchte, muss ich mir allmählich eingestehen, dass das nicht mehr der Fall sein kann. Die Beschreibung am Telefon muss bei den Ärzt*innen Alarm ausgelöst haben, denn schon nach zwei Tagen habe ich einen Termin beim besten Neurologen der Stadt. Sechs Monate Wartezeit? Für mich anscheinend nicht. Ich sollte mich freuen, doch eigentlich macht mir das Ganze nur Angst. Der Neurologe schickt mich sofort ins Krankenhaus. Auf der Einweisung stehen bloß medizinische Fachbegriffe, die ich nicht verstehe.
Das Krankenhaus riecht nach Desinfektionsmittel und Urin. Die Pflegekräfte rasen gestresst an mir vorbei und ich habe Angst, nach irgendetwas zu fragen. Ich bin allein, denn aufgrund der Pandemie darf mich niemand begleiten. Auf Hochtouren werden verschiedene Tests an mir durchgeführt. Jeden Tag wird Blut abgenommen, ich werde an Schläuche gesteckt und das Essen schmeckt zum Kotzen. Ich fühle mich wie eine Laborratte. Am dritten Tag dann endlich die letzte Untersuchung, das MRT.
„Auf deinen MRT-Bildern sind weiße Flecken im Hirn und Rückenmark zu sehen“, erklärt mir die Ärztin. Besorgt schaut sie mich an, als sollte ich wissen, was das jetzt für mich bedeutet. „Um sicherzugehen, dass es sich um Multiple Sklerose handelt, muss Nervenwasser entnommen werden“, sagt sie und greift nach der viel zu langen Nadel.
Eigentlich habe ich in zwei Tagen Geburtstag und möchte nach Hause. Ich würde am liebsten fragen was Multiple Sklerose überhaupt ist, doch da steckt die Ärztin mir bereits die lange Nadel in den Rücken. Panik macht sich in mir breit und das Rauschen in meinen Ohren wird lauter. „Sollen wir jemanden für Sie anrufen, der Ihnen neue Sachen bringt?“, fragt mich eine Krankenpflegerin, nachdem die Nadel meinen Rücken wieder verlassen hat. Sie scheint nicht zu glauben, dass ich bald nach Hause darf. Tränen schießen mir in die Augen und nur die Hoffnung auf ein negatives Testergebnis hindert sie daran, an meinen Wangen herunterzukullern.
Zwei Tage später kommt der Test positiv zurück. Und zum Geburtstag schenkt mir das Leben diese Krankheit. Rücknahme und Umtausch ausgeschlossen.
Multiple Sklerose, was ist das?
Multiple Sklerose (MS) – die Krankheit mit tausend Gesichtern.
MS ist eine komplexe, chronische neurologische Erkrankung, die das zentrale Nervensystem (ZNS) angreift, welches Gehirn und Rückenmark umfasst. Der Kulprit hinter diesem Angriff? Das eigene Immunsystem. Es greift die schützende Myelinschicht um die Nervenfasern an, was im Hirn- und Rückenmark Entzündungen hervorruft. Diese Entzündungen hinterlassen Narben, die die gewohnte Funktionsweise der Nerven auch langfristig schädigen können. MS äußert sich oft in Schüben. Phasen, in denen neue Symptome hervortreten oder bestehende sich verschlimmern. Man nennt sie deshalb auch „die Krankheit der 1000 Gesichter“, da sie bei keinem Patienten gleich ist. Die Ursprünge von MS sind ein Rätsel. Es wird angenommen, dass eine Kombination aus genetischen, Umwelt- und immunologischen Faktoren eine Rolle spielt. Warum das Immunsystem den eigenen Körper angreift, bleibt eine Frage, die Forscher*innen und Ärzt*innen gleichermaßen weiterhin beschäftigt. Laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gab es 2022 rund 250.000 Menschen in Deutschland, die unter MS leiden.
„Ich werde vielleicht alt, aber nie wieder gesund.“
Du kannst sie nicht sehen, aber ich kann sie spüren.
Mittlerweile ist meine Diagnose schon zwei Jahre her. Viel hat sich in der Zeit verändert.
Zu Anfang habe ich genau das Gegenteil von dem gemacht, was die Ärzte mir geraten haben. Ich war jedes Wochenende feiern, habe geraucht, mich schlecht ernährt und Sport gemieden wie die Pest. „Ich glaube, ich versuche mich an meinem Körper zu rächen“, habe ich meiner Ärztin bei einem Kontrolltermin erzählt. Heute weiß ich, dass mit diesem Verhalten niemandem geholfen ist. Und obwohl ich jetzt um einiges gesünder lebe, hinterlässt die unheilbare Krankheit mit den 1000 Gesichtern auch in meinem Leben ihre Spuren.
Mein treuer Alltagsbegleiter ist die Fatigue. Unter Fatigue versteht man eine außergewöhnlich starke Form der Energielosigkeit, die nicht mit normaler Müdigkeit zu vergleichen ist. Denn anders als bei herkömmlicher Müdigkeit verbessert sich Fatigue nicht durch Schlaf- oder Ruhephasen. Es ist wie mit einem defekten Handy-Akku. Egal wie lange das Handy an der Ladestation steckt, der Akku lädt sich nicht auf. Besonders während stressiger Prüfungsphasen, oder wenn ich Zeit mit meinen Freunden verbringen möchte, ist mir die Fatigue ein Dorn im Auge. Und damit bin ich bei Weitem nicht allein. Knapp 80 Prozent der MS-Betroffenen leiden täglich unter Fatigue. Eine von ihnen ist die 42-jährige Jessica Helfenstein. Sie leidet seit 14 Jahren an MS und die Fatigue ist bei Jessica bereits so ausgeprägt, dass es ihren Alltag stark beeinträchtigt. Sie kann beispielsweise nicht mehr Vollzeit arbeiten. „Vor meiner Diagnose hatte ich mich gerade selbständig gemacht. Jetzt arbeite ich zwölf Stunden im Monat als Aushilfe im Büro und bin seit 2013 voll berentet“, erklärt sie mir. Leider ist auch das keine Seltenheit. Rund 43 Prozent der Betroffenen im erwerbsfähigen Alter können aufgrund der Erkrankung nicht mehr arbeiten. Das hat auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen Einfluss. „Ich fühle mich oft nutzlos, wenn ich den ganz normalen Alltag nicht bewältigen kann“, erzählt mir die dreifache Mama.
Das Gefühl kann ich gut nachempfinden. Am Tisch zur Gruppenbesprechung bin ich still und zupfe nur nervös an meiner Nagelhaut. Ich fühle mich in Gruppenabgaben für die Uni oft schlecht, wenn ich in der gleichen Zeit nicht so viel zum Projekt beitragen kann, wie meine Kommiliton*innen. Aber wem erzählt man von seiner Krankheit und wem nicht?
„Mein Mann brauchte lange um meine Krankheit zu sehen, und einige Freunde sind nach meiner Diagnose aus meinem Leben verschwunden“, sagt Jessica. Ich nicke und Unsicherheit macht sich in mir breit. Wenn man seine Krankheit für sich behält, denken Kolleg*innen und Kommiliton*innen vielleicht man sei faul. Geht man offen mit der Krankheit und ihren Symptomen um, habe ich schon oft erlebt, dass sie mir abgesprochen wurden. „Ich bin auch müde und schaffe es zur Vorlesung“ oder „Du siehst aber gesund aus. Sicher, dass du dir das nicht einbildest?“ oder „Du kannst deine Krankheit nicht immer als Ausrede nehmen“. MS kann also wortwörtlich zum Beziehungskiller werden. Der Gedanke, meine Freunde aufgrund dieser Krankheit zu verlieren, ist beängstigend. Wenn es für Jessicas Mann schon schwer war, die Krankheit seiner Frau zu sehen und zu verstehen, wie wird es dann für eine junge Beziehung, in der man sich erst noch kennenlernt? Ist Liebe stärker als die MS? – Ich hoffe es zumindest.
Medikamente können helfen, aber sie machen auch krank
„Ich habe seit meiner Diagnose schon drei Mal die Medikamente gewechselt“, erklärt mir Jessica. Keines blieb ohne Nebenwirkungen und diese können es wirklich in sich haben. „Von dem ersten Medikament hatte ich Magenprobleme und Flushs.“
Ein Flush ist in der Regel eine kurzfristige Hautrötung im Gesicht und am Oberkörper. Es wird durch eine vorübergehende Erweiterung der Blutgefäße verursacht und kann von Hitze begleitet werden. Ein Flush ist meist ungefährlich, aber sehr unangenehm.
„Bei dem anderen konnte ich fast vier Wochen nichts bei mir behalten und habe stark an Gewicht verloren.“ Auch bei dem Medikament, welches Jessica heute nimmt, hat sie nach der Einnahme anhaltende Erkältungssymptome. Es gibt kein MS-Medikament ohne Nebenwirkungen. Man entscheidet sich letztendlich einfach für das geringste Übel.
Mein MS-Medikament spritze ich mir drei Mal die Woche. Nebenwirkungen sind für mich Schüttelfrost, Übelkeit und wenn ich es vor dem Einschlafen einnehme, auch Fieberträume. Hin und wieder kommt es direkt nach der Einnahme auch zu Atemnot. Durch das andauernde Spritzen habe ich am ganzen Körper blaue Flecken. Wären diese Flecken schwarz anstatt blau, könnte ich als Dalmatiner durchgehen. Das sind aber nur die alltäglichen Nebenwirkungen. Bei einem Blick auf die Packungsbeilage kann einem schonmal schlecht werden. Eine von 100 Personen entwickelt nach der Behandlung mit meinem aktuellen Medikament Hautkrebs. Das Medikament, welches ich zuletzt genommen habe, konnte zur Unfruchtbarkeit führen. Während ich mein letztes Medikament einnahm, hatte ich außerdem enormen Haarausfall und starke Depressionen. Also ja, die MS-Medikamente können helfen, aber sie machen auch krank.
„Ich bin dankbar für heute und hoffe auf morgen.“
Always look on the bright side of life
„Ich stoße jeden Tag auf Unverständnis, weil man mir meine Krankheit einfach nicht ansieht. Ich möchte mich nicht andauernd erklären. Man muss mich und meine Krankheit nicht verstehen. Ich wünsche mir einfach nur, dass man uns akzeptiert“, erklärt mir Jessica und das kann ich so unterschreiben. Das Schönste, was eine unsichtbar kranke Person hören kann, ist ein: „Ich glaube dir.“ Die MS hat viele Schattenseiten und ich weiß nicht, wie die Welt morgen aussieht. Deshalb habe ich für mich entschieden, für den heutigen und nicht für den morgigen Tag zu leben. Heute kann ich noch laufen? Dann nehme ich die Treppen. Heute kann ich noch sehen? Dann raus auf einen Berg, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Heute kann ich noch fühlen? Dann komm her und lass dich von mir in den Arm nehmen. Keiner lebt ewig und Gesundheit und Zeit ist niemandem garantiert. Das ist nur eine von vielen Dingen, die die MS mich gelehrt hat. Ich bin dankbar für heute und hoffe auf morgen.