Auf den Spuren der Raubkunst

Auf den Spuren der Raubkunst

26. März 2025

Im NS-Regime wurden verfolgte Menschen systematisch um hunderttausende Kunstwerke beraubt - von der Gestapo und Mitbürger*innen. Viele Wertgegenstände verschwanden in Auktionshäusern, Museen und Sammlungen. Provenienzforscher wie Ulrich Weitz kämpfen darum, das Unrecht aufzuklären. Eine Spurensuche zeigt: Die Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen.

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Berlin, 1933. Flammen loderten in der Nacht. Das Reichstagsgebäude brannte. Kurz darauf wurde in Berlin-Zehlendorf die Villa eines Kunstsammlers umzingelt. Gestapo-Offiziere belagerten das Grundstück und lauerten nach dem Besitzer. In einer Kleingartensiedlung versteckt, überlebte er den Angriff knapp. 

Ein halbes Jahr später. Die Villa wurde wieder von der Gestapo heimgesucht. Bücher aus der geplünderten Bibliothek wurden öffentlich verbrannt. Tausende Möbel und Kunstwerke wurden beschlagnahmt, aus dem Haus und in die Gestapo-Zentrale gebracht. Sie sollten auf einer „Ausstellung der kultur-bolschewistischen Verschwörung” für Propagandazwecke gezeigt werden. Manche Beamten klauten kleine Skulpturen und erotische Zeichnungen, in ihren Uniformen versteckt schmuggelten sie sie aus der Villa. 

Die Berliner Villa von Eduard Fuchs diente als Lager für seine Kunstsammlung.

Die Berliner Villa von Eduard Fuchs diente als Lager für seine Kunstsammlung.

Unter der entwendeten Kunst befanden sich 25.000 Drucke, wertvolle Gemälde und eine Sammlung an ostasiatischer Kunst.

Unter der entwendeten Kunst befanden sich 25.000 Drucke, wertvolle Gemälde und eine Sammlung an ostasiatischer Kunst.

Auch der Dachreiter „Dragon with a Guide" aus Eduard Fuchs Kunstsammlung fiel in die Hände der Gestapo.

Auch der Dachreiter „Dragon with a Guide" aus Eduard Fuchs Kunstsammlung fiel in die Hände der Gestapo.

Bis heute versuchen Forscher*innen, die gestohlenen Werke aufzuspüren. Der Umfang des Raubes der Gestapo war enorm. Aus dem chinesischen Garten vor der Villa wurde beispielsweise eine Keramikfigur entwendet. Dieser sogenannte Dachreiter stand einst als Schmuckziegel auf einem Tempel. Das Fabeltier „Dragon with a Guide” ist über vierhundert Jahre alt und stammt aus der Ming-Epoche. Er ist Teil der größten Sammlung an Dachreitern ihrer Zeit. 

Ein Feindbild der Nazis

Besitzer all dieser Werke war Eduard Fuchs. Der Kulturwissenschaftler und bekennende Marxist stellte die herrschende Ideologie infrage. In seiner satirischen Arbeiterzeitung „Süddeutscher Postillon” verbreitete er politische Karikaturen. Das Versprechen an seine Leserschaft: immer viele neue Bilder. Dazu kopierte er Werke aus seiner Kunstsammlung.

Eduard Fuchs wurde aus vielen Gründen von den Nazis verfolgt.
Aus Angst vor der Verfolgung und Ideologie der NSDAP, floh Eduard Fuchs schlussendlich nach Frankreich.
Quelle: Eduard Fuchs (Kunstsammlung)

Eduard Fuchs wurde aus vielen Gründen von den Nazis verfolgt. Zusammen mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gründete er den Spartakusbund, eine revolutionäre Bewegung, die sich gegen Militarismus und Kapitalismus stellte. Er nahm die Gefahr durch die NSDAP sehr ernst und versuchte, sein Umfeld zu warnen. Nach Hitlers Machtergreifung wurde er zur Zielscheibe: Ein Intellektueller mit linken Überzeugungen, eine Stimme des Widerstands – und verheiratet mit einer jüdischen Frau. Aus Angst vor Verfolgung floh er zusammen mit seiner Ehefrau Margarete Fuchs im Herbst 1933 ins französische Exil. Seine Köchin und der Hausmeister blieben auf dem Anwesen und mussten die Zerstörung mit ansehen.

Ein solches Schicksal ist kein Einzelfall. Der NS-Kunstraub war ein systematisches, staatlich organisiertes Verbrechen. Schätzungsweise sechshundert Tausend Kunstgegenstände wurden zwischen 1933 und 1945 von den Nazis gestohlen oder zu Spottpreisen zwangsweise versteigert. Dieses verfolgungsbedingt verlorene Kulturgut aufzuarbeiten, ist Aufgabe der Provenienzforschung. Dabei wird die Herkunft eines Kunstwerks untersucht und die wechselnden Besitzverhältnisse recherchiert. Damit es zu dem rechtmäßigen Besitzer oder dessen Erben zurückgeführt werden kann, müssen alle Stationen geklärt werden und rechtliche Vereinbarungen getroffen werden.

Auf Spurensuche

Wie die Suche nach der Provenienz abläuft, sei bei jedem Werk anders. Ulrich Weitz erzählt, bei Fuchs gebe es einen „unheimlichen Glücksfall”. An der Stanford University konnte ein Nachlass aus dem Exil gefunden werden. Die darin enthaltenen Testamente und Schreiben mit Behörden geben eine Übersicht über den Sammlungsinhalt. So konnte Ulrich Weitz herausfinden, dass viele Werke wie der Dachreiter im Auktionshaus gelandet sind. Dazu musste er Auktionskatalogen und Listen der Reichskulturkammer miteinander vergleichen. Über die Auktionshäuser Rudolph Lepke in Berlin und C. G. Boerner in Leipzig gelangte der Großteil von Eduard Fuchs Kunst in die Hände von Sammlern. Dort profitierten die Inhaber von den Verbrechen der Gestapo -und führten sie fort.

Ulrich Weitz in seinem Büro in Stuttgart
Aus seinem Büro in Stuttgart und auf vielen Reisen konnte Ulrich Weitz erreichen, dass Werke von Fuchs Sammlung gefunden und zurückgegeben werden.

Ulrich Weitz hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das Unrecht an Eduard Fuchs aufzuarbeiten. Seit seinem Kunstgeschichtsstudium beschäftigt er sich mit diesem Mann. Ihn fasziniert der Einfluss, den Eduard Fuchs auf die Arbeiterklasse hatte. Heute hat Ulrich Weitz alle Werke von ihm gelesen. In den letzten sieben Jahren konnte er die verschollene Sammlung in großen Teilen rekonstruieren.

Der lange Weg des Dachreiters

Da die Gestapo keine Vorstellung vom Wert vieler Werke hatte, beauftragte sie einen Kunsthändler. Dieser sollte das Vermögen schätzen. Ein Briefwechsel zeigt ihre enge Zusammenarbeit. Besonders bei der asiatischen Kunst log der Händler zum eigenen Vorteil. Ulrich Weitz erklärt: „Da hat er natürlich gesagt: das wäre alles sehr schlechte Qualität, es wären Fälschungen dabei”. Er machte ein sehr geringes Angebot und konnte so den Dachreiter deutlich unter Wert erstehen.

Der chinesische Dachreiter wechselte noch mehrfach den Besitzer.

Der chinesische Dachreiter wechselte noch mehrfach den Besitzer.

Nach einigen Jahren im Auktionshaus wurde er von Kunsthändler Walter Fritzsche ersteigert.

Nach einigen Jahren im Auktionshaus wurde er von Kunsthändler Walter Fritzsche ersteigert.

1952 verkaufte er die Skulptur an die Staatlichen Museen zu Berlin – für das fast Dreißigfache seines ursprünglichen Kaufpreises.

1952 verkaufte er die Skulptur an die Staatlichen Museen zu Berlin – für das fast Dreißigfache seines ursprünglichen Kaufpreises.

In der DDR wurde der Hintergrund des Kunstwerks verschleiert.

Neues Deutschland

In der DDR wurde der Hintergrund des Kunstwerks verschleiert.

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Ein Zeitungsartikel inszeniert den Dachreiters als „Freundschaftsgeschenk der Volksrepublik China”, angeblich zum zehnjährigen Bestehen der DDR.

Neues Deutschland

Ein Zeitungsartikel inszeniert den Dachreiters als „Freundschaftsgeschenk der Volksrepublik China”, angeblich zum zehnjährigen Bestehen der DDR.

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Glück im Unglück

2017 gelangte der Dachreiter bei der Zusammenlegung einiger Museen in das Ethnologische Museum im Humboldt Forum. Hier fand Ulrich Weitz die Figur relativ beiläufig. Er hat sich viel mit der Sammlung von Fuchs beschäftigt und Bildbände der Dachreiter-Kollektion durchforstet. Daher kannte er fast jedes Werk im Detail. Und doch ist es eine simple Google-Suche, die ihn auf eine Spur bringt: Dachreiter, Berliner Museen. „Da kam eine Abbildung, bei der ich dachte - das kenn ich doch.”, erinnert er sich. Der Drache, der vor über 90 Jahren aus Fuchs Garten verschwand, ist wieder aufgetaucht.

Der Dachreiter aus Eduard Fuchs Kunstsammlung, im asiatischen Garten seiner Berliner Villa vor dem Raub der Gestapo 1933.
Der Dachreiter aus Eduard Fuchs Kunstsammlung, im asiatischen Garten seiner Berliner Villa vor dem Raub der Gestapo 1933.
Quelle: Ulrich Weitz

Im Gegensatz zu vielen Auktionshäusern zeigt sich das Museum kooperativ. Archivar*innen und Provenienzforscher*innen beginnen, die Herkunft des Kunstwerks genauer zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen: Mulden auf der Oberfläche weisen Verfärbungen von Regenwasser auf. Ein Beweis dafür, dass das Keramikwesen tatsächlich unter freiem Himmel in Fuchs Garten stand.

Das Museum entschließt sich zur Rückgabe. Doch wem? Dreizehn Erb*innen von Eduard Fuchs werden ermittelt, die den Anspruch auf seine Werke untereinander teilen. Viele fordern eine finanzielle Entschädigung. Das bedeutet: Der Dachreiter wird versteigert. Ein Kunstwerk, das jahrzehntelang im Verborgenen kursierte, wechselt nun erneut den Besitzer – diesmal auf legalem Weg.

Die mühsame Suche nach Gerechtigkeit

In der Zeit der Angriffe durch die Gestapo versuchte die Familie Fuchs, einige ihrer Werke zu schützen. Tochter Gertrude konnte mit der Gestapo verhandeln, dass wenigstens Familienportraits und das Klavier erhalten blieben. Einige Drucke versteckte die Familie in Voraussicht bei Freunden in Holland oder Gemälde bei der Nachbarin. Doch durch die Einführung der „Reichsfluchtsteuer” hatten die Nazis ein Gesetz geschaffen, mit dem die Geflohenen in den finanziellen Ruin getrieben und zu Zwangsversteigerungen genötigt wurden. Auf diese Weise unfreiwillig verkaufte Kunstwerke konnte die NSDAP als rechtmäßig abgetreten inszenieren. Oft wissen die aktuellen Besitzer*innen nichts von ihrer Herkunft; oder sie wollen nichts davon wissen.

Das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste arbeitet mit Museen zusammen, um solche Rückführungen zu ermöglichen. In der Lost Art Datenbank sind über 180.000 Such- und Fundmeldungen von Institutionen und Privatpersonen erfasst. Ziel ist, die Eigentümer*innen und heutigen Besitzer*innen zu einer gerechten Aufarbeitung und Einigung zu bringen. Ulrich Weitz hat die Einträge für Eduard Fuchs vorgenommen. Damit will er Museen ermöglichen, selbst festzustellen, ob sie Raubkunst aus der NS-Zeit besitzen. Einmal in der Lost Art Datenbank aufgeführt, dürfen diese nicht weiterverkauft werden. „Ich weiß von Werken, die noch erhalten sind”, sagt Weitz. „Aber die Auktionshäuser weigern sich, zu sagen, wer sie ersteigert hat.” Betroffene schweigen, da sie mediale Skandale oder finanzielle Verluste fürchten. „Wenn es ein Raub ist, ist so ein Verhalten ja eigentlich Beihilfe, also ich finde es ein bisschen fragwürdig”, urteilt Ulrich Weitz. 

Die Grenzen der Aufarbeitung

Obwohl der Dachreiter in den letzten 90 Jahren Berlin nie verlassen hat, ist er erst kürzlich aufgetaucht. Verschleierungen und Unwissenheit vorheriger Besitzer*innen erschweren den Rückführungsprozess. Ein weiteres Hindernis: Juristisch gesehen ist nach dreißig Jahren der Anspruch auf Heraus- und Rückgabe an den bestohlenen Besitzer verjährt. Erst seit den 1990er-Jahren werden ernsthafte Schritte in der Provenienzforschung unternommen. Staatliche Förderungen ermöglichen Forschungsprojekte wie das von Ulrich Weitz. Die Rechtsprechung bleibt schwierig. Es ist zu prüfen, ob die Werke in „gutem Glauben” oder mit Wissen über deren Geschichte ersteigert wurden. In Zukunft soll ein neues Gesetz Erb*innen erleichtern, Raubgut zurückzufordern.

International haben sich über vierzig Länder verpflichtet, auf die Rückgabe von NS-Raubgut hinzuarbeiten und eine „gerechte und faire Lösung” zu finden. Die sogenannte Washingtoner Erklärung ist zwar rechtlich nicht bindend, dafür ethisch und moralisch verpflichtend. 

Ein langer Weg zur Aufarbeitung

Doch während Fuchs Fall durch hartnäckige Forschung und öffentliche Aufmerksamkeit zumindest teilweise aufgearbeitet wurde, bleibt ein großer Teil der geraubten Kunstwerke im Dunkeln. Über 100.000 Werke der Raubkunst werden immer noch vermisst. Versteckt in Privatsammlungen, unerkannt in Museen oder von dem NS-Regime zerstört. Viele Fälle wurden gar nicht erst untersucht, weil sich niemand ihrer annimmt. Erst durch Menschen wie Ulrich Weitz, die Archive durchforsten, Besitzverhältnisse rekonstruieren und jahrzehntelang nach Spuren suchen, kommen NS-Verbrechen wie diese ans Licht. Ohne diesen Einsatz würden viele Werke für immer in den falschen Händen bleiben.

Heute sind Werke aus der Sammlung von Eduard Fuchs noch auf der Welt verteilt. Manche hängen in Londoner und Wiener Museen, eine Zeichnung an einer kanadischen Universität, viele Drucke zeigt das Metropolitan Museum of Arts in New York. Die meisten jedoch befinden sich irgendwo in Deutschland. Oder an unbekannten Orten, die noch gefunden werden müssen. 

Dieser Artikel basiert auf einer Datenerhebung zu Provenienzforschung und NS-Raubkunst

Datenquellen: Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste sammelt mit staatlicher Förderung aktuelle Daten zu vermissten und als geraubt ermittelten Kunstwerken. Dessen Forschungsprotokolle ermöglichten uns einen Einblick in den aktuellen Stand der Restitutionen. Öffentliche Datenbanken wie Lost Art und Proveana bilden eine Plattform für systematische Dokumentation. Wir konnten sie als Basis für unsere Recherche und Datenauswertung verwenden. Provenienzforscher Ulrich Weitz stellte uns seine Rechercheergebnisse und Publikationen bereit. Seine Arbeit war Grundlage für die Hintergrundinformationen zu Eduard Fuchs.