„Die Werbung soll gezielt junge, sportbegeisterte Männer ansprechen“
Milliardengeschäft mit der Spielsucht
Wir schreiben den 22. November 2005. Der junge Bankkaufmann Thomas Melchior schaut das Champions-League Spiel des FC Bayern gegen Rapid Wien. Während der Halbzeitpause läuft auf seinem Fernseher ein Werbeclip für den Wettanbieter „Bet and Win“. Thomas zögert nicht lange, eröffnet ein Konto und setzt zehn Euro auf einen Bayern-Sieg mit mindestens zwei Toren Unterschied. Knapp 60 Minuten später ertönt der Schlusspfiff. Der FC Bayern gewinnt mit 4:0 und sorgt dafür, dass die Wette aufgeht. Aus den eingezahlten zehn Euro wurden elf Euro: „Ein Euro Gewinn bei zehn Euro Wetteinsatz entsprachen für mich als Bankkaufmann gleich einer Rendite von zehn Prozent und das in nur einer Halbzeit, ein unglaublicher Wert!“, erinnert sich Thomas.
Er beschließt, sein Geld ab sofort in Sportwetten anzulegen. Während andere Menschen Geld in Bausparverträgen oder Aktienfonds anlegen, wählte Thomas Sportwetten, um sein Erspartes zu sichern. Sein Spielverhalten geriet schnell außer Kontrolle und es folgte der tiefe Absturz in die Sucht. Thomas verlor seinen Job und unterwarf sein Leben für über zehn Jahre vollkommen dem Glücksspiel. Um an immer mehr Geld zu kommen, beging er mehrere Straftaten, ehe er am 18. Januar 2019 wegen Raub und Betruges zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Seine Schulden beliefen sich auf rund 800.000 Euro.
Thomas Melchior ist mit seinem Schicksal nicht allein. In Deutschland haben insgesamt 4,6 Millionen Menschen ein problematisches Spielverhalten oder sind gar spielsüchtig. Das geht aus dem offiziellen Glücksspielatlas 2023 hervor, der jährlich relevante Informationen, Daten und Fakten zum Thema Glücksspiel zusammenfasst.
Besonders Sportwetten erfreuen sich ansteigender Beliebtheit. Das bestätigt ein Blick auf die Umsatzentwicklung der Sportwettenindustrie seit 2014. Bis 2021 stiegen die Umsätze der Sportwettanbieter mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020 kontinuierlich an. Seitdem fallen die Umsätze wieder. An einem sinkenden Interesse für Sportwetten liegt das mit Sicherheit nicht. Schließlich enthält die Statistik nur die Umsätze der legalen Sportwettanbieter. Der Deutsche Sportwettenverband DSWV begründet den jüngsten Umsatzrückgang unter anderem mit dem stark florierenden Schwarzmarkt für Sportwetten.
Wettanbieter als Sponsoren im Sportbusiness
Die Sportwettanbieter investierten in den vergangenen Jahren hohe Summen in das Sponsoring von Profivereinen und Verbänden. Das ist für die Clubs aus finanzieller Sicht ein Segen, denn kaum eine andere Branche ist als externer Geldgeber so großzügig wie die Wettanbieter. Im Gegenzug für die Finanzspritzen dürfen die Wettanbieter auf Seitenbanden, im Fernsehen oder sogar auf dem Trikot werben.
Für lizenzierte Wettanbieter wie „Tipico“ und „Bwin“ sind Sponsoringdeals wichtig, um sich von den vielen illegalen Wettangeboten abzugrenzen. Das betont Luka Andric, Geschäftsführer des DSWV. Strengere Werberegulierungen führen laut Andric zu einem stärker wachsenden illegalen Markt sowie zu „erheblichen finanziellen Einbußen“ für die Sportbranche. Schließlich sind viele Vereine längst auf das Sponsoring angewiesen, um Investitionen in Infrastruktur und Jugendarbeit tätigen zu können.
Konrad Landgraf von der Landesglücksspielstelle Bayern sieht die hohe Werbepräsenz der Glücksspielanbieter kritisch. Um mehr Menschen vor der Spielsucht zu schützen, fordert der Suchtexperte ein weitestgehendes Werbeverbot für alle Sportwettenanbieter. Egal, ob mit oder ohne staatliche Lizenz.
Online-Sportwetten galten in Deutschland lange als rechtliche Grauzone. Das änderte sich im Januar 2021 durch den neuen Glücksspielstaatsvertrag. Sportwettanbieter müssen seitdem zwingend eine Lizenz besitzen, um die Wetten online anbieten zu dürfen. Die Lizenz ist an einige Regulierungen im Bereich des Spielerschutzes geknüpft und soll Spielsucht präventiv vorbeugen.
Beim Deutschen Sportwettenverband ist man mit der jüngsten Entwicklung im Bereich Spielerschutz zufrieden. Seitdem der neue Glücksspielstaatsvertrag gilt, habe sich ein „sicheres Wettumfeld“ etabliert, betont DSWV-Geschäftsführer Andric und verweist dabei auf „verschiedene Schutzmechanismen wie Selbstlimits, Spielpausen und das plattformübergreifende OASIS-Sperrsystem“. Das beweist ein Blick auf die Zahlen. Seit der Einführung des Sperrsystems, haben sich über 270.000 Spieler*innen bei Glücksspielanbietern sperren lassen, oder wurden durch Angehörige in die Sperrdatei eingetragen. Wie wirksam die Maßnahmen wirklich sind, lässt sich wenige Jahre nach der Gesetzanpassung noch nicht beurteilen.
Ausufernde Werbung für Sportwetten
Fakt ist, dass man bei Fußballspielen kaum noch an Sportwettenwerbung vorbeikommt. Egal, ob im Stadion oder vor dem Fernseher: Die aufregenden Werbeclips sind omnipräsent.
Für die Wettanbieter geht die Werbestrategie voll auf: Im Stadion und bei Liveübertragungen werden potenzielle Spieler direkt angesprochen. So ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet Hobbykicker Thomas Melchior vor fast 20 Jahren mit dem Spielen begann: „Die Werbung soll gezielt junge, sportbegeisterte Männer ansprechen“, erklärt Suchtexperte Konrad Landgraf. Hintergrund ist, dass sich die Sportbegeisterten durch ihre Fachkenntnisse im Sport einen Vorteil beim Wetten erhoffen und „die Wette sogar als Möglichkeit sehen, einfach und schnell Geld zu verdienen“, fährt Landgraf fort. So war es auch bei Thomas Melchior, der die Sportwetten als Geldanlage nutzen wollte und am Ende hochverschuldet im Gefängnis landete.
Der steile Aufstieg der Sportwetten
Um die Jahrtausendwende war die Sportwette ein Nischenprodukt und spielte wirtschaftlich keine bedeutende Rolle. Ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Sportwettindustrie waren große Werbekampagnen mit Sportpromis. Allen voran die inzwischen beendete Tipico-Werbekampagne mit Oliver Kahn. Kein Wunder, schließlich ist Kahn einer der berühmtesten deutschen Fußballer aller Zeiten und ein Vorbild für viele Fans. Doch auch aktive Spieler waren bereits in Werbespots zu sehen, ehe das Werben mit aktiven Sportlern und Funktionären verboten wurde. Das Standing von Sportwetten in der Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, gerade im Vergleich zu anderen Formen des Glücksspiels. Während Bahnhof-Casinos und Spielhallen gesellschaftlich mehr und mehr als verpönt gelten, ist die Sportwette in den letzten Jahren zu einem Lifestyleprodukt gereift. Das bestätigt Mathias Dahms, Präsident des DSWV: „Die Sportwette ist ein äußerst beliebtes Unterhaltungsprodukt und in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“
Neustart als trockener Glücksspieler
Insgesamt 40 Monate verbrachte Thomas hinter Gittern, ehe er wegen guter Führung entlassen wurde. Seitdem ist er bis auf einen Rückfall spielfrei. Bei Werbung für Sportwetten muss er trotzdem noch wegschauen, zu groß ist die Verlockung, wieder mit dem Zocken anzufangen. Auf die Frage, ob er nun wieder als Bankkaufmann arbeitet, antwortet er schmunzelnd: „Nein, natürlich nicht, ich habe noch circa 250.000 Euro Schulden, da nimmt mich keine Bank.“ Stattdessen veranstaltet Thomas Melchior nun Workshops und Präventionsveranstaltungen zum Thema Spielsucht an Schulen. Genug zu erzählen hat er dort allemal.