„Ich finde Einsamkeit wahnsinnig gefährlich.“
Women Walk and Talk: Gemeinsam statt einsam
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers „Einsamkeit bei jungen Menschen“. Außerdem zum Dossier gehören folgende Beiträge:
Dort gibt es weitere Inhalte zu dem Thema.
„Ich glaube, jeder hat Einsamkeit schon mal erlebt oder kann zumindest dieses Gefühl beschreiben, dass man sich eine andere zwischenmenschliche Beziehung wünscht oder ein anderes soziales Bedürfnis hat, als in dem Moment gedeckt wird“, erzählt Juliane Brosz im Interview.
Juliane Brosz ist selbstständige Kommunikatorin, sie hat ein offenes Lachen und kommt mit Menschen einfach ins Gespräch. Dass diese Frau Schwierigkeiten hatte, sich zugehörig zu fühlen, erscheint unwirklich. Aber genau deshalb hat sie die Initiative „Women Walk and Talk“ in Stuttgart gegründet – als Mittel gegen Einsamkeit bei jungen Menschen. Mindestens einmal pro Woche lädt sie über soziale Plattformen dazu ein, gemeinsam spazieren zu gehen. Ihrem Aufruf folgen dutzende junge Frauen.
Obwohl die Corona-Pandemie schon lange vorbei ist, hinterlässt sie noch immer Spuren, viele davon nicht sichtbar. Betroffen ist eine Personengruppe, die zwar nicht von der Krankheit selbst, aber dafür von den Schutzmaßnahmen am meisten getroffen wurde: Junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahren. Seit der Pandemie ist das Gefühl der Einsamkeit bei jungen Menschen gestiegen – 46 Prozent gaben bei einer Studie der Bertelsmann-Stiftung an, sich einsam zu fühlen. Vor der Pandemie waren es etwa 17 Prozent.
Einsamkeit greifbar machen
Aber was ist Einsamkeit überhaupt? Einsamkeit bezeichnet ein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl oder das Gefühl, keine erfüllende Bindung zu anderen zu haben.
Bei einigen Bevölkerungsgruppen wie Singles, Alleinerziehende sowie Menschen mit Migrationshintergrund, eingeschränkter Mobilität oder wenig Geld besteht ein höheres Risiko, unter Einsamkeit zu leiden. Auch Umbruchphasen, also der Beginn eines neuen Lebensabschnitts, gelten als Risikofaktor. In diesen Lebensphasen befinden sich häufig eher jüngere Menschen.
Juliane kennt die beschriebenen Probleme und das Gefühl der Einsamkeit selbst. Kurzerhand beschließt sie Anfang 2024 etwas dagegen zu unternehmen und gründet „Women Walk and Talk“. Auf der Plattform „Meetup“ bietet sie einen Spaziergang für Frauen an. Die Rückmeldung ist überragend. 60 Leute sagen zu, etwa 30 erscheinen und nehmen am ersten Walk teil. „Da habe ich einfach gemerkt, dass ich einen Nerv getroffen habe. Die Nachfrage ist definitiv da“, freut sich Juliane.
Seitdem ist die Community stetig gewachsen: Von After-Work-Walks bis hin zu Themenspaziergängen, das Angebot ist breit gefächert und richtet sich an Frauen aller Altersklassen.
Warum nur Frauen? Juliane ist es wichtig, dass die Community ein Safe Space für FLINTA* ist. Wenn sie dafür kritisiert wird, hat sie eine selbstbewusste Antwort parat: Sie habe eine Lösung für ihr Problem gefunden. „Es kann nicht der Anspruch der Öffentlichkeit sein, dass ich für jeden eine Antwort parat habe.“ Juliane hofft aber auf viele Nachmacher*innen und Gründer*innen.
Der Begriff FLINTA* umfasst Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen. Der Stern steht hierbei für alle Personen, die sich in keinem Begriff wiederfinden, aber dennoch aufgrund ihrer sexuellen bzw. geschlechtlichen Identität von Marginalisierung betroffen sind.
Einsamkeit: Eine Gefahr für die Gesellschaft?
Spätestens seit der Pandemie ist Einsamkeit ein Thema, das gesamtgesellschaftlich diskutiert wird – zu Recht, meint Juliane. „Ich finde Einsamkeit wahnsinnig gefährlich. Menschen, die sich ganz krass Zugehörigkeit wünschen, sind viel anfälliger dafür, sich auch in extremere Gruppen hineinziehen zu lassen. Denn Populismus hat ja nur einen Zweck, nämlich die Menschen da abzuholen, wo sie sind.“ Das belegt auch eine Studie zweier deutscher Soziologen.
Denn je zufriedener und glücklicher wir uns fühlen, desto mehr seien wir auch in der Lage, mit Krisensituationen umzugehen, findet Juliane. Eine Fähigkeit, die von einer Gesellschaft gebraucht wird – im politischen wie auch im gesundheitlichen Sinne.
Das hat auch die Stadt Stuttgart verstanden. Seit 2022 gibt es dort die Abteilung Strategische Sozialplanung, die sich gezielt mit dem Thema Einsamkeit auseinandersetzt. Diese wird von Gabriele Reichhardt geleitet. Wenn sie über ihre Arbeit spricht, fangen ihre Augen an zu leuchten. „Wir versuchen, Strategien zu entwickeln, die einerseits theoretisch fundiert sind, aber auch in der Praxis Wirkung erzielen.“ Dafür wurde die Kampagne „GemEINSAMkeiten“ entwickelt. Sie weist Stuttgarts Bürger*innen auf städtische Angebote hin, bietet aber auch Informationen zu Beratungsstellen. Denn Einsamkeit ist kein Einzelfall, sie betrifft viele und kann jede*n treffen. „Wir wollen einerseits das Tabu brechen und Einsamkeit beim Namen nennen, aber auch Menschen dazu aktivieren, selbst wirksam zu werden“, so Gabriele Reichhardt. Aber was hilft denn eigentlich gegen Einsamkeit?
Aus der Einsamkeit finden
Ein Allheilmittel gegen Einsamkeit gibt es nicht. Da das Gefühl aber von fehlenden Bindungen ausgelöst wird, gilt es, neue Bindungen zu schaffen – leichter gesagt als getan. Sich aus dem Gefühl der Isolation zu lösen, erfordert viel Mut denn man muss über seinen eigenen Schatten springen, um neue Leute kennenzulernen. Die Suche nach neuen Aktivitäten kann bei der Bekämpfung von Einsamkeit hilfreich sein. Sich mit etwas Neuem zu beschäftigen, lenkt nicht nur ab, sondern eröffnet auch Möglichkeiten, Menschen mit ähnlichen Interessen kennenzulernen.
Fünf Angebote gegen Einsamkeit, die (fast) überall möglich sind:
Das Schwierige an Einsamkeit ist, dass Menschen unterschiedlich stark daran leiden und schwer abzuschätzen ist, wann professionelle Hilfe benötigt wird. Selbsthilfegruppen bieten einen Raum, in dem Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und Herausforderungen miteinander in Kontakt treten können. Diese Gruppen sind besonders hilfreich, wenn Einsamkeit aus psychischen Belastungen oder Diskriminierung resultiert. In einer Selbsthilfegruppe können sich Teilnehmende nicht nur gegenseitig unterstützen, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit und des Verstandenwerdens erleben.
In manchen Fällen ist jedoch professionelle Hilfe erforderlich, um Einsamkeit langfristig zu überwinden – besonders bei chronischer Einsamkeit, die häufig mit psychischen Erkrankungen einhergeht. In der kognitiven Verhaltenstherapie beispielsweise lernen Betroffene, ihre Denkmuster zu hinterfragen und in eine positivere Richtung zu lenken. Am Ende geht es nicht darum, Einsamkeit allein zu besiegen, sondern sie gemeinsam zu überwinden.
Wenn du selbst von Einsamkeit und psychischer Belastung betroffen bist, findest du hier Hilfe:
Nummer gegen Kummer: Telefonische Beratung und Unterstützung für Kinder und Jugendliche, anonym und kostenlos.
krisenchat.de: Beratung per WhatsApp oder SMS für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
TelefonSeelsorge: Die TelefonSeelsorge ist kostenlos per Telefon, Mail und Chat zu erreichen.
Redezeit für Dich: Ehrenamtliche ausgebildete Zuhörer*innen unterstützen kostenlos über Skype, Zoom, WhatsApp, Facetime oder Telefon.
Psychologische Beratung der Studierendenwerke: Viele Studierendenwerke bieten ratsuchenden und einsamen Studierenden psychologische Beratungsmöglichkeiten.
[U25]: [U25] ist ein kostenfreies Online-Hilfsangebot, das bei Suizidgedanken und in Krisen berät.
JugendNotmail: Hier beraten ehrenamtliche Psycholog*innen und Sozialpädagog*innen mit Zusatzausbildung Kinder und Jugendliche vertraulich und kostenlos per Mail und Chat.
Psychologische Beratungsstelle der Evangelischen oder Katholischen Kirche in Deutschland: Ausgebildete Psycholog*innen oder Sozialpädagog*innen beraten, auch regelmäßig, bei Krisen in allen Lebenslagen.