"Irgendwann bist du so in allem verspannt, dass du nicht einfach mit ein paar Sätzen abhauen kannst."
Meeresrausch(en)
Im indischen Ozean erlebt Maik einen Rausch, den er bislang nur von Drogen kannte. Mit müden Armen zieht er sich in das kleine, in die Jahre gekommene Fischerboot, welches die Taucher zurück an den Strand von Sodwana Bay bringt. Sein allererster Tauchgang hat ihn geschafft, doch die Euphorie, die durch seinen Körper strömt, spült die Müdigkeit weg. „Scheiße war das geil!“, wiederholt er immer wieder. Seine Augen leuchten, wie die eines kleinen Jungen, der an Weihnachten das langersehnte Feuerwehrauto unter dem Baum entdeckt. In diesem Moment bekommt das Wort „glücklich“ für Maik eine völlig neue Bedeutung.
Dopamin ist der entscheidende Botenstoff für unsere Glücksempfindung. Ein Runde Joggen, ein Stück Schokolade, ein Nachmittag in der Sonne am See – die Liste der Dinge, die uns uns gut fühlen lassen, scheint endlos zu sein. In Deutschland sind es rund 600.000 Menschen, die sich diesen Zustand anders beschaffen: Sie greifen zu illegalen Drogen. Da bestimmte Drogen wie Kokain die Wiederaufnahme des ausgeschütteten Botenstoffs in die Nervenzelle unterbinden, kommt es nach deren Konsum zu einer verstärkten Dopamin-Wirkung. Das Gehirn verbindet den Drogenkonsum somit mit einem Belohnungseffek. Ein Glücksrausch, der abhängig macht.
Zwei Tage zuvor: An einem Ort, welchen die Mehrheit der Menschen als Paradies bezeichnen würden, sitzt Maik mit einer Whiskeyflasche in der Hand auf einem Bretterverschlag und blickt gedankenversunken Richtung Meer. Äußerlich ein eher unauffälliger Junge: hellbraunes Haar, welches ihm fast bis zu den Schultern reicht. Ein Körper, der für seine Größe eigentlich zu schlank ist. Sein Gesicht wirkt, als hätte es schon viel erlebt – zu viel für einen 22-Jährigen. Der in sich gekehrte Blick macht deutlich, dass es in seinem Inneren nicht halbwegs so harmonisch aussieht, wie es die Umgebung um ihn herum tut. Bereits die Hälfte der orangebraunen Flüssigkeit ist seine Kehle hinunter geronnen, als er sich einen Joint dreht. Eine Bewegung, als wäre sie schon hunderte Male auf die gleiche Art und Weise ausgeführt worden.
Es ist heiß an diesem Tag in Sodwana Bay, wie eigentlich jeden Tag in diesem beschaulichen Örtchen im Nordosten von Südafrika. Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung Richtung Mosambik und eineinhalb Stunden Autofahrt bis zur nächsten Großstadt. Es ist nicht verwunderlich, dass Sodwana in der südafrikanischen Zulusprache so viel wie „eigenes kleines Paradies“ bedeutet. Denn was einen hier erwartet, wird dem Namen mehr als gerecht: feiner Sandstrand, von einem mächtigen Dünenwald gesäumt, exotische Pflanzen und schier endlose Weite. Eine Welt, wie aus einem Wasserfarbkasten entsprungen.
Schandfleck mit Herz
Das Zuhause von Maik, der außerhalb dieser Geschichte anders heißt, ist das genaue Gegenteil. Der 22-Jährige wohnt im Hallschlag, ein Viertel in Stuttgart, welches an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist. Graue, große Häuserblocks, Kinderspielplätze, die fast nicht mehr als solche erkennbar sind, Spritzen auf den Gehwegen. „Ein Schandfleck“, wie Außenstehende sagen. „Eine Welt für sich“, hält Maik mit einem fast schon stolzen Unterton dagegen. Sein Blick wirkt nicht mehr ganz so ausdruckslos, als er von seiner Heimat erzählt. Seit einigen Jahren, macht die Stadt Stuttgart viel dafür, dass der ehemalige soziale Brennpunkt weg kommt vom Ghettoimage. Das Gesicht des Stadtteils verändert sich.
Für Maik wird es immer dasselbe sein. Er wächst bei seiner Mutter außerhalb des Hallschlags auf. Durch Freunde kommt Maik mit 13 Jahren das erste Mal an Drogen. Das Verhältnis zu seiner Mutter wird immer schwieriger - bis sie ihn rauswirft. Damals ist Maik 15. Was genau vorgefallen ist, behält er für sich, weil er der Meinung ist, dass das nicht für seinen Weg verantwortlich sei. Er zieht in den Hallschlag, weil er sich mehr nicht leisten kann. Um seinen eigenen Konsum zu decken, fängt er an zu dealen. „Alle meine Freunde haben das gemacht“, sagt Maik heute, „aufhören kann man ja immer noch.“ Acht Jahre später weiß er, dass das nicht so einfach ist. Die Leute, denen er Drogen verkauft, werden immer mehr. Das Geld und seine eigene Sucht treiben ihn an.
Hat Deutschland ein Drogenproblem?
Kokain, Ecstasy, Speed. Es gibt nichts, was Maik nicht irgendwie besorgen kann. Er schafft sich ein Zweithandy an, lässt sich immer weitere Tricks einfallen, um unentdeckt zu bleiben. Maik wird zum Drogendealer und damit Teil einer netzwerkartigen Drogenkriminalität in Deutschland – das Land mit dem „Sauberimage“. 350 000 erfasste Rauschgiftdelikte im Jahr 2018 zeigen, dass es doch nicht so sauber ist. Wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler mitteilte, starben 2018 über 1200 Menschen wegen des Konsums illegaler Substanzen. Auch Maik hat damit Erfahrung gemacht: Ein sehr guter Freund verlangt nach immer größeren Mengen. Maik liefert – und verliert. Sein Freund stirbt.
Es ist ein Donnerstag im März 2017, als Maik ein dreimonatiges Tauchprojekt in Südafrika bucht. Durch Zufall findet er eine Organisation, die soziale Projekte auf der ganzen Welt anbietet. Nicht speziell für Drogenabhängige, sondern eigentlich für Abiturienten, die vor dem Studium sich die Welt anschauen und dabei gutes tun wollen. „Irgendetwas hat mir gesagt, dass das Tauchen und die Unterwasserwelt aufräumen, das richtige für mich ist“, sagt Maik heute. Das Geld für Flug und Unterkunft hat Maik vom Dealen. Sein Leben zu diesem Zeitpunkt lässt sich mit wenigen Worten beschreiben: Ein eintöniger, aussichtsloser, von Drogen bestimmter Alltag. Er packt seine Sachen und fliegt innerhalb von zwölf Stunden in ein neues Leben – das war der Plan. Der Rucksack, den er auf seinen Schultern trägt, als er am Stuttgarter Flughafen ankommt, wiegt nicht viel. „Ich dachte ich brauche dort, sowieso nur eine Badehose“, sagt er und lacht. Die Geschichte, die er mitnimmt, wiegt dafür umso mehr.
Ein Anfang und ein Ende
Als Maik in Sodwana Bay ankommt, ist er der typische pessimistische Blockjunge. „Ich wollte und konnte niemandem vertrauen“, erzählt er heute „der einzige Unterschied war, dass ich bereit war, das alles hinter mir zu lassen“. Maik hatte sein altes Leben satt und wollte raus. Dass es dann Südafrika wurde, war quasi Zufall. Tauchen war er noch nie. Für ihn war es das erste Mal so richtig weit weg. Das erste Mal seit langem auf Menschen treffen, die so anders waren, als die Menschen, die ihn zu Hause umgaben. Seine Zeit in Sodwana Bay verbringt Maik mit Jugendlichen aus aller Welt in einem Camp mitten im Südafrikanischen Busch. Sie schlafen in Blockhütten mit Strohdach, teilen sich die Dusche mit Kakerlaken, baden und spielen Karten unterm Sternenhimmel.
Es hilft Maik, dass ihn hier keiner kennt und niemand weiß, wie sein Leben in Deutschland aussah. Er fasst schnell Vertrauen. Doch sein „altes Leben“ lässt sich nicht so leicht abschütteln. Täglich kifft er und braucht eine Flasche Whiskey, um sich wohl zu fühlen, wie er sagt. Allerdings erst nach dem Tauchen, da ist er diszipliniert. Den anderen aus der Gruppe fällt das auf, aber sie verurteilen ihn deswegen nicht. „Mein Leben ist ein rosaroter Ponyhof, das merkte ich, als ich Maik besser kennenlernte“, erzählt ein Mädchen aus dem Camp, welches eigentlich in Schweden Zuhause ist, „aber für mich war Maik einfach Maik. Kein Alki, kein Junkie und auch kein Dealer. Ich finde man merkt schnell, dass die Fassade gar nicht so dick ist, wie man denkt und dahinter ein ziemlich großes Herz steckt.“ Für Maik ist es eine völlig neue Erfahrung, aufgenommen zu werden. „Plötzlich waren da Leute die mir zuhören und sich für mich als Person interessieren, das war irre.“ Dennoch ist Maik nicht die Art von Person, die in der Gruppe viel spricht. Er ist die Art von Person, die antwortet, wenn sie gefragt wird. „Ein Überbleibsel aus meinem Leben davor“, wie er selbst sagt.
Es wird langsam Winter in Südafrika. Mittlerweile ist Maik seit fast drei Monaten hier. Zusammen mit den Anderen geht er jeden Tag tauchen. Vormittags gibt es Kurseinheiten mit viel Theorie. Nachmittags geht es ins Meer. Der geregelte Tagesablauf tut ihm gut. Er lernt einiges über die Unterwasserwelt, nimmt Zusatzstunden und macht mithilfe seines Lehrers einen Tauchschein. Im indischen Ozean findet Maik, was er die letzten 22 Jahre vergeblich suchte: einen Sinn. Seinen Sinn. Das Tauchen versetzt ihn in einen Rausch, den er bislang nur von Drogen kannte.
90 Tage darf man mit einem deutschen Pass und ohne besonderen Grund in Südafrika bleiben. Für Maik, der sich in das Land und das Tauchen verliebt hat, zu wenig. Bei seiner Abreise aus Sodwana Bay ist er sich sicher: Er kommt wieder. Und er verändert sein Leben. Das ist knapp zwei Jahre her, als Maik in einem Skype-Gespräch von seinem heutigen Leben erzählt. Das Gesicht ist etwas rundlicher, sieht gesunder aus. Die viele Sonne und das viele Salzwasser sieht man ihm an. Dass es ihm heute so viel besser geht, als noch vor drei Jahren, zeigt das Funkeln in seinen Augen, wenn er über sein Leben spricht. Das Funkeln, welches seinen Augen, damals auf dem Bretterverschlag fehlte. Seine Worte wählt er bedacht. Maik wirkt gereift und mit sich zufrieden. Dennoch fällt es ihm sichtlich schwer, über die Zeit nach seiner Abreise aus Sodwana Bay zu sprechen.
Zurück in Deutschland gab er bis auf ein paar sehr gute Freunde alles auf. Er kündigte seine Wohnung und zog zurück zu seiner Mutter. Eine letzte Chance. Doch der Schritt aus der Drogenszene war nicht einfach. „Irgendwann bist du so in allem verspannt, dass du nicht einfach mit ein paar Sätzen abhauen kannst“, sagt er und man sieht und hört, wie viel Schwere, aber auch wie viel Mut in diesen wenigen Worten stecken. Ein halbes Jahr nach seiner Heimreise kehrt er an den Ort zurück, der für ihn alles verändert hat. In Sodwana Bay macht er seinen Dive-Master. Über die Tauchschule bekommt er ein Angebot aus der Karibik, eine Ausbildung als Tauchlehrer zu machen. Maik tauscht den indischen Ozean gegen das Karibische Meer – und gewinnt. An Erfahrung, neuen Freundschaften und vor allem ein neues Lebensgefühl. Während er erzählt, sitzt er in einem kleinen Zimmer in einem Hotel in Ägypten. Die Art von Hotel, in das Familien mit zwei Kindern gehen, um dort eine Woche Badeurlaub zu verbringen. Im Hintergrund hört man die Animateure, die gerade ihre Abendshow proben. Hier arbeitet Maik als Tauchlehrer. Wann oder ob er nochmal zurück nach Deutschland möchte, weiß er nicht. Nur eines weiß er: „Es war die richtige Entscheidung, den Drogensumpf gegen die Unterwasserwelt einzutauschen“, sagt er, lächelt und sein Blick schweift zu einem Bild auf seiner Fotowand. Ein unscharfer Schnappschuss von dem Tag, an dem Maik das erste Mal unter Wasser war.