„Wir haben Mädchen, die sind 19, von ihrer Entwicklung [her] aber erst 14, weil sie immer klein gehalten wurden."
Zwischen Migration und Tradition
Sie blickt ein letztes Mal über die Schulter zurück zu ihrem Elternhaus. Tränen rollen über ihre Wangen. Kann sie diesen Schritt wirklich wagen? Kann sie ihre Familie verlassen? Hoffnung und Angst dominieren ihre Gefühlswelt. Doch sie kann einfach nicht länger bleiben. Gewalt, Hass und das Gefühl der Wertlosigkeit prägen seit Jahren ihr Leben. Bisher hat sie es irgendwie ertragen, doch das belauschte Telefonat hat sie an ihre Grenzen gebracht: Ihr Vater hat beschlossen, dass sie heiraten soll. Sie hat dabei kein Mitspracherecht. Deswegen bleibt ihr nur die Flucht. Ihr neues Zuhause in Stuttgart wartet: Rosa, wo sie endlich ein neues Leben beginnen kann.
Szenen wie diese sind in Deutschland keine Seltenheit. Zwangsheirat – nicht zu verwechseln mit arrangierter Ehe – ist heute noch für viele junge Mädchen ein Thema, das ihr Leben prägt. Doch über wie viele Fälle von Zwangsheirat reden wir genau? Die Dunkelziffer bei Fällen von Zwangsehen ist hoch, denn nicht jeder Fall wird polizeilich erfasst.
Nicht nur der Vollzug von Zwangsverheiratungen gilt als Gewalt im Namen der Ehre, sondern bereits die Androhung. Erzwungene Ehen, von denen in Europa meistens Migrantinnen betroffen sind, gelten als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung. Seit Februar 2005 wird Zwangsverheiratung als besonders schwerer Fall von Nötigung mit einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 5 Jahren geahndet (§ 237 StGB).
In vielen Kulturkreisen und Ländern spielt die Familienehre eine sehr große Rolle. Sie ist oft abhängig vom Verhalten der weiblichen Familienmitglieder, das von der Familie als „richtig“ oder „falsch" angesehen wird. Verstößt eine Frau gegen die vorherrschenden Normen – beispielsweise, indem sie sich gegen eine Zwangsheirat zur Wehr setzt oder ihre Jungfräulichkeit vor der Ehe verliert – droht ihr Gewalt. Die Familienehre kann im schlimmsten Fall durch die Ermordung der Frau, dem Ehrenmord, wiederhergestellt werden. Welche Optionen bleiben den Mädchen also?
Das Wohnprojekt Rosa
Die Einrichtung bietet Betroffenen im Alter von 16 bis 21 Jahren die Chance, ein neues Leben zu beginnen, zu lernen, selbstbestimmt zu leben und Verantwortung für sich zu tragen. Das Wohnprojekt existiert bereits seit über 30 Jahren. Zu dem 20- und 30-jährigen Jubiläum haben die Mädchen von Rosa ihre Erlebnisse und Emotionen in Gedichten, Erzählungen und Bildern zum Ausdruck gebracht.
Jährlich erhält das Stuttgarter Wohnprojekt im Durchschnitt zwischen 70 und 80 Anfragen. In manchen Fällen melden sich die Mädchen selbst bei Rosa. Auch Arbeitgebende, Freund*innen oder Partner*innen stellen häufig Kontakt her. In den meisten Fällen findet der erste Kontakt jedoch über die Schule statt. Viele Betroffene vertrauen sich Schulsozialarbeiter*innen, Lehrenden und Rektor*innen an. Die Lockdowns, in denen kein klassischer Schulbetrieb möglich ist, stellen deshalb ein großes Problem dar. Es gingen deutlich weniger Anfragen bei Rosa ein, obwohl die Gewalt natürlich weiterhin Bestand hatte.
Haben die Betroffenen sich erst einmal jemandem anvertraut, ist der erste Schritt getan. Doch bis sie bei Rosa aufgenommen werden, ist es ein langer Weg, der mit vielen Anträgen beim Jugendamt gepflastert ist. Einmal bei Rosa angenommen, starten die Betroffenen in drei Phasen in ihr neues Leben.
Das Wohnkonzept
In allen drei Phasen werden die Mädchen von Mitarbeiterinnen unterstützt, die rund um die Uhr telefonisch für sie erreichbar sind. Außerdem sind sie tagsüber in den Einrichtungen, übernachten aber nicht dort. Während der drei Phasen wird individuell auf die Bedürfnisse der Mädchen eingegangen, sodass sie sich immer wohl und sicher fühlen können. Im Durchschnitt sind die Betroffenen drei bis fünf Jahre bei Rosa.
In der ersten Phase müssen die Mädchen Alltägliches lernen und über ihre Rechte aufgeklärt werden. Häufig wurden sie in ihrem bisherigen Leben nicht altersgerecht gefördert und wissen nicht, wie das Leben funktioniert. Die meisten haben nie gelernt mit Geld umzugehen, haben keinen oder einen niedrigeren Schulabschluss als sie unter normalen Bedingungen hätten erreichen können. Im Interview macht Aisha Kartal (Name geändert), die Leiterin des Wohnprojekts Rosa, deutlich, wie die Mädchen unter der Unterdrückung durch die Familien leiden.
Die Betroffenen leben in dieser ersten Phase zusammen mit anderen Mädchen in einer WG in einem größeren Wohnblock. Das Klingelschild wird anonymisiert. Sie dürfen keinen Besuch empfangen und niemandem verraten, wo sie wohnen. Dabei ist es Rosa wichtig, dass sich die Mädchen trotzdem nicht abschotten und wissen, dass sie in Sicherheit sind und ihre Freiheit ausleben können.
Diese erste Phase dauert im Durchschnitt 9 Monate.
Während der zweiten Phase ziehen die Mädchen mit drei anderen Betroffenen in eine neue WG in einem anderen Stadtteil. Auch hier steht auf dem Klingelschild ein erfundener Name. Im Unterschied zur ersten Phase dürfen sie ihre Adresse nun an Freunde und Bekannte aus dem neuen Umfeld weitergeben. Das ist Rosa wichtig, denn das Einladen von Freund*innen und des Partners oder der Partnerin und das Hausherrin-Sein gehört zum Erwachsenwerden dazu.
Diese Phase kann bis zu zwei Jahren dauern.
In der dritten Phase ziehen die Mädchen allein in eine selbst finanzierte Wohnung. In dieser Phase gehen die Betroffenen den letzten Schritt zur Selbstständigkeit und lernen, noch mehr Verantwortung zu tragen. Die Mitarbeiterinnen sollen so nach und nach überflüssig werden.
Leider kann nicht jedem Mädchen ein Platz im Wohnprojekt Rosa angeboten werden. In diesen Fällen vermittelt Rosa zu anderen Jugendhilfen in Deutschland. Derzeit gibt es deutschlandweit neben Rosa nur noch eine weitere Einrichtung in Niedersachsen, die ebenfalls ein anonymes langfristiges Wohnen anbietet. Angebote für Kurzzeitzuflucht (12-Wochen-Wohnen) gibt es weit häufiger. Doch auch hier sind die Plätze begrenzt.
Manchmal kann keine optimale Lösung gefunden werden. So können Betroffene des Öfteren nicht in die gewünschte Stadt ziehen oder müssen in Jugendhilfeeinrichtungen, die aber nicht auf Anonymisierung spezialisiert sind.
Auch für die Mitarbeiterinnen kann die Arbeit mit den Betroffenen herausfordernd sein. Sie müssen sehr krisenfest sein, denn die Mädchen durchleben schwere Zeiten, in denen sie von Sehnsucht nach Zuhause, Albträumen und Panikattacken geplagt werden. Auch die Erzählungen von gewaltgeprägten Lebensgeschichten sind belastend. Aisha Kartal betont aber, dass es auch schöne Momente gibt.
Außerdem müssen die Mitarbeiterinnen, sollte die Familie eine der Betroffenen doch finden, in brenzligen Lagen und Gefahrensituationen Sicherheit ausstrahlen, auch wenn sie in diesem Moment selbst verunsichert sind.
„Die Arbeit mit den Mädchen ist wie ein Strauß mit allen möglichen Farben, die dazu gehören."
Es ist wichtig, ein Bewusstsein für die Missstände in unserer Gesellschaft zu schaffen. Damit auch du helfen kannst, erfährst du nun, wie du Betroffene erkennst, mit ihnen umgehst und an wen du dich wenden kannst.
Bitte beachte: Nur weil einige dieser Punkte zutreffen, bedeutet das nicht, dass ein Mädchen sich auch wirklich in einer solchen Lage befindet. Es handelt sich lediglich um Anhaltspunkte.
Wohnprojekt Rosa
Tel.: 0711/53 98 25
Fax: 0711/505 53 66
E-Mail: ROSAWohnprojekt@eva-stuttgart.de
Bundesweites Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen”
Tel.: 08000/116016 (rund um die Uhr und anonym erreichbar)