„Me, Myself and I. Die erste Person Singular steht im Vordergrund und das Wir ist eher im Hintergrund.“
Liebe ohne Label
BING – ein klassisches „Wir sind so happy“-Pärchenbild landet auf meinem Handy. Zu sehen ist eine Freundin und ihr vermeintlicher Mr.Right. Sie strahlt in die Kamera, er umarmt sie von hinten und drückt ihr einen fetten Kuss auf die Wange. Ich freue mich für sie und frage, ob es endlich mal was Festes ist. Drei Wochen später findet sich sein Name in der dunklen Liste ihrer archivierten Chats und es heißt, sie habe momentan gar keine Zeit und Lust, ihre Energie in etwas zu stecken, was eh nichts wird. Ihr Tinder-Profil wird wieder aktiviert und weiter geht die Suche nach dem Traumpartner am Dating-Buffet der unbegrenzten Möglichkeiten.
In einer Welt voller digitaler Ablenkungen und endloser Optionen hat sich das Konzept romantischer Beziehungen drastisch verändert. Ich stelle fest, dass die klassische Frage „Seid ihr jetzt zusammen?“ immer schwerer zu beantworten ist. Situationships scheinen zur Norm zu werden. Diese Beziehungsform zeichnet sich durch Unverbindlichkeit und fehlende Definition aus. Ist sie dem digitalen Zeitalter geschuldet, das uns mit einer Flut von Dating-Apps und immer neuen Möglichkeiten überschwemmt?
Wie das Internet unsere Liebe formt
Während wir in den Weiten des Internets sehnsüchtig nach den perfekten Partner*innen suchen, ist uns kaum bewusst, wie uns Dating-Apps, Instagram oder Pornografie in einer Welt gefangen halten, in der mehr Schein als Sein herrscht. Die Realität verblasst hinter den inszenierten Bildern. Laut einer Parship-Studie vertreten ganze 70 Prozent der 18- bis 29-jährigen Befragten die Meinung, dass Liebe und Partnerschaft heute stärker von äußeren Einflüssen geprägt sind als früher. Zusätzlich gibt fast die Hälfte an, dass vor allem Bilder von glücklichen Paaren in den sozialen Medien ihre Einstellung zu Beziehungen beeinflussen.
Es scheint, dass unsere Vorstellungen von Liebe zunehmend von oberflächlichen Eindrücken anstatt von echten Begegnungen geprägt werden. Situationships, wie ich finde, sind das Ergebnis von Unentschlossenheit, Reizüberflutung und Bequemlichkeit. Die Bereitschaft, an einer gesunden Beziehung zu arbeiten, schwindet. Die Bereitschaft, sich zu verpflichten, nimmt ab. Es scheint, als seien wir schlichtweg zu träge, Zeit und Energie in eine Person zu investieren, wenn hinter dem nächsten Swipe ein vermeintlich noch besseres Match auf uns wartet.
„Wir sind nicht mehr bereit, uns zufrieden zugeben, und wir scheuen davor zurück, Kraft und Energie in etwas zu investieren, was uns vielleicht guttun würde. Das Problem liegt in dieser überwältigenden Auswahl und all den Medien, die wir nutzen. Man möchte sich alle Möglichkeiten offenhalten“, bestätigt meine Freundin Sheyda.
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Alles eine Frage der Priorität
Heike Melzer ist promovierte Fachärztin für Neurologie und ärztliche Psychotherapeutin mit einer Schwerpunktpraxis für Paar- und Sexualtherapie. Sie schildert mir die dramatischen Veränderungen in der Welt des Datings seit dem Aufkommen der sozialen Medien. Früher wurden Beziehungen vor allem analog geschlossen, sei es beim Kennenlernen in der Bar, beim Urlaubsflirt oder im Alltag. Die Suche nach der großen Liebe war wie die Suche eines verborgenen Schatzes in den Tiefen des Ozeans – etwas Aufregendes und Wertvolles. Doch seitdem wir mit dem Smartphone navigieren, hat sich diese Entdeckungsreise vollkommen verändert.
Sie beobachtet, wie immer mehr Menschen heute dazu neigen, feste Bindungen zu vermeiden und sich selbst zu priorisieren. „Me, Myself and I. Die erste Person Singular steht im Vordergrund und das Wir ist eher im Hintergrund“, so Melzer. Sie betont die Digitalisierung, die den Zugang zu einer Vielzahl potenzieller Partner*innen erleichtert hat. Hinzu komme, dass man dem Wunschdenken folge, aus drei Bildern und ein paar gemeinsamen Interessen den passenden Deckel für seinen Topf zu finden.
Situationships beliebter denn je
In einem Jahresbericht von Tinder aus dem Jahr 2022 wird deutlich, dass traditionelle Beziehungsmodelle überholt zu sein scheinen, während Situationships an Popularität gewinnen. Tatsächlich tendieren 49 Prozent der Tinder-Mitglieder häufiger als zum Vorjahr zu diesem Modell. Darüber hinaus gab mehr als jeder zehnte befragte Single an, diese Art von Beziehung zu bevorzugen, um sie mit weniger Druck aufzubauen.
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass sich die Einstellungen und Präferenzen junger Menschen in Bezug auf Beziehungen verändern. Obwohl eine steigende Präferenz für Flexibilität und Unverbindlichkeit zu beobachten ist, gibt es weiterhin junge Leute, die eine klassische Partnerschaft anstreben. Trotzdem wirft diese Entwicklung Fragen über die Langzeitstabilität solcher neuen Beziehungsformen auf.
Die Sehnsucht nach Beständigkeit
Die wachsende Beliebtheit von Situationships zeigt eine zunehmende Offenheit für alternative Beziehungskonzepte. Dennoch höre ich immer wieder die Angst davor, keinen langfristigen Partner zu finden. Betrachtet man die Erstgeburtenrate, so zeigt sich, dass sich der Trend zum Kinderkriegen in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach hinten verschoben hat. Das Statistische Bundesamt Wiesbaden gab bekannt, dass Mütter im Jahr 2020 im Durchschnitt ihr erstes Kind mit 30 Jahren bekamen, während dies in den 1970er-Jahren schon im Alter zwischen 22 und 25 geschah.
Melzer entkräftet jedoch die Angst unserer Generation, nicht die oder den richtigen Partner*in zu finden. Sie erklärt, dass das Bedürfnis nach Freiheit, Abwechslung und Unabhängigkeit nachlassen wird.
„Innerlich spüren viele diesen Wunsch nach Ankommen, einen Hafen zu haben und eben nicht nur zu swipen, wieder eine neue App oder Beziehungsform zu testen. Das kann man eine gewisse Zeit machen, bis man eine Sättigung erfährt.“
Das Bedürfnis nach einem festen Partner ist also nicht verschwunden. Vielmehr setzt sich früher oder später die Erkenntnis durch, dass Unverbindlichkeit doch nicht so toll ist.
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Communication is Key
Ich habe mit acht verschiedenen Menschen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Situationships gesprochen und dabei festgestellt, dass das Wichtigste in einer solchen Beziehung offene Kommunikation ist.
Es sei wichtig, von Anfang an Wünsche, Sorgen und Erwartungen transparent zu machen, um Missverständnisse zu vermeiden.
Natürlich ist diese Art der Liebe ohne Label nicht für jeden geeignet. Für manche Menschen ist die Sicherheit und Stabilität einer festen Partnerschaft unverzichtbar, während andere die Freiheit und Unabhängigkeit einer Situationship bevorzugen. Letztlich kommt es darauf an, dass jeder Mensch seine eigenen Bedürfnisse, Grenzen und Werte kennt, respektiert und sich nicht von scheinbar perfekten Idealbildern aus den Medien beeinflussen lässt.
Der Name der Protagonist*innen wurde teilweise geändert, um die Privatsphäre der betroffenen Personen zu schützen. Die Identität ist der Redaktion bekannt.