Der schwere Weg zur Selbstbestimmung
Mal angenommen: Du bist eine Frau, 26, lebst alleine in Bayern. Vor drei Monaten bist du mit deinem neuen Freund zusammengekommen. Schon seit Tagen fühlst du dich unwohl und auch deine Periode ist ausgeblieben. Nur zur Sicherheit machst du einen Schwangerschaftstest: Du bist schwanger.
Sofort ziehen mehrere Bilder vor deinem inneren Auge an dir vorbei: Ein Kind im Arm, in einem schönen Zuhause, in einer trauten Familienidylle. Ein kleines Wesen, um das du dich sorgst, das du liebst. Doch kannst du das wirklich? Jetzt schon ein Kind an die erste Stelle deines Lebens stellen? Du bist doch erst am Anfang deiner Karriere und nicht bereit, Mutter zu werden.
Und trotzdem könntest du es sicher schaffen. Mithilfe von Freunden, Familie und deinem Partner. Doch seid ihr wirklich bereit, eine Familie zu gründen? Er will das Kind doch eigentlich nicht. Auch du fühlst dich nicht bereit dafür. Ihr hattet doch verhütet, gerade deshalb. Du willst das doch alles nicht. Zumindest nicht am Anfang deines eigenen Lebens. Du fasst den Entschluss, die Schwangerschaft abzubrechen.
Du setzt dich an deinen Laptop und fängst an zu recherchieren. Alle Informationen prasseln auf dich ein: Methoden, Richtlinien, Paragraphen. Du rufst die einzige Internetseite auf, die angibt, welche Ärzte Abbrüche anbieten.
Auf 74 Seiten der Liste der Bundesärztekammer sollen Ärzte ganz Deutschlands aufgeschrieben sein, die eine Abtreibung anbieten. Insgesamt gibt es 308 Praxen und Kliniken. Für ganz Deutschland. Du gibst deine Postleitzahl in die Suchfunktion ein: Die Antwort erschlägt dich. Über 200 Kilometer musst du von deinem Heimatort in Niederbayern fahren, um einen Arzt zu erreichen.
Der erzählte Fall ist fiktiv, aber die Daten und die grundsätzlichen Probleme bei der Suche nach einem Arzt, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt, sind echt.
Wie wir gearbeitet haben
Die hier aufbereiteten Daten wurden durch die Liste der Bundesärztekammer erhoben. Diese wird als einzige zuverlässige Quelle im Internet gesehen, wo Frauen einen Arzt finden können, der einen Schwangerschaftsabbruch durchführt. Die Mediziner müssen sich aktiv um eine Nennung bemühen. Auch deswegen hat sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Trotzdem ist sie für die Betroffenen, neben dem direkten Gang zur Beratungsstelle, der einzige Weg zu den Kliniken und Praxen.
Zudem haben wir drei Interviews geführt: Mit Laura Dornheim (Betroffene), Johanna Walsch (Pro Familia Eisleben) und mit Nora Szász (Frauenärztin in Kassel). Ein schriftliches Statement haben wir von Klaus Doubek (Präsident des Berufsverbands für Frauenärzte e.V.) erhalten.
Bayern: Schlechteste Versorgung in ganz Deutschland
Besonders schlecht ist die Versorgungslage in Bayern. Nach der Liste der Bundesärztekammer hat der Freistaat mit seiner überwiegend katholischen Bevölkerung größere Versorgungslücken im Vergleich zu den protestantischen Bundesländern vorzuweisen. Nora Szász, Frauenärztin in Kassel, kann das bestätigen: Sie sieht in ganz Deutschland eine Überschneidung zwischen der Religionszugehörigkeit und der Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen.
Neue Bundesländer: Liberale Regelungen seit 1972
Ein weiteres Gefälle: die Unterschiede zwischen Ost und West. Die ostdeutschen Bundesländer sind vergleichsweise besser aufgestellt. Diese Besonderheit kann man vor allem auf die liberalen Regelungen in der Deutschen Demokratischen Republik zurückführen. Seit 1972 war es Frauen in der DDR erlaubt, sich innerhalb der ersten zwölf Wochen für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Die damals geschaffenen Strukturen haben bis heute Einfluss auf die Versorgungslage in den neuen Bundesländern.
Stadt-Land Gefälle: Die Ärzte zieht es in die Stadt
Neben der allgemein schlechten Versorgungslage macht sich ein Stadt-Land-Gefälle auch in Bayern bemerkbar: Mehr als 63 Prozent aller registrierten Abbrüche in Bayern finden in München statt. Das hat das Gesundheitsreferat der Landeshauptstadt durch eine Befragung unter den Ärzten erhoben. Auch andere deutsche Ballungsräume in Deutschland weisen mehr Kliniken und Praxen auf, die einen Abbruch anbieten. Zum Beispiel gibt es in Berlin 73 Praxen und Kliniken, die meisten im ganzen Bundesgebiet. Auch die Praxis von Dr. Szász in Kassel hat ein Einzugsgebiet von über 150 Kilometern. Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch anbieten, zieht es also in die Großstädte. Die Folge: Vor allem in Niederbayern klagen Betroffene über unzumutbare Distanzen zur nächsten Praxis – in Phillipsreut müssen Frauen mehr als 200 Kilometer zur nächsten Praxis zurücklegen.
Die Schwangeren entscheiden bei der Abbruchmethode selbst
In Deutschland sind zwei Methoden bei einem Schwangerschaftsabbruch möglich: der operative und der medikamentöse Eingriff. Die operative Methode kann unter örtlicher Betäubung oder Vollnarkose durchgeführt werden. Die schonendste Methode ist hierbei die Absaugung, die sogenannte Vakuumaspiration. 2022 entschieden sich 51 Prozent der Frauen dafür. Der medikamentöse Eingriff erfolgt durch das Schlucken einer Tablette. 35 Prozent der Frauen wählten diese Form des Abbruchs.
Dabei bietet nicht jede Praxis beide Methoden an. Diese Informationen sind auf der Liste der Bundesärztekammer nicht immer einzusehen. Genauso wie wichtige Angaben wie E-Mail-Adressen, Telefonnummern oder Websites, die aber nötig wären, um Praxen und Kliniken überhaupt kontaktieren zu können. Die Zahl der erreichbaren Praxen auf der Liste wird so auch nochmal durch fehlende Informationen eingeschränkt.
Die Zahl der Abbrüche steigt, die Zahl der Ärzte sinkt
Etwa 104.000 Schwangere haben laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2022 eine Abtreibung vornehmen lassen. Das stellt den höchsten Stand seit zehn Jahren bei Schwangerschaftsabbrüchen dar. Dem steht die stark sinkende Zahl der Praxen und Kliniken gegenüber, die Abbrüche durchführen. Innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte ist sie stark gesunken. Haben 2003 noch 2.030 Praxen und Kliniken den Eingriff durchgeführt, sind es nach Zahlen aus dem zweiten Quartal 2023 nur noch 1.098 – ein Rückgang von 46 Prozent. Dabei verpflichten sich die Bundesländer im Schwangerschaftskonfliktgesetz, dass jede Frau die Möglichkeit zu einem Schwangerschaftsabbruch haben soll und die Versorgung sichergestellt wird. Dieser Anspruch werde nicht erfüllt, findet Nora Szász.
Wir haben den Bundesverband für Frauenärzte ebenfalls zu dieser Datenerhebung befragt: Dieser kann nur von regionalen Versorgungsdefiziten ausgehen, da sie keine systematischen Daten erheben würden. Trotzdem sieht der Bundesverband die Versorgungslage ebenfalls eng verwoben mit der gesellschaftlichen Debatte. Dem kann sich die Frauenärztin Szász anschließen. Neben dem gesellschaftlichen Druck auf die Ärzte sieht sie aber auch die rechtliche Lage und Versäumnisse in der Ausbildung als Gründe für die lückenhafte Versorgungslage.
Im Medizinstudium kommt Aufklärung zu kurz
Denn bereits in der medizinischen Grundausbildung lässt sich ein Ursprung für den Rückgang von anbietenden Ärzten erkennen: Der Schwangerschaftsabbruch ist kein fester Bestandteil der gynäkologischen Ausbildung. An Kliniken der Charité werden zwar die ethischen Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs und die theoretischen Grundvoraussetzungen gelehrt, doch eine konkrete Ausbildung findet auch dort nicht statt.
Oft organisieren Medizinstudenten eigenständig sogenannte „Papaya-Workshops“, um an den Früchten einen Schwangerschaftsabbruch zu üben. Die Medical Students for Choice in Berlin fingen damit an, den Schwangerschaftsabbruch in der medizinischen Grundausbildung zu fordern. Denn nach der Einschätzung von Nora Szász sei die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen davor kein Thema gewesen. Hat man nicht das Glück, in einer Klinik zu arbeiten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, findet sonst keine praktische Begegnung mit Schwangerschaftsabbrüchen in der Facharztausbildung statt.
Abschaffung §219a: Der Weg zu mehr Information
Grundsätzlich hat sich die rechtliche Lage zum Thema Schwangerschaftsabbruch im letzten Jahr verbessert: Der Bundestag hat die Abschaffung des umstrittenen Paragrafen 219a beschlossen. So verbot §219a, dass Ärzte auf ihrer Website für einen Schwangerschaftsabbruch werben oder über Methoden informieren dürfen. Dies führte dazu, dass kaum ein Arzt sachlich auf seiner Website darüber informieren konnte, dass er einen Abbruch vornimmt, als auch welche Methoden er verwendet.
Mit der Abschaffung von §219a haben Ärzte die Möglichkeit, auf ihrer Website darüber zu informieren, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch anbieten. Trotzdem gibt es immer noch wenige Ärzte, die diese Informationen auf ihrer Website zugänglich machen. Die Angst, von Abtreibungsgegnern gefunden zu werden, sei laut Frauenärztin Szász groß.
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Der Druck durch Abtreibungsgegner nimmt zu
Ärzte müssen mit ständigen Anfeindungen von Abtreibungsgegnern online wie offline rechnen. Viele demonstrieren vor Kliniken und Beratungsstellen von Pro Familia. Auch der Bundesverband der Frauenärzte sieht in den „militanten Abtreibungsgegnern“ den Grund für den starken Rückgang von Medizinern, die in Deutschland eine Abtreibung durchführen.
Nora Szász hat die Angriffe durch Abtreibungsgegnern selbst erlebt, sie wurde strafrechtlich verfolgt, im Internet diffamiert, als Kindsmörderin bezeichnet. Auch wenn sie selbst keine körperliche Gewalt erfahren hat, weiß sie: „Es gibt Bedrohung und Gewalt gegen Ärzte und Ärztinnen - im Netz und ganz real - und das Auftreten von Abtreibungsgegnern kann auch wirklich einschüchtern, wenn man sich davon einschüchtern lässt. Es kann allerdings auch schnell zu einer echten Gefahr werden, was zum Beispiel die Attentate gegen Ärzte in den USA zeigen.“ Auch eine Kollegin in Gießen habe Morddrohungen geschickt bekommen.
Zum Teil der Strategie gehöre es dann auch, jüngere Kollegen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, im Internet mit Namen und Bild an den Pranger zu stellen. Trotz aller Widerstände bieten Ärzte Schwangerschaftsabbrüche an. In Kassel zeigt sich dabei ein Bild, was sich scheinbar auf ganz Deutschland beziehen lässt: „Wir haben zwei gynäkologische Tageskliniken, in denen über 20 Kollegen und Kolleginnen Schwangerschaftsabbrüche machen, und sie reden nicht darüber“.
Schwangerschaftsabbruch: Zwischen Mord und Totschlag
Neben dem Druck von Abtreibungsgegnern bleibt auch die Angst vor der Gratwanderung, etwas falsch zu machen: Der Schwangerschaftsabbruch steht weiterhin unter Strafe und wird neben den Tatbeständen für Mord und Totschlag vermerkt. Die Kriminalisierung gilt für alle Beteiligten – auch die durchführenden Ärzte. Ein Stigma, was laut Frauenärztin Szász viele Ärzte davon abschreckt, eine Abtreibung anzubieten: „Dieses Bild, diese Stigmatisierung, die vom Schwangerschaftsabbruch als eine Straftat ausgeht, hält natürlich auch viele davon ab, sich in irgendeiner Weise damit beschäftigen zu wollen.” Nur unter bestimmten Voraussetzungen ist ein Abbruch bis zur zwölften Woche straffrei: Schwangere müssen ein Gespräch mit einer Beratungsstelle führen und drei Tage lang als Bedenkzeit abwarten. Nur dann können sie straffrei abtreiben. Ausnahmegründe können Sexualdelikte oder medizinische Gründe sein.
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Ärzte dürfen die Behandlung ablehnen
Nach § 12 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ist kein Arzt dazu verpflichtet, eine Abtreibung durchzuführen, außer das Leben der Frau ist gefährdet. Auch Klaus Doubek, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte, erklärt, dass die ärztliche Entscheidung, an einem Schwangerschaftsabbruch teilzunehmen oder nicht, vor dem Hintergrund des beruflichen Selbstbildes von Ärzten und ihren individuellen ethischen Wertvorstellungen gesehen und respektiert werden muss.
Über ihre Beweggründe müssen die Mediziner keine Auskunft geben. Nora Szász sieht aber vor allem den gesellschaftlichen Druck als einen der Ursachen, warum Ärzte sich weigern, eine Abtreibung durchzuführen. Gynäkologin Wiebke Herter führt gegenüber dem Deutschlandfunk aber auch religiöse Glaubenssätze als mögliche Ursache an.
Versorgung: Ein weiter bestehendes Problem
Ein Jahr nach der Abschaffung von Paragraph 219a bleibt die Suche nach einem Arzt, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt, eine Herausforderung. Zwar wandelt sich das gesellschaftliche Bild von Schwangerschaftsabbrüchen langsam, doch bleibt das Stigma bestehen und beeinflusst alle Aspekte einer Abtreibung – sei es die Ausbildung oder die politische Lage. Viele Ärzte sind verunsichert, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch anbieten wollen, weshalb immer weniger Ärzte ihn anbieten. Und Frauen auch heute noch hunderte Kilometer auf sich nehmen müssen, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu können.