„Es ist egal, wer deine Eltern sind oder wie viel Geld du auf dem Bankkonto hast − die Pubertät ist scheiße.“
Straight outta Cannstatt
„Hi, du!“, ruft mir ein Mädchen winkend zu. Im nächsten Moment quatschen mich drei Jungs an und fragen, wie ich heiße und aus welchem Land ich komme. Die Antwort warten sie jedoch nicht ab, sondern spekulieren lieber selbst darüber. Zuvor war mein Tag stressig und vollgepackt mit Terminen. Umso schöner ist da ein offenes Willkommen wie dieses.
Ich setze mich mit Marie zusammen. Sie ist Französin, fast von Anfang an dabei und die Chefin des Jugendcafés „Die Inzel“, welches für die Kids aus der Neckarvorstadt verantwortlich ist. Der kleine Bezirk befindet sich im Norden Stuttgarts, liegt zwischen der Wilhelma und Bad Cannstatt.
Ihre Jugendstätte ist etwas Besonderes, sagt sie. Denn das Team betreibt außer den festen Räumlichkeiten an der Rosensteinbrücke auch mobile Jugendarbeit auf der Straße. Die übersichtliche Location ermöglicht darüber hinaus einen schnellen und persönlichen Kontakt. Für die Heranwachsenden ist das Café ein Rückzugsort, wo sie einmal runterkommen und geschätzt werden. Caro, ehemalige Besucherin und mittlerweile fest an Board, schwelgt in Erinnerungen: „Da standen diese Pädagogen und haben uns Antworten auf all unsere Fragen gegeben. Das hat mir so gut gefallen, dass ich das auch machen wollte.“ Was für manch andere Kinder die Familie ist, sind für ihre Gleichaltrigen aus der Inzel der Freundeskreis und das Inzelteam. Von 'Ich habe Stress mit meinem Lehrer' bis 'Ich glaube, meine Eltern lieben mich nicht' − Marie und ihre Kollegen sind immer wieder erstaunt, wie sehr ihnen die Jugendlichen vertrauen. Was dann hilft sind oft Kleinigkeiten. „Der richtige Satz im richtigen Moment oder die Hand auf der Schulter. Etwas ganz Natürliches, aber das ist dann genau das, was sie in diesem Augenblick brauchen.“ Doch diese ehrliche und einfühlsame Art der Unterstützung schätzen die Kids besonders.
Zwischen den Kulturen
Das Café der Inzel ist laut Marie der einzige Ort im Stadtteil, wo sich die Jugendlichen zusammenreißen. Dort können sie sich auf die Mitarbeiter verlassen und auch ein Nein bleibt bei einem Nein. Viele der Eltern stehen unter Stress, haben mehrere Jobs, um den Unterhalt zu finanzieren und demnach kaum Zeit. Die meisten Jungs und Mädels müssen sich deshalb selbst zurechtfinden. In dem Bezirk um die Neckarvorstadt leben zudem einige junge Menschen unter der Armutsgrenze. Ob Hunger, Schutz vor häuslicher Gewalt oder die Angst vor der Abschiebung: Manche Kinder sind so damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse zu decken, da bleibt keine Zeit, sich die eigene Zukunft auszumalen. Hilflosigkeit und das Gefühl 'nichts erreichen zu können' sind die Folge. Marie kann die Wut mancher Heranwachsender da gut verstehen. „Es ist doch klar, dass man dann lieber alles kaputt macht oder den großen Macker spielt. Viele Leute vergessen jedoch, dass da eigentlich nur ein 15-jähriger Kerl steht, der sich gerade in die Hose macht.“ Aus diesem Grund besteht ihr Job als Sozialarbeiterin vor allem darin, den Teenagern Alternativen aufzuzeigen.
„Wenn ich mal groß bin ...“
„Viele Jugendliche möchten im Stadtteil bleiben und auch ihre Sprösslinge eines Tages dort aufwachsen sehen. In einem gutbürgerlichen Viertel leben? Das können sich die Meisten nicht vorstellen. Laut Marie hat das viel mit dem Selbstbewusstsein zu tun: „Unsere Kiddies würden sagen: 'Ich bleibe lieber unter Kanacken'.“
Während andere Teenager davon träumen, die Welt zu bereisen oder sich auf ihr Studium vorbereiten, macht sich der ungeregelte Alltag vieler Inzelgänger auch in deren Wunschvorstellungen bemerkbar: „Eine nette Freundin, zwei Kinder, ein Haus und ein Auto mit ein bisschen PS. Die wollen Sicherheit und Normalität.“
Die Chefin ist mächtig stolz auf „ihre“ Kids. Wenn manche der Heranwachsenden beispielsweise eine Ausbildung erfolgreich abschlossen haben, sind das mit ihrem Hintergrund vergleichsweise drei Doktortitel. Sie betont, dass es ohnehin nicht darauf ankommt, was man gemacht hat, sondern woher man kommt und welchen Weg man gegangen ist.
Ein bisschen Liebe
Für die Leiterin des Jugendhauses ist es wichtig, dass sich die Gesellschaft im Umgang mit Jugendlichen daran erinnert, was es bedeutet jung zu sein. Und was die eigene Pubertät damals so mit sich brachte.
Maries Wunsch: Ein liebevollerer Blick und ein bisschen Kulanz am richtigen Platz. Der Mensch braucht nicht viel, aber er braucht das Gefühl, willkommen zu sein und geschätzt zu werden.
Frustration kommt auf, wenn eine Person das Gefühl hat, ihren Platz in der Gesellschaft nicht zu bekommen. Angebote wie die Inzel können junge Menschen dabei frühzeitig unterstützen. Stärkere finanzielle Mittel etwa von Seiten der Stadt sind deshalb auch immer eine gute Investition in unser gemeinsames Miteinander. Mit einem Augenzwinkern fügt die stolze Bad Cannstatterin hinzu: „Damit sind wir immer noch billiger, als bei einem Gefängnisaufenthalt.“