„In meiner Jugend wollte ich immer feiern, ich wollte immer saufen und kiffen. Ich war auch ein stolzer Raucher.“
Leben jenseits des Rausches
Der Geruch von Desinfektionsmittel und Kaffee füllt das Tattoostudio. Auf einer Liege: Ari. Er lässt sich ein Versprechen tätowieren. Ein römisches X, direkt auf den Daumen. Da sieht der 28-Jährige es jeden Tag bei seinem Bürojob in einem Berliner Startup. Das X steht für Straight Edge, auch sXe genannt. So nennt man eine spezielle Form von Punk und Hardcore, bei der die strikte Abkehr von Alkohol und anderen Drogen im Vordergrund steht.
Vier Jahre lebt Ari schon so. Das ist für ihn nicht selbstverständlich. „In meiner Jugend wollte ich immer feiern, ich wollte immer saufen und kiffen. Ich war auch ein stolzer Raucher.“ Jahrelang konsumiert er fast täglich Cannabis – obwohl er an chronischem Asthma leidet. „Manchmal bin ich morgens aufgewacht und habe keine Luft bekommen.“
Mit Anfang zwanzig zieht es Ari nach Berlin. Er wird Sänger einer Hardcore-Band, deren Bassist Teil der Straight Edge Szene ist. Auf einmal ist Ari der Einzige, der im Proberaum ein Bier trinkt und Raucherpausen einlegt. Da kommen erste Zweifel auf: „Ich habe gedacht: ,Muss ich jetzt echt rauchen gehen?‘“ Als er zwei, drei Mal nach einer langen Partynacht eine Bandprobe verschläft und mit Schuldgefühlen kämpft, beschließt er, mit Bassist Sebastian auf sXe-Art feiern zu gehen. Mal zu sehen, wie das so ist. „Wir waren bis vier unterwegs. Ich hatte nichts konsumiert, kein Kiffen, null Alkohol. Es war ein sehr schöner Abend. Das werde ich nie vergessen.“ Es wird der Katalysator, der Start in ein neues Leben.
Er beschließt: Schluss mit den Drogen. Anfangs zweifelt er. „Ich hatte Angst, ich werde jetzt langweilig.“ Den Umstieg schafft er Stück für Stück. Erst hört er auf zu rauchen, danach kappt er den Alkohol. Als letztes lässt er auch den Konsum von Cannabis sein und merkt, dass er bis auf das abendliche Kiffen kaum Gemeinsamkeiten mehr mit seiner Partnerin hat. Er trennt sich. Auch in anderen Beziehungen kriselt es aufgrund seines neuen Lebensstils: „Es gab Freunde, die habe ich dadurch verloren. Ich habe gemerkt, es war nur eine Beziehung, weil wir zusammen getrunken haben.“
Der Kulturwissenschaftler Jörg Scheller ist Straight Edge-Forscher und Mitglied. „Als Straight Edger erlebt man im Alltag ständig Mikrokonflikte,“ sagt er. Die gesamte deutsche Ausgangs- und Feierkultur basiere auf Alkohol. Wenn man als einziger Nichttrinker mit in die Kneipe geht, „dann ist nach zwei, drei Bier der Rest der Gruppe auf einem ganz anderen Planeten.“ Dann fühlen sich die Nüchternen oft unwohl.
Auch bei Ari hat es Jahre gedauert, bis er gelernt hat, dass er nicht konsumieren muss, um Spaß zu haben. In manchen Situationen ist es ihm heute noch unangenehm, nein zu sagen. „Mein Opa versteht nicht, dass ich nicht mit ihm saufen will.“
Mehr als nur Verzicht
Deshalb grenzen manche sXer sich bewusst von Leuten, die Suchtmittel konsumieren, ab. Scheller nennt die Szene exklusiv, manchmal auch elitär. Nur wer die Regeln befolgt, kann Teil dessen sein. Das heißt: mindestens drogenfreies Leben, oft auch Veganismus, umweltfreundliches Verhalten und politische Korrektheit. Man könne sich nicht als Straight Edge bezeichnen und „lustig Alkohol trinken und noch nie Hardcorepunk gehört haben,“ findet Scheller. Denn Straight Edge sei keine Ästhetik, sondern eine Praxis. Dabei gehe es auch darum, ein „mündiges“ Leben zu führen – eigene Entscheidungen zu treffen.
„Man kann sich nicht als Straight Edge bezeichnen und lustig Alkohol trinken und noch nie Hardcorepunk gehört haben."
So nimmt es Ari auch wahr: „Ich habe begriffen, dass Konsum eine bewusste Entscheidung ist.“ Er habe großen Respekt vor Allen, die diesen Weg gehen.
Während andere Alkohol trinken oder Marihuana rauchen, um sich zu entspannen, müssen Straight Edger die Entspannung selbst erzeugen. Dadurch führe der Lebensstil zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Welt. „Man sieht, wie viel auf exzessivem Konsum und auf legalisierten Drogen beruht,“ sagt Scheller. Die Forschenden Andreas Heinz und Laura S. Daedelow bezeichnen Alkohol als kulturell tief verankerte und allgegenwärtige Droge.
Das ist einer der Gründe, wieso Straight Edge entstanden ist: In den 80er Jahren habe sich der Punk durch exzessiven Drogenkonsum und Kommerzialisierung selbst kaputt gemacht. Gleichzeitig wurden im amerikanischen Bürgertum Werte der Reinheit gepredigt, aber nicht eingehalten. Die Band Minor Threat hatte all das – den Doppelstandard, die Kommerzialisierung, den Konsum – satt. Ihr Song „Straight Edge“ gibt der Bewegung ihren Namen. Die Band Youth of Today verbreitete die Ideale in ihrer Heimat New York und wurde Teil einer neuen Generation der Szene. Die zuvor losen Regeln wurden deutlicher definiert – als Vorbild dienten die Zeilen eines Minor Threat Songs: „Don't drink, don't smoke, don't fuck.“
Man wolle diesen beiden Seiten, Punk und Bürgertum, einen „Zerrspiegel vorhalten“ und so das Weltgeschehen kritisieren, so Scheller. Dabei ist der Grundgedanke ein Konstruktiver: „Positive Mental Attitude“ ist ein bekanntes sXe Motto. Gegenseitige Unterstützung wird großgeschrieben. Mit Liedern wie „Start Today“ oder „True Till Death“ wird Mut gemacht.
Aktuelle Werte zur Anzahl deutscher Straight Edger liegen zwar nicht vor, der Konsum von Zigaretten und Alkohol in Deutschland ist in den letzten 30 Jahren aber deutlich gesunken. Möglicherweise auch, so Scheller, weil viele Prinzipien aus dem Straight Edge in den Mainstream eingeflossen seien.
Der Kulturwissenschaftler vermutet, dass vor allem junge Männer dieses rauschfreie Leben wählen. Denn sie seien auf der Suche nach einer starken, verbindlichen Identität. Außerdem sei sXe eine sehr körperbetonte Subkultur. Keine Drogen zu nehmen, soll helfen, das volle Potenzial der eigenen körperlichen Fitness zu nutzen. Auf Konzerten gehe es mitunter aggressiv zu. Dies ziehe vor allem Männer an. In den USA seien die meisten Mitglieder der Szene weiß, mittelständisch, männlich und jung, sagt der amerikanische Forscher Ross Haenfler.
Ruhe in einer lauten Welt
Der Höhepunkt der sXe-Bewegung in Deutschland war in den 90ern und 2000ern. Trotzdem findet die Szene auch heute stets neue Mitglieder. Woran das liegen könnte? „Wir befinden uns in einer Zeit, die ungemein pluralistisch und divers ist. Man muss sich permanent orientieren und Entscheidungen treffen. Straight Edge bietet Verbindlichkeit und Orientierung“, meint Scheller.
Trotz der Konflikte geht es vielen besser und sie erfahren ein Gefühl des Erwachsenseins, so Scheller. Nach übermäßigem Konsum bringe sXe endlich Ruhe in das Leben.
Ari zieht sehr viel aus diesem Lebensstil: „Man findet andere Sachen, die einem gefallen. Ich find es cool, an einem Sonntag fit zu sein. Ich find es cool, früh um sieben aufzustehen und mit dem Hund in den Grunewald zu fahren. Das finde ich wirklich erwachsen.“