Werden Filme immer länger?
Wer sich in letzter Zeit mit aktuellen Kinofilmen beschäftigt hat, wird wahrscheinlich den Eindruck gewonnen haben, dass eine Laufzeit von drei Stunden quasi zur Mindestanforderung an die Filmemacher*innen geworden ist. Filme mit den klassischen 90 Minuten scheinen immer seltener zu werden. Und der Schein trügt nicht: Im Oktober hat die englische Zeitung "The Economist" untersucht, wie sich die Filmlängen in den letzten 100 Jahren entwickelt haben. Das Ergebnis überrascht die meisten, die sich mit dem Thema beschäftigen, widerspricht es doch der weit verbreiteten Annahme, dass Filme in den letzten 60 Jahren im Durchschnitt immer gleich lang waren. Diese Annahme basiert auf einer viel zitierten Analyse des Datenwissenschaftlers Przemysław Jarząbek aus dem Jahr 2018. Doch wie kann das sein?
Die Mitarbeiter*innen der Zeitung haben zum einen deutlich mehr Filme analysiert als Jarząbek, und zum anderen die Filme seit seiner Datenerhebung 2018 bis ins Jahr 2022 mit einbezogen. Sie haben mehr als 100 Tausend Filme untersucht und sind dabei bis in die 1930er-Jahre zurückgegangen. Dabei haben sie sowohl die durchschnittliche Länge der Spielfilme pro Jahr als auch die durchschnittliche Länge der zehn erfolgreichsten Filme pro Jahr berechnet. Die erfolgreichsten Filme sind dabei die Filme mit den meisten Bewertungen. Filme, die kürzer als 40 Minuten sind oder weniger als 100 Bewertungen haben, wurden nicht berücksichtigt.
Das Ergebnis: Die durchschnittliche Länge eines Spielfilms ist im Laufe der Zeit um 32 Prozent gestiegen, von einer Stunde und 21 Minuten in den 1930er-Jahren auf eine Stunde und 47 Minuten im Jahr 2022. Bei den Top Ten ist der Unterschied noch größer: im Jahr 2022 hatten die zehn erfolgreichsten Filme des Jahres eine durchschnittliche Länge von fast zweieinhalb Stunden, fast 50 Prozent mehr als noch in den 1930er-Jahren. Es ist keine große Spekulation, dass dieser Trend wohl auch 2023 nicht abgerissen ist. Mit Filmen wie „Oppenheimer“ und „Killers of the Flower Moon“, die jeweils eine Laufzeit von über drei Stunden haben, wurde die Geduld des Kinopublikums auch dieses Jahr auf die Probe gestellt. Aber auch die anderen Kassenschlager des Jahres wie „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“, „John Wick: Kapitel 4“ oder „Mission Impossible – Dead Reckoning Teil Eins“ bleiben dem Durchschnitt der Top Ten treu. Die kürzeste dieser Laufzeiten beträgt immerhin stolze zwei Stunden und 22 Minuten („Indiana Jones“).
Eine Reise in die Vergangenheit
Im Laufe der Zeit gab es immer wieder Schwankungen in der durchschnittlichen Filmlänge. Bereits in den 60er-Jahren gab es Filme wie „Lawrence von Arabien“ oder „Cleopatra“, die mit einer Laufzeit von drei Stunden und 42 Minuten beziehungsweise drei Stunden und 53 Minuten das Kinopublikum in ihren Bann zogen. Diese Filme nutzten neue technische Möglichkeiten, wie beispielsweise das Breitbildformat oder den Stereoton. Neben den gut erzählten Geschichten und interessanten Charakteren brachten auch diese neuen Möglichkeiten den Filmen kommerziellen Erfolg. Vor allem „Lawrence von Arabien“ konnte seine beeindruckenden Wüstenaufnahmen im Breitwandformat besser zur Geltung bringen und erhielt dadurch gleich sieben Oscars.
Aber auch in den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder Filme, die sehr lang waren. Lediglich zwischen 1970 und 1985 scheint es eine Phase gegeben zu haben, in der die erfolgreichsten Spielfilme kürzer wurden. Der Datenwissenschaftler Randal Olson lieferte dafür vor fast zehn Jahren den Grund: VHS. Zu der Zeit, als die erfolgreichsten Spielfilme kürzer wurden, wurde die Videokassette eingeführt. Mit diesen konnte man auch Spielfilme anschauen, nachdem sie in den Kinos liefen. Allerdings hatten diese VHS-Kassetten einen großen Nachteil: sie hatten eine zeitliche Begrenzung von anfangs meist 120 Minuten. Als sich aber im Laufe der Zeit die DVD durchsetzte, auf der mehr Speicherplatz zur Verfügung stand, war auch der Trend der kürzeren Laufzeiten beendet.
Dass Filme in der Vergangenheit gar nicht erst die Überlänge bekamen, die sie heute vielleicht hätten, lag übrigens oft an den Filmstudios, erklärt Kim Ludolf Koch, Geschäftsführer von Cineplex Deutschland: „Früher hörte man ja immer wieder die Geschichten, dass ein Regisseur einen sehr langen Film gemacht hat und dann das Studio kam und meinte, wir kürzen den jetzt um eine Stunde auf 120, 130 Minuten. Da war dann die Folge, dass irgendwann die Director’s Cuts kamen. Davon hört man nur noch relativ selten“.
Unterschiede zur heutigen Zeit
Könnte also ein Grund für die Steigerung der Filmlängen die Tatsache sein, dass die Studios dies den Regisseur*innen früher nicht erlaubt haben? Martin Fuss, Leiter Filmeinkauf bei Kinopolis Deutschland, erklärt: „Früher hat jede zusätzliche Minute Film zu höheren Kopierkosten im Kopierwerk geführt. Beispiel: zehn Minuten entsprechen ca. 270 Metern an Film. Zusatzkosten für die 270 Meter pro Kopie liegen sicher zwischen 30 und 40 Euro. In Deutschland haben die Filmkopien dann 20.000 bis 25.000 Euro mehr gekostet." In den USA hätten sich diese Mehrkosten aufgrund der höheren Anzahl an Kinos noch einmal verzehnfacht, also insgesamt um die 200.000 Euro pro zehn Minuten Überlänge.
Übrigens: Da „Oppenheimer“ auf IMAX-Film (einem speziellen Filmformat) gedreht und per Filmrolle an ausgewählte IMAX-Kinos ausgeliefert wurde, mussten dabei jeweils Filmrollen mit einer Länge von rund 18 Kilometern verschickt werden.
Ein entscheidender Unterschied zu den Zeiten, als „Cleopatra“ und „Lawrence von Arabien“ noch die Leinwände eroberten, ist die Tatsache, dass es damals bei langen Filmen immer mindestens eine technisch bedingte Pause gab, in der die Filmrollen gewechselt werden mussten. Da die heutigen Filme in der Regel auf Festplatten oder als digitale Kopien vorliegen, würde eine technisch bedingte Pause von den Kinos nicht mehr benötigt und von den Filmstudios nicht mehr gewünscht, erklärt Koch. Ein Aspekt, der auch ihm nicht ganz gefällt: „Eine Pause schadet weder dem Film noch der Nachfrage. Man würde einfach einem natürlichen Wunsch des Publikums nachkommen. Aber aus irgendeinem Grund wollen es die Studios nicht. Das kann ich nicht verstehen."
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Auswirkungen auf das Kino
Doch welche Vorteile ergeben sich aus den längeren Spielfilmen für die Kinos? In der Antwort auf diese Frage scheint Einigkeit zu herrschen: keine. "Die Programmgestaltung mit langen Filmen ist schwieriger als mit kurzen", erzählt Koch. "Wenn das auch noch ein Film ist, der vielleicht ein älteres Publikum anspricht, das nicht spätnachts noch unterwegs sein will, muss dieser Film spätestens um 19 Uhr anfangen." Im Umkehrschluss bedeute das, dass die Vorstellung davor um spätestens 15 Uhr beginnen müsste. Auch Fuss von Kinopolis hat damit Probleme: „Für drei tägliche Vorstellungen muss man jetzt deutlich eher öffnen, was zu höheren Personal- und Betriebskosten führt“. Bei langen Filmen fingen zudem die Mittagsvorstellungen unter der Woche oft noch während der Schulzeiten an.
Eine Folge davon ist die Tatsache, dass die Kinos laut Koch und Fuss deshalb höhere Eintrittspreise nehmen müssen, da sie bei weniger Vorstellungen auch weniger Tickets anbieten können. Aber auch der zeitliche Aufwand eines Kinobesuchs erhöht sich dadurch enorm: Für einen dreistündigen Film inklusive Werbung ist man in der Regel mindestens vier, wenn nicht sogar fünf Stunden unterwegs. Auch die Tatsache, dass die beliebte Abendvorstellung aufgrund der geringeren Alternativen deutlich mehr besucht sein dürfte, mag sicherlich auf viele abschreckend wirken. Um es mit den Worten von Kim Koch zu sagen: „Das müssen dann schon wirklich tolle Sachen sein. Und ja, die gibt es, aber schöner wäre es, wenn sie ein bisschen kürzer wären“.