„Ich habe das Gefühl, dass ich mich während des Wettkampfs nicht in meinem Körper befinde.“
Der große Traum von Olympia 2024
„Kann ich hier Weltmeisterin werden?“ – Das war Emelie Petz‘ erste Frage, als sie im Alter von vier Jahren mit großen, leuchtenden Augen das erste Mal die Turnhalle der TSG Backnang betrat. Seit sie denken kann, schlägt sie Räder und Saltos und schnell wird klar: Das Kind gehört ins Turn-Training. Dort merkte man sofort, dass in Emelie ein besonderes Talent für den Turnsport steckt. Über eine Talentsichtung, für die sie eigentlich viel zu jung war, entdeckte sie ihre heutige Trainerin Marie Luise Mai. Seitdem wurden die Nachmittage mit Freund*innen weniger und die Stunden in der Turnhalle immer mehr.
Disziplin über Motivation
Als andere Kinder im Sommer im Freibad waren, bereitete Emelie sich unzählige Stunden auf den nächsten Wettkampf vor. Sie erinnert sich: „Es gab oft Momente, in denen ich überfordert war. Ich bin jeden Tag um 5 Uhr aufgestanden und um 19 Uhr nach Hause gekommen. Irgendwann gibt es da Punkte, wo man nicht mehr kann.“ Doch die anstehenden Wettkämpfe motivieren sie. Ihre Disziplin und der Wille zu gewinnen, überwiegen alle Zweifel und Gedanken aufzugeben. Im Alter von 12 Jahren gewinnt Emelie das erste Mal dreifach Gold bei den deutschen Jugendmeisterschaften. Es folgen erfolgreiche deutsche Meisterschaften, Europa- und Weltmeisterschaften. 2021 fliegt sie für die deutsche Nationalmannschaft zu den Olympischen Spielen nach Tokyo. Doch dort reißt sich die damals 18-Jährige die Achillessehne. Nun kämpft sich Emelie Petz seit zwei Jahren zurück in den Turnsport und das mit einem großen Ziel vor Augen.
Olympia 2024 in Paris
Dieses Ziel ist für Emelie ein Full-Time Job. Um mühelos und mit Leichtigkeit auf Barren, Balken, Boden und Sprung zu turnen, trainiert Emelie bis zu 30 Stunden in der Woche. Sechs Stunden pro Tag steht sie in der Halle. Jeden Tag, außer sonntags. Fünf Mal in der Woche steht Physio-Training auf dem Programm und regelmäßiges Mental Coaching. An Pausen ist dabei kaum zu denken. „Wenn ich eine Woche in den Urlaub gehe, brauche ich vier bis fünf Wochen hartes Training, um wieder auf den Stand zu kommen, auf dem ich davor war”, meint Emelie. „Im Profiturnen braucht man dieses ständige Da-Sein und die Disziplin, jeden Tag aufs Neue in der Halle zu stehen. Wer da ein normales Leben haben will, muss sich einen anderen Sport suchen”, fügt sie lächelnd hinzu.
Immer 100% geben
Mit vier weiteren Turnerinnen des deutschen Teams möchte sie nächstes Jahr die Olympischen Spiele in Paris bestreiten. „Ich habe definitiv Angst und Respekt davor. Vor allem wenn ich sehe, mit wem ich zusammen trainiere. Olympia will jede von uns schaffen und deshalb wird es sehr hart und knapp werden”, gesteht Emelie Petz. Einen eigenen Vierkampf bei Olympia zu turnen und im Mehrkampffinale anzutreten, hat sich Emelie zum Ziel gesetzt. Die 20-Jährige fühlt sich bereit. Im Vergleich zu den Olympischen Spielen 2021 in Tokyo, hat sie sich vor allem mental weiterentwickelt. Mit ihrem Mental-Coach Nadine Volkmer arbeitet sie schon seit 2018 zusammen. Emelie gibt zu: „Das mentale Coaching tat mir schon immer gut, doch die Tipps habe ich damals nie wirklich angewendet. Das bereue ich heute sehr. Rückblickend hätte mir das geholfen, mit Ängsten und Leistungsdruck umzugehen.” Denn der ist im Profisport enorm hoch. Mit 16 Jahren gehört man im Turnen bereits zu den Senior*innen. Es wird gegeneinander geturnt, bewertet, verglichen und aussortiert. Die Trainingskolleg*innen werden plötzlich zur größten Konkurrenz und das wochenlange Training muss in den nächsten 90 Sekunden Kür unter Beweis gestellt werden. Emelie erzählt: „Ich habe das Gefühl, dass ich mich während des Wettkampfs nicht in meinem Körper befinde. Erst im Nachhinein merke ich, was ich da gerade geturnt habe.” Ein absoluter Ausnahmezustand für die 20-jährige Turnerin.
Früher habe Emelie Ängste und Druck im Turnen einfach weggeschoben und verdrängt. Um heute in Stresssituationen ihre Bestleistung abrufen zu können, trainiert sie mit ihrem Mental Coach mehrmals wöchentlich. Sie bespricht Ängste, Zweifel und private Probleme, übt Atemtechniken und lernt, für sich selbst einzustehen. Ein entscheidender Unterschied zu ihrem ersten Anlauf bei den Olympischen Spielen in Tokyo 2021.
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Der Leistungsdruck gehöre zum Profisport dazu. Die Art und Weise, wie damit umgegangen werde, würde jedoch auch zum großen Teil in der Verantwortung der Trainer*innen liegen, findet Emelie Petz. Viele Trainer*innen seien noch sehr konservativ unterwegs. Ein rauer, sehr krasser Umgangston sei da an der Tagesordnung und das ließe sich auch nicht mehr ändern. Tägliches Wiegen, Fettmessungen und das Kommentieren von Gewicht und Aussehen resultiere bei vielen Turner*innen in einem gestörten Essverhalten. Auch an Emelie gingen diese Routinen nicht spurlos vorbei. „Erst habe ich zu wenig gewogen. Dann habe ich mal zu viel gewogen, dann wieder zu wenig”, erinnert sich die Turnerin.
„Erst habe ich zu wenig gewogen. Dann habe ich mal zu viel gewogen, dann wieder zu wenig.”
Rückblickend ist Emelie überzeugt davon, dass es für Turner*innen besonders wichtig sei, schon früh Ansprechpersonen und Mental-Coaches zu haben, die nicht wegsehen. Nur so könne ein sicheres Umfeld für alle geschaffen werden und der Spaß und die Liebe am Turnsport aufrechterhalten werden. Denn auch nach 16 Jahren Turnsport hat Emelie Petz noch nicht genug. Nach den Olympischen Spielen in Paris sollen Weltcups und eine erfolgreiche Europa- und Weltmeisterschaft folgen. Auch auf die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles hat die 20-Jährige schon ein Auge geworfen. „Ich möchte das Turnen einfach richtig genießen und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt. Aber nach Paris gönne ich mir erst einmal drei Wochen Urlaub”, gibt Emelie Petz lachend zu.
Das Leuchten in den Augen ist in jedem Fall noch dasselbe, wie bei der vierjährigen Emi, die einfach nur Weltmeisterin werden möchte.