Dreimal lautes Klatschen. Einige Menschen blicken von ihren Smartphones auf. „Hallo Karlsruhe! Wir haben gute Nachrichten für euch“, ruft ein junger Mann mitten im Getümmel der Innenstadt in englischer Sprache. Seine Haut ist dunkel, die Haare kurz geschnitten. Er trägt Jeans und ein sportliches Poloshirt. Von außen lässt nichts auf die angekündigten Nachrichten schließen. „Ich möchte euch sagen, dass Jesus euch liebt“, verkündet er mit einem Lächeln im Gesicht. Neben ihm übersetzt ein weiterer Mann fleißig für die Menge. Die meisten Passanten laufen jetzt schnell an ihm vorbei. Viele schauen ihn abwertend an.
Aber all das scheint Jones nicht zu interessieren. Jeden Mittwoch kommen der 37-Jährige und eine kleine Gruppe anderer Mitglieder des Christlichen Zentrum Karlsruhe (CZK) am Europaplatz zusammen, um zu Evangelisieren – also um die Kernbotschaft des christlichen Glaubens zu verbreiten. Eine Praktik, die vor allem von freien Gemeinden besonders ernst genommen wird.
Jones ist in seiner Gemeinde speziell für das Evangelisieren zuständig. Bereits in seinem Heimatland Nigeria sei er regelmäßig auf die Straße gegangen, um das Evangelium zu teilen. „Dort hatten wir auch Trommeln und haben dabei getanzt“, berichtet er. Seit Jones 2015 nach Deutschland gekommen ist, geht er seiner Leidenschaft in Karlsruhe nach.
Und das, so wie heute, auch mitten in der Großstadt: Zwischen Einkaufszentrum, U-Bahnstation und Fastfood-Restaurants steht Jones und predigt seinen Glauben. Die Rede ist von Sünde, Umkehr und vor allem von einer persönlichen Beziehung zu Gott. Jesus könne einen abbringen von schlechten Wegen, den Menschen mit Freude und Liebe füllen.
Den Mut, in der Öffentlichkeit zu predigen, finde er durch den Heiligen Geist. „Das bin nicht ich. Der Heilige Geist ist es, der mir den Mut gibt, vor einer Menschenmenge zu stehen“, erklärt Jones.
Nach der Predigt möchten Jones und seine Begleiter*innen mit Menschen persönlich in Kontakt treten, Fragen beantworten oder für sie beten. Es ist ausgerechnet eine Gruppe von Jugendlichen, die als Erste auf Jones zukommen. „Na Jungs, wie geht's euch, wie heißt ihr?“, begrüßt er die drei. Schnell stellt sich heraus: Die Jugendlichen glauben an Jesus. Das erzählen sie dem Straßenprediger, der daraufhin strahlt. Auf die Frage nach Konfession und Gemeinde berichtet einer von ihnen, dass er und seine Familie katholisch seien. Das sieht Jones wiederum kritisch. Sei es die Kindertaufe oder das Beten zu Maria – all das sei nicht biblisch und somit falsch. Die Bibel sei für die Nachfolger*innen Jesu das direkte Wort Gottes und dürfe nicht verändert werden. Jones überreicht dem Jungen also ein kleines Heft: „Das Evangelium – Gottes gute Botschaft an alle Menschen!“.
Auf den letzten Seiten finden sich aber auch harte Formulierungen. Etwa wenn es darum geht, was mit Menschen, die Jesus nicht angenommen haben, nach ihrem Tod passiert. „Es wird ein Ort der Tränen, der Selbstvorwürfe und der Qualen sein, aus dem es kein Entkommen mehr geben wird – der Feuersee“, heißt es dort. Der Junge solle das Heft auch seinen Eltern zeigen. Außerdem sollen die Teenager die Bibel lesen, dazu animiert Jones immer wieder.
Standhaft trotz Ablehnung
Auf das heitere Gespräch mit den Jugendlichen folgt eine Flaute. Immer wieder versucht Jones, Passanten anzusprechen oder ihnen Visitenkarten mit dem Kontakt zum CZK zu reichen. Doch viele interessieren sich kaum für das, was er zu sagen hat. Manche nehmen im Vorbeigehen eine der Karten entgegen, andere lehnen dankend ab, wieder andere ignorieren den Evangelisten völlig. Lässt sich jemand auf das Gespräch ein, endet es meist schnell. Die meisten können mit seinen Worten nichts anfangen.
Das Desinteresse ist nicht verwunderlich. Laut Statistiken wenden sich immer mehr Menschen in Deutschland von Religion und der Kirche ab. Allein im Jahr 2023 sind rund 800.000 Menschen aus der katholischen oder evangelischen Kirche ausgetreten. Das lässt sich zum einen durch Fehltritte von Amtsträgern der großen Kirchen, wie etwa die zahlreichen Missbrauchsfälle, erklären. Zum anderen lassen sich viele Werte der heutigen Gesellschaft, wie etwa sexuelle Offenheit oder auch die Evolutionstheorie nur schwer mit den biblischen Erzählungen vereinbaren. Eine Umfrage aus dem Jahr 2022 ergab, dass nur noch etwa 19 Prozent der Befragten an einen Gott glauben, der der christlichen Vorstellung entspricht.
Jones lässt sich von der negativen Haltung der Menschen auf der Straße jedoch nicht unterkriegen. Er antwortet stets gelassen mit einem einfachen „Okay“ oder „Alles klar“ oder ruft gelegentlich ein „Jesus liebt dich“ hinterher.
Im Gegenteil, viele hätten ihn kritisiert. Es gehöre dazu, dass Menschen ihn ablehnen und nichts von seiner Botschaft hören wollen. „Ich bete einfach für sie. Dass Gott ihnen hilft und sie die Wahrheit erfahren. Vielleicht sind sie einfach noch nicht bereit. Ich segne sie und mache weiter.“
Seine Ausdauer zahlt sich aus. Ein Jugendlicher, der sein Fahrrad in Jones‘ Richtung schiebt, bleibt stehen, als er angesprochen wird. An einem Arm trägt der 15-Jährige einen Gips. Jones möchte für die Genesung der Verletzung beten.
Nach wenigen weiteren Sätzen kommt er zum Schluss. „Ist es jetzt besser? Kannst du irgendwas tun, das du vorher nicht konntest?“, fragt er den Jungen. Der wirkt ein wenig überfordert. „Der Schmerz ist besser“, sagt er zögerlich. „Aber ich muss ja noch warten. Die Verletzung ist erst vor kurzem passiert“, schiebt er versichernd hinterher. Später erzählt Jones, dass er schon einmal die Beinverletzung eines Mannes mit Krücken vollständig geheilt habe.
Jones und seine Kolleg*innen tauschen sich über das Geschehene aus. Seine beiden Begleiter berichten, dass sie sich lange mit einem jungen Mann unterhalten haben, der vielleicht in die Gemeinde kommen wird. „Manchmal ist es eine einzige Konversation, für die sich der Tag lohnt“, sagt einer von ihnen zufrieden. Ob ihnen die geringe Erfolgsrate etwas ausmacht, merkt man ihnen nicht an.
Aussteiger: „Ich fühlte mich von der Gemeinde unter Druck gesetzt“
Doch nicht alle Mitglieder von Freikirchen empfinden die Evangelisation so positiv. Wie Manuel – fast 30 Jahre lang war er Teil einer freikirchlichen Gemeinde, bevor er sich 2019 schließlich für den Austritt entschied. Heute lebt er verheiratet mit einem Mann und betreibt eine Instagram-Seite, die Probleme von queeren Personen im freikirchlichen Kontext sichtbar machen und die Betroffenen unterstützen soll. Das Evangelisieren war für ihn besonders durch seinen Vater, der selbst Straßenprediger war, präsent. Schon in jungen Jahren wurde er dazu gedrängt, mit in die Fußgängerzone zu gehen. „Mir war das von Anfang an sehr peinlich“, erzählt Manuel. „Ich war schon dafür, zu evangelisieren, aber ich habe das lieber im persönlichen Kontakt gemacht“, sagt er heute. Er fühlte sich von der Gemeinde unter Druck gesetzt, mit auf die Straße zu gehen. Ein „Nein“ sei nicht akzeptiert worden. Noch heute reagiere er mit zittrigen Beinen und Tränen in den Augen, wenn er auf der Straße Evangelisten begegnet.
Jones findet, dass alle gläubigen Christ*innen evangelisieren sollten, da der Auftrag Gottes für alle gleichermaßen gilt. Von einem Zwang hält er jedoch nichts. „Wir als Gemeinde setzen niemanden unter Druck, sondern ermutigen die Mitglieder, die frohe Botschaft in ihrem täglichen Leben zu teilen“, erklärt er. Das könne auch auf der Arbeit, an der Universität oder auch bei Freund*innen und Familie sein. Es gebe viele Möglichkeiten, zu evangelisieren.
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Jones macht sich bereit, ein zweites Mal an diesem Tag laut zu predigen. Die Abendsonne blendet seine Augen. Nach kurzem Zögern, klatscht er abermals in die Hände und beginnt. Seine Worte sind diesmal aber härter. Die Hölle sei echt und Jesus der einzige Weg, ihr zu entkommen. Auch das Publikum hat sich verändert: Viele Menschen bleiben stehen und hören zu. Besonders ein Mann mit Anzug und Aktentasche, der bis zum Ende der Predigt bleibt, fällt auf. Später erzählt er, dass er seine Bahn verpasst habe, um Jones zu lauschen. Er empfinde die Arbeit der Evangelisten als äußerst positiv. „Menschen, die miteinander interagieren, das fehlt mir in der Gesellschaft“, sagt er. Dass es dabei um Glauben geht, sei nur zweitrangig. Er unterhält sich lange mit Jones und erzählt, dass er sich gerade in einem Prozess zurück zum Glauben befinde. „Du hast ein Herz für die Menschen. Wenn du Jesus folgst, wird Gott dich nutzen, um die Menschen zu erreichen“, sagt Jones.
Ist Straßenpredigen übergriffig?
Diakon Göran Schmidt von der Evangelischen Landeskirche in Baden sieht Straßenevangelisation trotz der scheinbaren Wirksamkeit kritisch: „Menschen, die keine Zeit oder kein Interesse haben, mit der christlichen Botschaft zu konfrontieren, das empfindet die evangelische Kirche als übergriffig“, sagt er. Auch die Evangelische Kirche möchte in der Öffentlichkeit präsent sein und Menschen erreichen, nur eben weniger offensiv. Ein Beispiel sei das Projekt „Stille2go“, bei dem am Karlsruher Hauptbahnhof Ohrenstöpsel verteilt wurden. Die Verpackung führt zu einer Webseite mit Impulsen für einen ruhigen Moment im Alltag. Natürlich freue man sich, wenn Menschen so zum christlichen Glauben finden. Das sei jedoch nicht das primäre Ziel solcher Aktionen. Schmidt ist aber wichtig zu betonen, dass auch freie Gemeinden tolle Projekte dieser Art hätten.
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Jones sieht in seinen Auftritten kein Problem. Für ihn seien sie weder aufdringlich noch abschreckend. In Deutschland gebe es schließlich die Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit. „Wenn ich rede und es gefällt jemandem nicht, hat er das Recht einfach weiterzugehen. Das ist mir egal“, sagt er. Dass Jones kein Blatt vor den Mund nimmt, zeigt sich auch im letzten Gespräch an diesem Tag. Es ist eine Diskussion mit einem Muslim, die immer hitziger wird. Die Bibel sei verfälscht, der Islam keine friedliche Religion. So geht es mehr als 90 Minuten. „Wir werden uns im Paradies sehen“, sagt der Mann irgendwann, um die Situation zu entschärfen. Schweigen. Die Mitglieder der freien Kirche beharren darauf, dass ihr Glaube der einzige Weg ist, um in den Himmel zu kommen. Es ist eine Überzeugung, die durch nichts erschüttert werden kann. Es ist fast 21 Uhr, als sie das Gespräch beenden. Eigentlich wollte die Gruppe ihren Einsatz schon vor zwei Stunden beenden. Trotz der langen Diskussion wirkt das Team zufrieden. „Vielleicht träumt er noch heute von Jesus“, sagt eine der Gläubigen hoffnungsvoll.
Beide Protagonisten wollten ausdrücklich nur beim Vornamen genannt werden. Die vollen Namen sind der Redaktion bekannt.
Alle Bilder wurden von der Autorin selbst aufgenommen.