„Eine eigene Identität gab es nicht"
Als eineiige Zwillinge wart ihr euch selbst die besten Freunde. Hättet ihr rückblickend ohne euren Zwillingsbruder mehr Freunde gefunden?
Steffen: Ich glaub schon, dass ich dann mehr Freunde gehabt hätte. Freunde zu suchen war für uns beide nicht nötig. Wir hatten immer uns zwei. Aktiv nach Freunden haben wir bis zum Studium deshalb nie gesucht.
Markus: Ich merke heute noch: Mir fällt es schwer, auf andere Leute zuzugehen, weil wir zwei das nie gelernt haben. Wenn du alleine auf ein Fest gehst, dann lernst du das eher. Wir hatten immer uns.
Habt ihr euch auch alleine mit einem Freund getroffen – ohne den Zwillingsbruder?
Markus: Wir wollten das gar nicht.
Steffen: Es war eher schwer für jemand Drittes, reinzukommen. Von uns aus haben wir selten jemanden zum Spielen eingeladen, weil wir gern unter uns gespielt haben. Wir haben schon immer alles zusammen gemacht. Gleiche Schule, gleiche Reihe, gleiche Schulbank. Immer nebeneinander.
Wenn ihr mit anderen Spielkameraden gespielt habt, dann habt ihr sie identisch wahrgenommen. Ob sympathisch oder unsympathisch: Ihr musstet nicht darüber sprechen. Gibt es diese Gedankenübertragung heute noch?
Markus: Teilweise, aber nicht mehr so stark. Jeder hat seine eigene Familie und Ansichten, die einen prägen. Da ist schon etwas verloren gegangen. Wenn wir heute zusammen jemanden treffen, dann finden wir denjenigen aber trotzdem ähnlich sympathisch oder unsympathisch. Früher war das aber noch extremer.
Oft entwickeln eineiige Zwillinge eine Art “Geheimsprache“. War das bei euch auch so?
Steffen: Wir hatten eine komplette Sprache mit eigenen Wörtern. Wir zwei haben uns in dieser Sprache unterhalten, sonst konnte uns kein anderer verstehen. Sogar noch als Kinder, als wir schon laufen konnten. An Beispiele kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß aber noch: Wenn unsere Mutter einen von uns bat, dem anderen zu sagen, er soll kommen, dann haben wir irgendwas gerufen - sie hat es nicht verstanden, aber der andere ist dann wirklich gekommen.
Experten empfehlen Eltern von Zwillingskindern, deren Individualität zu fördern und sie nicht als Einheit zu sehen. So können die Eltern zur früheren Identitätsfindung der Zwillinge beitragen. Wie war das bei euch?
Steffen: Uns hat man immer als „die Zwe“ gesehen, da war null Individualität. Auch als wir älter waren. Wir waren ja auch immer gleich angezogen. Die Individualität hat aber keiner von uns zwei gefordert.
Markus: Es war eher das Gegenteil von Individualität: Wir sind gemeinsam betrachtet worden.
Hat euch das nie gestört?
Markus: Nein, weil wir so aufgewachsen sind. Man gewöhnt sich daran, alles zusammen zu machen: Wir sind gleich angezogen, gehen in den gleichen Verein, haben die gleichen Freunde und gehen in die gleiche Schule. Das war alles normal. Wir fanden es immer gut, dass wir einen Spielkameraden hatten, mit dem man alles machen kann. Da war nie ein Wunsch, dass es anders wäre.
Bis 16 habt ihr dieselbe Kleidung getragen.
Markus: Das war nie ein Zwang. Unsere Mutter hat uns zwar dieselbe Kleidung gekauft, wir waren aber auch wenig am Kleiderkaufen interessiert, bis 16 sowieso nicht - und dann haben wir das so gemacht.
Steffen: Dass wir dann unterschiedliche Kleidung trugen, kam nicht von uns, sondern durch Kommentare von Dritten. In der Wirtschaftsschule haben wir uns Witzle anhören müssen. Dann haben wir auch keinen Bock mehr gehabt, die gleiche Kleidung zu tragen.
Wenn ihr alles zusammen gemacht habt, konntet ihr dann überhaupt eine eigene Identität entwickeln? Sogar euer Kinderzimmer habt ihr euch ja bis 16 geteilt.
Steffen: Eine eigene Identität gab‘s gar nicht. Wenn du von klein auf so aufwächst, kennst du das nicht anders. Auch viele andere Leute haben uns nicht als Steffen oder Markus angeschwätzt, sondern haben „Die Zwe“ gesagt.
Ihr wurdet oft verwechselt, selbst die Nachbarn konnten die eineiigen Zwillinge von nebenan nicht auseinanderhalten. Wenn sie nur einen von euch gesehen haben, haben sie zu demjenigen „MarkusSteffen“ gesagt. Der einzige Trick war, dass Markus beim Lachen ein Grübchen bekam und Steffen nicht.
Markus: Ich hab sogar heute noch ein größeres Grüble als Steffen. (lacht)
Steffen: Du hattest schon immer die dickeren Backen. (beide lachen)
Wie war das in der Schule? Ihr saßt ja nebeneinander.
Steffen: Die Lehrer haben sich gemerkt, wer auf welcher Seite der Schulbank sitzt.
Markus: Manchmal haben wir die Lehrer ein bisschen für dumm verkauft und absichtlich den Platz gewechselt. Als der Lehrer mich dann mit ‚Steffen‘ aufgerufen hat, hab ich gesagt: „Ne, ich bin doch der Markus.“ Dann hat die ganze Klasse gelacht.
Und zuhause habt ihr euch dann die Hausaufgaben aufgeteilt.
Beide beginnen zu lachen.
Steffen: Jeder hat eine Hälfte gemacht und danach den Rest vom anderen abgeschrieben. In der Grundschule hab ich immer die Plusaufgaben gerechnet, Markus hat immer minus gerechnet. Wahrscheinlich kann ich deshalb bis heute noch nicht schriftlich minusrechnen. (lacht)
Markus: Wir haben aber trotzdem lange gebraucht für die Hausaufgaben.
Obwohl ihr sie aufgeteilt habt?
Markus: Ja, weil wir alles Mögliche nebenher gemacht haben.
Steffen: Wir waren schon sehr faul. In der vierten Klasse haben wir immer Gedichtle aufgekriegt. Nicht ein einziges haben wir auswendig gelernt. Beim Vortragen haben wir einfach mitgeschwätzt und so getan, als würden wir das Gedicht können. Wir wussten genau, wen man veralbern kann und wen nicht. Und genau so haben wir uns verhalten.
Bis zum Studium wart ihr immer auf denselben Schulen und habt zuhause gewohnt. Nach 23 Jahren trennten sich eure Wege zum ersten Mal grundlegend: Markus studierte in Nürtingen Finanzmanagement, Steffen in Konstanz Informatik.
Steffen: Wir waren irgendwann auch froh, unser eigenes Leben anfangen zu können. Vorher gab‘s bei uns ja alles immer im Doppelpack. Das war für uns beide ok. Ich denke, wir haben auch absichtlich einen getrennten Studienort ausgesucht. Es war dann einfach Zeit, das Thema war durchgekaut.
Markus: Die Trennung passierte auch nicht auf einen Schlag. Unsere Lehre zum Bankkaufmann haben wir schon an unterschiedlichen Banken gemacht. Da habe ich dann Leute gekannt, die Steffen nicht kannte. Das gab‘s früher gar nicht.
Steffen: Wir haben in dieser Zeit aber trotzdem keine großen Freundschaften zu anderen aufgebaut. Am Wochenende haben wir zwei dann wieder was zusammen gemacht.
Steffen arbeitet als Informatiker, Markus im Controlling. Heute kann man euch äußerlich problemlos unterscheiden. Innerlich auch?
Markus: Unser Charakter hat sich nicht viel verändert.
Steffen: Jeder hat aber jetzt eine eigene Familie. In einer Partnerschaft passt man sich immer an. Ich glaub schon, dass ich mich in Richtung meiner Partnerin entwickelt habe und Markus in Richtung seiner.
Also sind Zwillinge irgendwann auch nur normale Geschwister?
Markus: Nein, mit Steffen ist es heute schon noch eine engere Beziehung als mit unserer älteren Schwester – weil wir zwei so eine starke Vergangenheit hatten. Wir haben ja alles zusammen gemacht.