„Lustigerweise habe ich schon immer gesagt, bevor ich unsere Beziehung aufgebe, machen wir zusammen Paartherapie.“
Liebe allein reicht nicht immer aus

Im Frühjahr letzten Jahres stand Charlotte* eines Morgens in ihrer gemeinsamen Wohnung und fragte Niklas*: „Hey, du wirkst für mich komisch die letzten Wochen, denkst du über eine Trennung nach?“ Von ihm kam das „Ja“. Schon länger war er unglücklich, aber fand nie die Worte, ein Problem anzusprechen. Oder was die eigentlichen Probleme überhaupt waren. „Ich habe mich in der Beziehung unglücklich gefühlt, aber wusste selbst nicht, was los ist“, erzählt mir Niklas nachdenklich. Lag die Unzufriedenheit auf beiden Seiten? Auf Niklas Antwort „Ja, ich glaube auf beiden Seiten“, schüttelt Charlotte nur hektisch den Kopf. „Nein, das war überhaupt nicht auf beiden Seiten.“ „So gar nicht? Null Prozent?“ „Ne, tatsächlich war das für mich ein Schlag in die Fresse.“ Dabei fing alles so gut an.
Zueinander fanden die beiden im Jahr 2018 über die Studentenapp „Jodel“. Eine App, in der man anonym Kurztexte schreiben kann. Umkreisbasierend werden einem andere Texte vorgeschlagen, die man hoch- oder runterwählen kann. Chatfunktion gibt es keine. Für Charlotte und Niklas reichte es aber kurz die Namen auszutauschen.
„Als wir zusammengekommen sind, war ich kurz vor meinem 17. Geburtstag und Niklas war 21“, verriet mir Charlotte lächelnd und auch Niklas muss schmunzeln. Nach ungefähr einem Monat kamen sie zusammen und sind nun seit sechs Jahren ein Paar. Die kurzzeitige Trennung im März 2023 gab den beiden jedoch einen Denkanstoß, der ihre Beziehung grundlegend veränderte.
Die erste Woche nach der Trennung verlief still. Zumindest von Niklas Seite. Nach zwei Monaten suchte Charlotte das Gespräch. „Ich war schon sehr hartnäckig. Das war kein richtiges Ende für mich, weil ich bis dato immer noch nicht den Grund für die Trennung wusste.“ Einige Male trafen sich die beiden zum Spazierengehen und versuchten über die Probleme zu reden. Angekratzt wurde nur die Oberfläche. „Ich akzeptier das so nicht, ich möchte, dass wir miteinander reden“, schildert Charlotte und schlug eine Paartherapeutin vor. Niklas bejahte diesen Vorschlag und sie vereinbarten einen ersten Termin.
Zwei Tage vor dem Termin stand eine Verabredung für das Streetfoodfestival in Heilbronn an. Kurz vorher kam Niklas bei Charlotte vorbei und entschuldigte sich. Er würde es auch nochmal versuchen wollen. Jetzt auch von sich aus.
Seit einem dreiviertel Jahr ist das Paar nun in einer Paartherapie. Dabei hielt Niklas recht wenig von dieser Option. „Anfangs war ich nicht ganz überzeugt, weil die Trennung ursprünglich von mir aus ging“. Charlotte erwog diese Option bereits eineinhalb Monate vor der eigentlichen Trennung, als in der Beziehung etwas angefangen hat, nicht zu stimmen. „Lustigerweise habe ich schon immer gesagt, bevor ich unsere Beziehung aufgebe, machen wir zusammen Paartherapie.“ Der erste Termin stand bald an. Und Niklas wollte dem Ganzen zumindest eine Chance geben. „Mehr wie schiefgehen kanns nicht“.
Alles hat ein erstes Mal
Gefühlstechnisch war es ein wildes Durcheinander, auf beiden Seiten. „Ich geh da jetzt rein und ich weiß absolut nicht, was mich die nächsten anderthalb bis zwei Stunden erwartet“, denkt Niklas zurück. Bei Charlotte war die Angst vor der ersten Therapiesitzung ähnlich. „Aber auch die Angst, was man vom Partner alles erfährt. Nicht unbedingt die Angst vor der Therapeutin, aber eher ‚Was sagt mein Partner über mich?‘“
„Wir sind, glaube ich, beide aus der ersten Therapiesitzung rausgelaufen, haben uns angeschaut und gefragt: Ist jetzt komplett Schluss oder machen wir weiter? Und dann haben wir beide gemeint: Ne, wir machen weiter“, sagt Charlotte. Diese Sitzung bestärkte das Gefühl, wieso beide da sind. Tief atmete Niklas ein, als würde ihm eine Last von den Schultern fallen. Vielleicht auch ein Stück der Anstrengung. „Dementsprechend [kamen wir] fertig raus, von wegen ‚Jetzt muss ich erst mal eine rauchen.‘“
Bei ihrer Paartherapeutin Dimple Goertz verläuft eine Sitzung meist so ab, dass zuerst gefragt wird, wie es einem geht und wie die letzten Wochen seit der letzten Sitzung aussahen. Alle zwei bis sechs Wochen treffen sich das Paar und Goertz in ihrer Praxis. Anfangs beide zusammen, nach einiger Zeit einzeln. Ist ein Thema dringend, wird das zuerst angesprochen. Falls keins vorliegt, wird am Thema vom letzten Mal weitergearbeitet.
Oft kriegen beide eine Aufgabe für zu Hause, um auch außerhalb der Praxis an ihrer Beziehung zu arbeiten. Eine davon ist, einen festen Termin mit fester Uhrzeit auszusuchen und eine Stunde lang über ein Thema zu reden. Beide sollen eins mitbringen, mit der Bedingung, dass das Wort „Du“ nicht verwendet werden darf. Anstatt „Es stört mich, dass du die Spülmaschine nicht richtig einräumst", kann man „Du“ mit „Mein Partner“ auswechseln. So sollen keine Anschuldigungen formuliert werden. Eine gute Möglichkeit Konflikte anzusprechen, die auch etwas länger zurückliegen.
Die Kunst den Menschen zu verstehen
Neben praktischen Aufgaben für zu Hause konzentriert sich die Paar- und Sexualtherapeutin Dimple Goertz besonders auf die systemische und emotionsfokussierte Therapie. Bei Charlotte und Niklas stützt sie sich nicht nur auf die therapeutischen Ansätze, sondern bietet auch das Paarcoaching an. Den therapeutischen Ansatz zur Aufarbeitung von Vergangenem. Das Coaching für zielorientierte Lösungen. In den meisten Fällen beides zusammen.

Unter „systemischer Paartherapie“ versteht man ein psychotherapeutisches Verfahren, in dem Menschen als Teil eines Systems betrachtet werden. Das System kann dabei Familie, Schule/Uni als auch das Arbeitsumfeld sein. Alle Personen hängen daher unmittelbar miteinander zusammen. Verändert sich etwas im System, wirkt sich dies auf alle Mitglieder im System aus. Daher führt man Probleme einer Person nicht auf sie selbst, sondern auf eine Störung im System zurück und versucht diese innerhalb des Systems aufzudecken und zu behandeln.
Quelle: NetDoktor
„Emotionsfokussierte Therapie“ (EFT) ist ein Psychotherapieansatz, der Emotionen als Grundlage menschlicher Erfahrungen sieht. Es gilt die Annahme, dass Emotionen das Denken und Verhalten beeinflussen, und man mit Emotionen direkt arbeiten kann, um diese zu verändern. Man lernt in einem sicheren Umfeld besser mit eigenen Emotionen und Emotionen anderer umzugehen. Dies beinhaltet auch, wiederkehrende schmerzhafte Emotionen dauerhaft zu verändern, die sonst zu nachfolgenden Schwierigkeiten in den Beziehungen einer Person führen können.
Quelle: DeGEFT
Vorwiegend nimmt Goertz zwei Termine als Paar wahr, danach folgen Einzeltermine. Die Gründe, wieso Leute zu ihr kommen, variieren. „Leute kommen ja oft, wenn was zu Ende gegangen ist, mit dem Wunsch: Wir wollen wieder zurück, wo es mal war, so ganz romantisch an die Anfänge der Beziehung.“
Worauf es im Umgang mit solchen Konflikten ankommt, ist vor allem eine wertschätzende und neutrale Haltung. „So eine offene Grundhaltung. Egal mit welchen Themen die Leute kommen. Das hat alles seine Berechtigung und es ist alles normal. Jeder findet und hat seinen Platz verdient.“ Doch Scham ist nicht der einzige Grund, wieso es manchen Klienten so schwerfällt, sich wirklich fallen zu lassen. „Ohne jetzt in Klischees sprechen zu wollen, aber ich habe zum Beispiel persönlich erlebt, dass es eher Männern schwerfällt, Gefühle zu verbalisieren.“ Eine kleine Abhilfe schafft Goertz, indem sie Emotionskärtchen in den Sitzungen anwendet. Durch die Karten, die mit Emotionen beschriftet sind, könnten ihre Klienten leichter Emotionen ausdrücken. Das Bedürfnis sei schließlich da, nur wurde es vielen nie beigebracht, über die eigenen Bedürfnisse zu sprechen.
„So eine offene Grundhaltung. Egal mit welchen Themen die Leute kommen. Das hat alles seine Berechtigung und es ist alles normal. Jeder findet und hat seinen Platz verdient.“
Schweigen ist auch eine Antwort
Es fängt alles häufig im eigenen Elternhaus an. Niklas als auch Charlotte können davon ein Lied singen. Wahrscheinlich verlief deshalb die Kommunikation bei beiden ruhig. „Entweder war es unsensibel oder gar nicht“, entgegnet Niklas. Ruhiges Ansprechen gab es nicht. „Es gab entweder direkt ‚Boah, das kotzt mich voll an, was du da machst‘ oder man hat es gar nicht erst angesprochen.“ Charlotte nickt zustimmend. „Ein Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung, wenn man so möchte.“ Dabei war meistens Charlotte wütend, zog sich einige Stunden zurück oder schlief eine Nacht drüber. Möglichst viel Gras über die Situation wachsen lassen. Es wurde alles getan, um eine Aussprache zu vermeiden. Da hat keiner mehr Schuld als der andere, schließlich lebten die eigenen Eltern das so vor. „Wenn man schon zuhause lernt ‚Wenn ich ein Problem anspreche, werde ich sowieso nicht ernstgenommen‘“, entgegnet Charlotte. „Oder es gibt nur noch mehr Ärger.“
Nicht überraschend, dass sich auf beiden Seiten emotionaler Druck anstaut. Viele wissen entweder nicht, wie ein Problem angesprochen werden soll, oder verwehren dem Partner eine Antwort. Klassischer Liebesentzug, wie Heilpraktiker Luis Kimyon findet. Er ist ebenfalls Paartherapeut und steht im häufigen Austausch mit Dimple Goertz. Seine Stuttgarter Praxis deckt neben Paartherapie auch Sexual- und Psychotherapie ab. „Liebesentzug, in dem ich gar nichts mehr sage, ist gewaltvoll. Eine stille Gewalt, wo viele denken: ‚Das macht doch nichts‘. Die nächste Stufe wäre die Machtdemonstration, weil ich gerade weniger will und dadurch eine Macht ausübe.“

Es ist nie zu spät
„Es hätte nicht geschadet, die Hilfe früher in Anspruch zu nehmen. Dann hätte man sich die Trennung usw. erspart.“ Charlotte zieht aus der Therapie dennoch eine positive Veränderung. Der Umgang ist feinfühliger geworden. Das Augenmerk lag vermehrt darauf, dass aneinander vorbeigeredet anstatt miteinander geredet wurde. Vieles war nicht konstruktiv. Mittlerweile sind beide ziemlich gut darin zu sagen, was ein Problem ist, ohne dem anderen etwas an den Kopf zu werfen. „Das gabs halt vorher gar nicht.“ In ferner Zukunft hofft das Paar, an den Punkt zu gelangen, wo sie sagen können „Ab hier schaffen wir das alleine“. Jemand, der trotzdem ab und zu ein Auge auf sie hat, hätten sie trotzdem gerne. Auch wenn es bloß einmal alle drei Monate ist.
Für Kimyon nicht überraschend zu hören. Er beobachtet eine wachsende Tendenz von jungen Menschen, die sich mehr mit Persönlichkeitsentwicklung und der bedachten Partnerwahl beschäftigen. Gerade in Krisenzeiten wie einst Corona sucht man Sicherheit in Beziehungen – egal ob in der Partnerschaft oder der Familie. In einer Statista Umfrage aus 2021 geben rund 60 Prozent der 18-29-Jährigen an, während der Pandemie mehr Zeit als sonst mit ihrem Partner verbracht zu haben. Mehr Beziehungsprobleme sind daraus nicht resultiert. Im Gegenteil, jedes fünfte Paar sei durch die Pandemie näher zusammengeschweißt worden.
Auch hätte sich Corona kaum auf die Zahl der Scheidungen ausgewirkt. Mit Ausnahme von 2019, ist diese kontinuierlich gesunken. 2022 sank diese um 3,8 Prozent zum Vorjahr. Es gab sogar rund 33 Tausend mehr Eheschließungen als im vorherigen Jahr.
Heiraten steht auch auf der To-do-Liste von Charlotte und Niklas. Momentan leben sie nicht beieinander. Das soll sich jedoch mithilfe der Paartherapie in Zukunft ändern. Was anderes würden beide auch nicht wollen. „Das Ziel wäre es bei uns schon, dass man wieder zusammenzieht und ein gemeinsames Leben hat und keine zwei getrennten Leben.“
*Sowohl aus Datenschutz- als auch aus persönlichen Gründen wurden die Namen der Protagonisten geändert.