Zusammenleben 3 Minuten

Die Schnabelhand

Ein Mann trägt ein T-Shirt der italienischen Mannschaft und gestikuliert
Die geschlossene Hand beim sprechen ist eine der berühmtesten italienischen Gesten. | Quelle: Claudia Orecchio
17. Juni 2024

Die Rubrik „Italien hinter den Kulissen“ erzählt von typischen Klischees, die über Italiener*innen verbreitet werden, diese werden entlarvt, oder mit Selbstironie gefärbt. In dieser Folge geht es um die Angewohnheit, zu gestikulieren. 

Meine Hände sind seit meiner Geburt ein wichtiger Teil meines Körpers, sie sind wie treue Begleiter, die mir in allen Lebenslagen zur Seite stehen. Mit meinen Händen esse ich, streichle Hunde, zeichne, schreibe und ... ich spreche – zumindest scheint es so zu sein. 

Noch bevor mein Mund zu sprechen begann, hatten meine Hände es bereits gelernt. Sie winkten fröhlich, um „Hallo“ zu sagen, ich biss in meine Finger, wenn ich Hunger hatte, und ballte sie zu Fäusten, wenn ich mich über etwas ärgerte. Sie wussten immer, was ich sagen wollte und wie ich es tun musste, bevor ich lernte, meine Gedanken in Worte zu fassen. Obwohl ich mit der Zeit zu sprechen lernte, verlor ich nie die Gewohnheit, meine Hände als Ausdrucksmittel zu nutzen. Es schien mir immer sehr natürlich und eine gute Unterstützung, um dem was ich sagte, eine stärkere Bedeutung zu verleihen. Ich hatte das nie zuvor bemerkt, doch als ich Italien verließ, begann die Welt um mich herum, mich darauf hinzuweisen, als ob es doch nicht so eine übliche Gewohnheit wäre.

In der Tat scheint es, als sei das Gestikulieren für den Rest der Welt ein exklusives Merkmal der Italiener*innen zu sein – eine eigenartige Fähigkeit, die nur uns vorbehalten ist. Ich gestikuliere, weil ich Italienerin bin, doch sobald die Leute um mich herum herausfinden, woher ich komme, fangen sie plötzlich auch damit an, und normalerweise wird das von Fehlversuchen begleitet, ein paar Worte auf Italienisch zu sagen, wie „Buonciorno“ und „Grrrrazie“, oder sogar ein nettes „Faffanculo“, was nicht sehr höflich, aber trotzdem lustig ist. In den Köpfen mancher Menschen sind Italiener*innen eine Art riesiger Oktopus mit zehn Tentakeln, die sich beim Sprechen in alle möglichen Richtungen bewegen. Und wenn das so schon absurd wie beunruhigend klingt, dann wird es noch schlimmer: die Schnabelhand.

Die erste Begegnung

Als ich einem meiner Klassenkameraden in Deutschland zum ersten Mal erzählte, dass ich Italienerin bin, verwandelte er sich in eine Art Pantomime-Künstler. In einem Moment stellten wir uns vor, und im nächsten hatte seine Hand eine seltsame Form angenommen, wie der Mund eines Papageis, und er begann, sie nach unten und oben zu schwenken. „Italianooo“ zwitscherte er ganz aufgeregt, während er die Schnabelhand bewegte. Ich hätte etwas sagen können, zum Beispiel, dass sich meine Hände beim Sprechen zu bewegen mögen, jedoch nicht auf diese seltsame Weise, oder dass ich eine Frau bin, und es deshalb „Italiana“ heißen sollte, aber ich wollte seine Begeisterung nicht dämpfen.

Superhände

Ich habe zum Glück keine Schnabelhände, aber meine Hände haben trotzdem große Superkräfte, und das habe ich gleich nach meiner Landung in Deutschland gemerkt, als ich noch kein Wort Deutsch sprechen konnte. Sie haben mir geholfen, als ich die Worte brauchte, die mir fehlten. Ohne ihre Hilfe wäre ich nie in der Lage gewesen, zu fragen, ob ich rechts oder links abbiegen soll, und ich hätte meinem Vermieter nicht erklären können, dass der Heizkessel kaputt ist. Ohne meine Hände hätte ich anfangs dem Kellner im Restaurant nicht erklären können, dass ich mehr Brot mochte, und ich hätte keine Freunde finden können, die nicht dieselbe Sprache wie ich sprechen.

Mit der Zeit wurde mir klar, dass der Schnabelhand-Virus unter Menschen anderer Nationalitäten ziemlich weit verbreitet war. Und obwohl man gegen eine solch tief verwurzelte Überzeugung nichts tun kann, so habe ich doch gelernt, dass man sich dafür immer eine kostenlose Theateraufführung ansehen kann.