„Ich habe noch nie an einem Ort so viel gelacht wie im Kinderhospiz.“
In stiller Trauer?
Sabine Reichelt sitzt an der Nordsee. Leider nicht wirklich, das Foto vom Strand am Meer ist nur ein Zoom-Hintergrund. Eigentlich sitzt sie in Stuttgart, weit entfernt von der Nordsee – genau wie damals, als ihr Vater starb. Er lebte in einem Pflegeheim im Norden. Niemand sagte ihr und ihrer Familie Bescheid, als es passierte. Man spürt noch heute die Wut, die sie damals überkam.
Heute ist Sabine Reichelt selbstständige Trauerbegleiterin. Es waren gerade ihre persönlichen Erfahrungen, die sie auf diese Idee brachten. Zum einen die eigenen Berührungspunkte mit dem Thema Trauer, aber auch die Kompetenzen, die sie als Mutter von zwei Kindern entwickeln konnte. Ihre ursprünglichen Lebensentwürfe musste Sabine Reichelt begraben, als sie ein behindertes Kind bekam. Außerdem spricht sie von sich als „umzuggeschädigtes Kind“ – Abschiede von guten Freunden und der andauernde Neuanfang gehören für sie ebenfalls zur Trauer dazu. „Mit Abschieden haben wir unser ganzes Leben lang zu tun“, sagt sie.
An die Nordsee träumt sich auch Christina Sabelus. Sie ist ebenfalls Trauerbegleiterin und ehrenamtliche Hospizhelferin, allerdings neben ihrem eigentlichen Beruf in der Medienbranche. Besonders in der Notfallbetreuung von Trauernden nutzt sie die Übung der Imagination, um die Betroffenen in eine andere Gedankenwelt abtauchen zu lassen. Dabei sollen sich diejenigen an einen sicheren Ort denken, an dem sie sich wohlfühlen und zur Ruhe kommen können. Für sie selbst ist das der Strandkorb auf Sylt, in dem sie den Sand unter den Füßen spürt, um den der Wind pfeift und der ein wenig nach Plastik riecht. Übungen wie diese helfen ihr nicht nur in Trauersituationen, sondern auch im Alltag – so denkt sie an den Strandkorb auf Sylt auch bei Besuchen beim Zahnarzt oder beim Tätowierer.
Ihren virtuellen Hintergrund ziert kein Strandbild, stattdessen sitzt Christina Sabelus vor Bücherregalen. Als Kommunikationsexpertin weiß sie um die Wirkung ihrer Worte, ruhig und dennoch mitreißend spricht sie über ihre Arbeit im Kinderhospiz. Hospize sind Einrichtungen, die Sterbende in ihrer letzten Lebensphase begleiten. Hier hat sie bis vor der Pandemie noch regelmäßig Familien mit todkranken Kindern betreut. Bei der Frage, wie man es an so einem „schrecklichen Ort“ aushält, unterbricht sie uns. „Ich habe noch nie an einem Ort so viel gelacht wie im Kinderhospiz“, sagt sie. Sie erzählt von der unglaublich schönen Stimmung und wie die Familien sich verabreden würden, um Ostern gemeinsam im selben Hospiz verbringen zu können. Die große Dankbarkeit der Eltern und auch der Geschwisterkinder seien das, was ihre Aufgabe so schön mache – auch, wenn sie natürlich mitweine, wenn ein Kind verstirbt. Sabelus möchte, dass die Familien trotz allem sagen können: Es ist uns gut gegangen an diesem Ort.
Auch wenn viele Menschen nie mit einem Hospiz zu tun haben, sind doch die meisten schon in jungen Jahren mit den Themen Sterben, Tod und Trauer in Berührung gekommen. Nach einer Studie des Malteser Hilfsdienst e. V. von 2020 haben über sechzig Prozent der befragten jungen Erwachsenen schon einen oder mehrere wichtige Menschen verloren.
Welche Arten von Trauerbegleitung gibt es?
Trauerbegleitung funktioniert heute über verschiedenste Wege. Neben Telefongesprächen mit Trauerbegleiter*innen gibt es auch organisierte Angebote wie zum Beispiel Trauerwanderungen gemeinsam mit anderen Betroffenen. Sabine Reichelt trifft sich mit den Trauernden dagegen in ihren eigenen Räumlichkeiten. Sie richtet den Raum für jeden Gast her, mit Blumen und mit Kerzen. „Ich glaube, dass alle Trauernde wahrnehmen, dass etwas für sie vorbereitet ist. Etwas, das sich gut anfühlt, warm anfühlt – da kann ich mich hinsetzen und wirklich mal durchatmen“. Was sie nicht mache, sei, zu den Trauernden nach Hause zu gehen – ihrer Meinung nach ist es wichtig, von dem Ort der Trauer wegzukommen.
„Das Wichtige ist, Raum zu geben und einfach da zu sein“, sagt Christina Sabelus. Die Trauernden sollen wissen, dass jemand für sie da ist und ihnen zuhört, ohne zu werten. Es gebe nun mal nicht den einen Weg aus der Trauer. Sie definiert die Aufgabe der Trauerbegleiter*innen darin, die Betroffenen zu stabilisieren. Wie genau das abläuft, hängt ganz davon ab, was der jeweiligen Person guttut. Ob Gespräch, Meditation oder eben die Übung der Imagination: Die Menschen suchen sich das heraus, was sie in dem Moment brauchen, fügt die Kommunikationsexpertin hinzu. Dabei stellt sich allerdings die Frage, für wen welches Angebot geeignet ist. „Wenn die Trauer frisch ist, sollte man nicht in eine Trauergruppe gehen“, sagt Sabine Reichelt. Die Gruppen treffen sich in größeren Abständen und bieten eher Austausch anstelle von Trost untereinander.
„Das Wichtige ist, Raum zu geben und einfach da zu sein.“
Im Hospiz beginnt die Trauer oft schon mit dem Einzug und nicht erst mit dem Tod. Das Wissen über die Hospiz- und Trauerbegleitung ist bei jungen Erwachsenen allerdings laut einer Studie des Malteser Hilfsdienst e. V. noch eher gering. Vierzig Prozent der Befragten hatten noch nie davon gehört, nur knapp jeder Fünfte kannte auch wirklich die Angebote der Hospizarbeit. Christine Pfeffer ist promovierte Soziologin, ausgebildete Krankenschwester und die Leitung eines Ambulanten Hospizdienstes für Erwachsene. Auch sie und ihr Team bieten Begleitung und Nachsorge an. Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen stehen den Angehörigen schon vor dem Sterbefall bei, um diese zu entlasten und einen einigermaßen normalen Arbeitstag zu ermöglichen. Nach dem Sterbefall dauert die Trauernachsorge teilweise bis zum ersten Todestag an. In dieser Zeit begleiten die Ehrenamtlichen die Betroffenen bei der Beerdigung und im Alltag. Gerade die Geburtstage der Verstobenen sind für die Angehörigen besonders schwer. Oft denkt aber niemand mehr daran. Auch hier leisten die Ehrenamtlichen Beistand, indem sie den Angehörigen zum Beispiel einen Brief schreiben. Trauernde können aber auch Unterstützung in Form von Einzelgesprächen und Gruppentreffen erhalten. Die Gruppen bestehen aus bis zu zehn Teilnehmer*innen und zwei ehrenamtlichen Trauerbegleitenden. Daneben gibt es auch die Möglichkeit, die Trauer in einer Kreativwerkstatt oder bei einem Stammtisch für Männer zu verarbeiten. Es tue den Menschen gut, sich mit anderen zusammenzutun, die das Gleiche durchgemacht haben. Einmal hat sich in einer Trauergruppe sogar ein Pärchen gebildet, erzählt die Leiterin des Ambulanten Hospizdienstes schmunzelnd.
„Ein wichtiger Teil davon ist einfach Überleben.“
Ein Ansatz ist auch, den Trauernden zu zeigen, dass sie die Situation meistern können. Sabelus schöpft dabei aus ihren Kompetenzen als Kommunikatorin, denn die Fragetechnik sei hierbei entscheidend: Hast du schon mal etwas Vergleichbares erlebt? Wann ist dir so eine Situation gut gelungen? Was war damals anders als jetzt? Und was müsste passieren, damit es wieder so werden kann? Reichelt sagt: „Ein wichtiger Teil davon ist einfach Überleben. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute sind Trauernde mit dieser leeren Stelle konfrontiert und müssen sich komplett umorganisieren.“ Trauer sei eben Arbeit. Dementsprechend orientiert sich die Trauerbegleitung speziell an den Bedürfnissen der Trauernden. Christina Sabelus ergänzt zudem, dass es den Dialog brauche. Ihr ist vor allem wichtig, dass man bei der Trauerbegleitung von sterbenden Kindern nicht die Geschwisterkinder vergisst – die sogenannten „Schattenkinder“. Diese werden so bezeichnet, weil sie oft in den Hintergrund rücken. Trauerbegleitung könne daher auch heißen, dass sie mit einem Geschwisterkind auf den Spielplatz geht.
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Trauer – Ein Tabuthema?
Der Studie des Malteser Hilfsdienst e. V. zufolge sind viele junge Menschen der Meinung, dass zu wenig über die Themen Sterben, Tod und Trauer gesprochen wird. Die Zukunftsforschung sieht nicht im Tod das Problem, sondern nennt die Trauer als eigentliches Tabuthema. Dennoch ist der Bereich in Bewegung, Sabelus sieht deutlich mehr Offenheit beim Thema Trauerbewältigung. Dabei ist ihr klar, dass sie Angebote durch ihren professionellen Blick eher wahrnimmt als andere Menschen. Inzwischen gibt es sogar Studiengänge, die sich mit den sogenannten perimortalen Wissenschaften auseinandersetzen. In der Gesellschaft dagegen sei es immer noch so, dass man trotz Trauer funktionieren soll. Sie möchte stattdessen vermitteln, dass Trauern in Ordnung ist. Ihr Wunsch ist, die Thematik mehr zu öffnen – und so scheut sie sich auch nicht, ihren Beruf beispielsweise auf einer Party anzusprechen. Dabei hat sie die Erfahrung gemacht, dass sich die Menschen eine Weile später bei ihr melden und Fragen haben. Zwar noch unter vorgehaltener Hand, aber sie ergänzt: „Wir haben da sicher noch sehr, sehr viel zu tun, aber ich glaube, es entsteht auch schon viel.“
Christine Pfeffer ist nicht der Meinung, dass es sich bei den Themen Sterben, Tod und Trauer um Tabuthemen handelt. Für sie bedeutet „Tabu“ ein Verbot. „Wenn wir zum Beispiel von Inzest sprechen, dann ist das ein Tabuthema. Aber die Themen Tod und Trauer finden in jedem Krimi statt. Es wird also schon darüber gesprochen.“ Aber auch sie ist der Meinung, dass die Themen in der Gesellschaft gemieden werden. Sie glaubt, es sei ein Problem, dass die Menschen heutzutage denken, dass die Medizin alles kann. Aber das stimme nicht ganz. Außerdem fehle es an Ritualen zur Trauerbewältigung. Ihre Großmutter hätte zum Beispiel nach dem Tod ihres Mannes ein Jahr lang schwarze Kleidung getragen. „Viele sehen solche Rituale als Einengung, aber es kann auch ein Geländer sein und als Stütze dienen“, sagt die Soziologin.
Digitale Abschiednahme
Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie wirft die direkte Interaktion allerdings Probleme auf, die auch die Trauerbegleiterinnen sehen. Wie können sie dennoch mit Betroffenen arbeiten? Und wie können Menschen überhaupt Abschied nehmen, wenn der Kontakt zu Sterbenden manchmal nur noch über das Tablet möglich ist?
Sabelus sagt, dass die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten in der Pandemie zwar geholfen hätten, den menschlichen Kontakt langfristig aber nicht ersetzen könnten. Im Hospiz, in dem Pfeffer arbeitet, waren Besuche weiterhin möglich, wenn auch eingeschränkt. Eine andere Möglichkeit, um Trauer zu verarbeiten, ist eine nachträgliche Verabschiedung. Das kann ein Fotoabend mit Erinnerungen an die Verstorbenen oder das Tanzen zu deren Lieblingsmusik sein. Man solle sich dabei die Frage stellen, was einem selbst guttue, wenn man an die Person denkt, sagt Sabelus. Was wäre der verstorbenen Person wichtig gewesen, mit den Angehörigen zu teilen? So könne man genauso gut einen Kneipenabend als Erinnerung organisieren.
Das Thema Schuld spielt laut Pfeffer eine Rolle bei der Trauer um Menschen, mit denen man eng verbunden ist. Vor allem in der Corona-Pandemie machen sich viele Menschen Vorwürfe, weil sie den Sterbenden nicht mehr beistehen konnten. Auch sie selbst hat die Erfahrung gemacht, einen Verwandten in seinen letzten Tagen nicht mehr besuchen zu dürfen. Wann sollte man also mit einer Trauerbegleitung beginnen? Sabine Reichelt überlegt eine Weile, bis sie langsam antwortet: „Ich glaube, dass die Chancen umso besser sind, je eher man anfängt.“
Sabelus sagt, dass es für die Trauer sogar Richtlinien gibt. „Wenn ein halbes Jahr nach dem Ereignis keine Besserung verspürt wird, spricht man von einer Art erschwerter Trauer.“ In der Neuauflage der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, kurz ICD, ist zum ersten Mal das Thema der anhaltenden Trauerstörung erfasst. Die Aufnahme in diese internationale Klassifikation der Krankheiten bedeutet, dass Ärzt*innen Krankschreibungen für diese Symptomatik vergeben und Behandlungen verschreiben können. Der Begriff „anhaltende Trauerstörung“ bedeutet aber nicht, dass die betroffene Person unter einer psychischen Erkrankung leidet. Unter dieser Trauerstörung versteht die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin eine besonders ausgeprägte Trauer, die zudem länger als sechs Monate andauert.
„Trauer hört nicht auf, sie schwächt sich nur ab.“
Die Begleitung endet irgendwann, aber kann mit Trauer auch abgeschlossen werden? „Trauer hört nicht auf, sie schwächt sich nur ab“, sagt Reichelt. Sie glaubt, dass Menschen auch nach vielen Jahren plötzlich von Trauer überrannt werden können, als sei es erst gestern passiert. Daher bestimmen auch die Betroffenen selbst, wie lange sie Trauerbegleitung in Anspruch nehmen möchten.
Sabine Reichelt empfiehlt, sich mit dem Thema Trauer zu beschäftigen, bevor man persönlich davon betroffen ist. Dann könne man von Erfahrungen anderer profitieren. „Ich glaube, wir können uns zu einem gewissen Teil vorbereiten“, sagt sie. Trauer würde uns serviert, darauf hätten wir keinen Einfluss. Aber wenn wir uns als Handelnde wahrnehmen, sei dies wertvoll. Deswegen sollte man ihrer Meinung nach auch nie zögern, jemanden um Hilfe zu bitten. Man sollte bei der Trauer nicht alleine sein, weil es alleine nicht zu schaffen ist.