Leihgroßeltern 9 Minuten 

Von Fremden zur Familie 

Eine ältere Dame sitzt zusammen mit einem Jungen und seiner Mutter auf dem Sofa.  |  Quelle: Alice Kärcher 
Irmgard Tinz, Levi und Anett Engel sind seit fast zehn Jahren unzertrennlich. | Quelle: Alice Kärcher 
29. Febr. 2024

Auch wenn sie nicht verwandt sind, verbindet Levi und seine Mutter eine innige Beziehung mit Irmgard Tinz. Jeden Freitag kommt der 13-Jährige nach der Schule zu seiner „Stuttgarter Oma“. Warum es Großelternprojekte gibt und wie sie Generationen vereinen – eine Reportage.

Drei Teller, Gläser, Messer und Gabeln stehen bereit, das weiße Tischtuch faltenfrei drapiert. Im ganzen Haus riecht es nach selbstgemachter Pizza. Vorsichtig trägt Irmgard Tinz das Holzschneidebrett von der Küche durch den Flur ins Wohnzimmer und stellt es auf den Esstisch: Margherita mit Rucola, frisch aus dem Ofen, die Stücke für die hungrigen Gäste schon geschnitten.

Levi tritt lächelnd ins Zimmer, in den Händen eine Schüssel Gurkensalat, die er routiniert auf dem Tisch platziert. Seine Mutter Anett Engel kommt ihm hinterher, eine weitere Schüssel in der Hand, Feldsalat. Jetzt ist das Essen komplett, die Tischbesetzung auch. Levi sitzt rechts neben Irmgard Tinz, Anett Engel ihr gegenüber. Es ist Sonntag, 13.00 Uhr in Stuttgart-Weilimdorf. Zeit fürs Mittagessen.

Als Jüngster bekommt Levi das erste Stück Pizza. Auf seinem Teller gesellt sich schnell der Gurkensalat dazu, den er selbst gemacht hat. Irmgard Tinz legt ihm zielstrebig ein zweites Stück Margherita drauf, bevor er mit dem ersten anfangen konnte. 

So ist das eben bei der „Stuttgarter Oma“. Sie freut sich immer, wenn ihr Leihenkel und seine Mutter zu Besuch kommen. Ihre eigenen Enkel, sechs Jungen, wohnen weit weg. Mit Levi hat sie den „siebten Buben“. Im September ist es zehn Jahre her, dass Irmgard Tinz und ihre Feuerbacher Familie zusammengefunden haben. 

Leihenkel?

Dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung zufolge wohnt nur bei 18 Prozent der Kinder bis zehn Jahren ein Großelternteil in der Nähe. 

Damit sie trotzdem mit einer Oma oder einem Opa aufwachsen, gibt es deutschlandweit verschiedene Großelternprojekte. Je nach Standort oder Leitung heißen sie anders: Wunschgroßeltern, Patengroßeltern, Leihgroßeltern. Die Initiativen richten sich an Senior*innen, die Erfahrung mit Kindern haben. Sie müssen nicht selbst Großeltern sein, oft engagieren sich aber Menschen, deren eigene Enkelkinder nicht in ihrer Nähe wohnen.

Auch das Leihgroßeltern-Stuttgart-Team bringt Leihomas- und -opas mit Familien zusammen. Die Initiative vermittelt interessierte Senior*innen an Alleinerziehende oder Familien, bei denen die Großeltern weit weg leben.

Die Leihgroßeltern Stuttgart ist eine Initiative, die seit 1990 von Ehrenamtlichen geleitet wird. Das Projekt gehört zur evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) und dem Treffpunkt 50plus. 

Quellen: eva Stuttgart, Treffpunkt 50plus

Ziel der Initiativen ist es, dass Kinder mit einer weiteren Generation aufwachsen. Gleichzeitig binden Großelterndienste Senior*innen sozial in Familien ein. 

Auch der alleinerziehenden Anett Engel war es wichtig, dass ihr Sohn diese Erfahrung macht. Seine beiden Omas und eine Uroma leben in Ostdeutschland. Zu weit weg, um sie regelmäßig zu sehen. „Dementsprechend fand ich es wichtig, dass er diese Generation auch im Alltag miterlebt.“

Das Angebot der meisten Leihgroßeltern-Vermittlungen richtet sich an jüngere Kinder bis maximal sechs, teils auch sieben oder acht Jahre. Leihomas und -opas betreuen die Kleinen in der Regel ein- bis zweimal pro Woche für je zwei bis drei Stunden. Wie oft die Senior*innen die Kinder sehen, machen sie individuell mit den Eltern aus. „Wir haben Großeltern, die haben heute noch zu ihren jetzt schon jugendlichen Enkeln Kontakt“, freut sich Wolfgang Bohn von den Leihgroßeltern Stuttgart. Gemeinsam mit Ehefrau Heidemarie Bohn ist er seit 2010 Teil des Teams. 

Gesucht und gefunden 

Levi ist auch schon 13 Jahre alt. Die Zeitungsannonce von 2014, mit der alles begann, hat Irmgard Tinz heute noch. Das Papier ist schon leicht vergilbt und an den Rändern zerknittert. Die Weilimdorferin lächelt immer, wenn sie den in die Jahre gekommenen Zettel anschaut. Es erinnert sie daran, wie Levi und Anett Engel Teil ihres Lebens wurden. „In der Zeitung habe ich eine Annonce gelesen, ,Zeit und Herz zu verschenken’ und das hat mich sofort angesprochen. Dann habe ich mich gemeldet, das war das Jugendamt, das hat damals vermittelt, und dann hat es einfach gestimmt zwischen uns“, erinnert sich Irmgard Tinz. Dabei guckt sie Anett Engel liebevoll an. „Für mich bist du wie eine Tochter und Levi wie ein Enkelkind.“

Auch Anett Engel schwelgt in Erinnerungen. „Es ist dann auch so gewachsen, dass daraus zwischen uns Frauen eine Freundschaft entstanden ist.“

Mehr als nur ein Arrangement 

Eine Koordinatorin des Elternseminars Stuttgart hat Levi und seine Leihoma zusammengeführt. Anett Engel ist heute noch überzeugt: „Die Chemie hat gepasst.“ Vom Patenschaftsprogramm Zeit und Herz haben die beiden Frauen ihre Nummern bekommen und sofort miteinander telefoniert. 

Das Patenschaftsprogramm Zeit und Herz gehört zum Elternseminar des Jugendamtes Stuttgart. Mitarbeitende des Programms bringen Ehrenamtliche mit Patenfamilien zusammen, um sie im Alltag zu unterstützen.

Quelle: Elternseminar Stuttgart 

Es dauerte nicht lange, bis sie sich persönlich trafen. „Da hatte ich gleich ein bisschen Herzklopfen, dachte, ,oh je, was kommt auf mich zu’, aber das hat ja eigentlich gleich funktioniert“, sprudelt es aus Irmgard Tinz heraus. „Wir haben uns zu dritt bei der Anett in der Wohnung kennengelernt“, erinnert sie sich. „Ja, Levi, wie wir zum Spielplatz sind und du bei den Wasserspielen gespielt hast, weißt du das noch?“

Der 13-Jährige war damals zu klein, um alle Details im Kopf zu haben, aber seine Leihoma hat diesen Tag noch genau vor Augen. „Kann sein, aber ich wäre mir gerade auch nicht mehr sicher“, antwortet Levi nachdenklich. 

 „Wir waren uns von der ersten Minute an nicht fremd.“

Irmgard Tinz

Das erste Treffen machte aus drei Unbekannten schnell Vertraute. „Wir waren uns von der ersten Minute an nicht fremd.“

Der Weg zur Leihgroßelternschaft  

Die beiden sind kein Einzelfall. Heidemarie Bohn erklärt, dass auch beim Leihgroßeltern-Stuttgart-Team Senior*innen und Familien sich oft sofort gut verstehen. „Wir haben momentan etwa 800 Betreuungsstunden im Jahr“, weiß Wolfgang Bohn. Frauen engagierten sich dabei öfter: „35 bis 40 Prozent sind Männer“, ergänzt er.

Bevor Eltern, Enkel*in und Leihoma oder -opa aufeinandertreffen, führt das Stuttgarter Team ein Erstgespräch mit interessierten Bewerber*innen, um einen persönlichen Eindruck von den Menschen zu erhalten. Leihgroßeltern müssen auch ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. In einem Formular geben sie an, was sie mit den Kindern gerne unternehmen würden. Interessierte Familien füllen im Elternbogen aus, wie alt ihr Kind ist und wie oft es betreut werden soll. Bei der Vermittlung achten Organisationen darauf, dass Leihgroßeltern die Familien gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen und sie nah beieinander wohnen.

Das ist auch bei Anett Engel und Irmgard Tinz der Fall. Im Sommer fahren Levi und seine Mutter mit dem Fahrrad von Feuerbach nach Weilimdorf.

Sind alle Unterlagen komplett und per Mail eingetroffen, sucht Heidemarie Bohn nach einem Perfect Match. „Ich kenne alle Leihgroßeltern. Ich weiß dann, wer was sucht.“ In zwei kostenlosen Betreuungsstunden können sich Familien und Senior*innen „beschnuppern“, wie Wolfgang Bohn das erste persönliche Treffen nennt.

Wenn ein festes Betreuungsverhältnis zustande kommt, zahlen die Eltern acht Euro fünfzig pro Betreuungsstunde an die Stuttgarter Vermittlung. Die Leihgroßeltern erhalten eine Ehrenamtspauschale, der Rest geht in die Verwaltung. Je nach Projekt bekommen Leihomas und -opas eine solche Aufwandsentschädigung. 

Für Irmgard Tinz war klar, dass sie sie nicht annehmen möchte. „Das Geld brauche ich doch nicht, ich mach das doch, weil ich’s will.“

Generationen vereinen

Laut dem Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik sind Beziehungen verschiedener Generationen außerhalb der eigenen Familie eher selten. 

Die Familien der beiden Frauen kennen sich seit einigen Jahren und verstehen sich gut. „Anfangs hab da eher ich ein bisschen Bammel gehabt: Wie reagieren sie jetzt? Aber die sind auch ziemlich locker drauf“, erinnert sich Irmgard Tinz daran, wie ihre Kinder Anett Engel und Levi das erste Mal getroffen haben. Ihre sechs Enkel fühlen sich nicht zurückgestellt. „Die lieben den Levi alle. Also da glaube ich, ist überhaupt keine Eifersucht.“

Auch wenn die Familien der beiden kein Problem mit ihrer Freundschaft haben, reagiert ihr Bekanntenkreis nicht nur positiv, besonders bei Irmgard Tinz. „Also die sind eher eifersüchtig, dass ich eine junge Freundin hab.“

Davon lassen sich die zwei nicht beirren. Sie sind dankbar, voneinander zu lernen. „Das ist ja nicht nur die Lebenserfahrung, sondern auch der andere Blick auf die Sache“, bedenkt Irmgard Tinz. „Genau, wenn sie jetzt Probleme mit ihrer Tochter hat und ich mit meiner Mama, kann man sich austauschen, aber auf einer neutralen Ebene“, ergänzt Anett Engel. Ihren Erfahrungen nach ist es wichtig, dass verschiedene Generationen zusammenkommen. So hat Levi eine Leihoma und Anett Engel eine wichtige Bezugsperson dazugewonnen.

„Wenn man alt ist, kommt man einfach meistens nur mit Älteren zusammen.“

Heidemarie Bohn

Auch Heidemarie und Wolfgang Bohn sind überzeugt, dass Jung und Alt voneinander einiges mitnehmen können. „Die ältere Generation lernt einfach die Leichtigkeit wieder, die Kinder geben einem auch Kraft, man bleibt jünger“, meint Heidemarie Bohn. Generationenübergreifende Projekte sind für sie eine Bereicherung. „Wenn man alt ist, kommt man einfach meistens nur mit Älteren zusammen.“


 

Wie eine zweite Familie

Anett Engel und Irmgard Tinz haben ihre Teller mittlerweile leer gegessen, Levi kämpft noch mit dem zweiten Stück Pizza und den letzten Bissen Gurkensalat. „Ich kann wirklich nicht mehr“, entschuldigt er sich bei seiner „Stuttgarter Oma“. Seine Mutter und Irmgard Tinz essen die Reste. „Ich wollte mir sowieso noch Gurkensalat holen“, entgegnet Anett Engel. Levi hilft Leihoma Irmgard beim Abräumen, trägt nach und nach alles Geschirr in die Küche. 

Er weiß genau, wo was im Haus steht. Nach dem Essen läuft er also zielstrebig zum Regal mit den Brettspielen und sucht „Monopoly“, stößt aber gleich auf Widerstand. „Da wird man ja nie fertig“, lachen Anett Engel und Irmgard Tinz. Also wird es „Mensch ärgere Dich nicht“. Levi bekommt die schwarzen Spielfiguren, seine Mutter die roten, seine Leihoma die gelben. Er und Irmgard Tinz spielen oft zusammen, jeden Freitag, wenn er nach der Schule zu ihr nach Weilimdorf kommt. „Ich als Oma muss kämpfen, dass wir ein Spiel machen oder dass wir spazieren gehen“, merkt Irmgard Tinz grübelnd an. Levi ist gerne in der digitalen Welt unterwegs, Videospiele, Animes und Computertechnik haben es dem 13-Jährigen besonders angetan. „Ich verstehe da nur Bahnhof“, lacht Irmgard Tinz.

Auch Wolfgang Bohn vom Leihgroßeltern-Stuttgart-Team kennt den grundlegenden Generationen-Konflikt gut. „Wir älteren Menschen, wir haben noch anders gespielt, wir zeigen, dass es auch anders geht: basteln oder vorlesen zum Beispiel“.

Levi lenkt aber immer ein und verbringt gerne Zeit mit seiner Leihoma. Sein Lieblingsspiel ist „Uno“, da gewinnt er fast immer. Seit etwa vier Jahren verbringen Anett Engel und ihr Sohn auch Heiligabend bei Irmgard Tinz. Ein gemeinsamer Urlaub in Österreich ist Levis Lieblingserlebnis mit Oma Irmgard. 


 

Eine Frau und eine ältere Dame stehen zusammen mit einem Jungen vor einer Berglandschaft in Österreich. | Quelle: Irmgard Tinz
Ein Wanderurlaub in Österreich hat Anett Engel, Levi und Irmgard Tinz noch mehr zusammengeschweißt. 
Quelle: Irmgard Tinz

Heidemarie und Wolfgang Bohn wissen, dass es zwischen Eltern und Leihgroßeltern trotz aller Harmonie auch zu Konflikten kommen kann. Das sei aber nur selten der Fall. „Die Eltern sagen schon, was man darf und was nicht“, beteuert Wolfgang Bohn. Wenn sich eine Leihoma oder ein Leihopa nicht daran hält, vermitteln sie. 

Meinungsverschiedenheiten gab es zwischen Anett Engel und Irmgard Tinz nie. „Hört sich zu schön an, aber es ist wirklich so“, lacht Anett Engel freudig. Den beiden Frauen war es von Anfang an wichtig, die Beziehung vorurteilsfrei und ohne Erwartungen anzugehen. Alles auf sich zukommen zu lassen und offen miteinander zu kommunizieren.

Auch an diesem Sonntagmittag genießt Irmgard Tinz die gemeinsame Zeit mit ihrem Leihenkel. Dass sie bei „Mensch ärgere Dich nicht“ auf dem letzten Platz landet, ist ihr egal. Sie feuert Levi an, wenn er jubelnd seine Spielfiguren ins Ziel führt, auch wenn am Ende Mutter Anett Engel gewinnt. 

„Ich wollte einfach nur Zeit und Herz verschenken und das ist angenommen worden.“