Wartemomente: Bahnhofs-Crush und blöde Typen
Bahnhöfe sind wie kleine Mikrokosmen des Chaos. Menschen hetzen vorbei, einige haben das Glück, gerade noch ihren Zug zu erwischen, während andere völlig resigniert auf einer Bank sitzen. Sie haben es längst aufgegeben, sich über die Verspätungen aufzuregen. Kopfhörer, Handys, Zeitungen - Hauptsache, man ist beschäftigt.
Die Kunst, die Wartezeit zu füllen, beherrschen manche besser als andere.
Das verpasste Abenteuer
Egal ob nervös oder gelangweilt – die Pendelliebe hat uns doch alle schon einmal getroffen, oder? Im Buch oder im Handy vertieft, bemerkt man plötzlich neben sich oder auf dem gegenüberliegenden Gleis eine Person, die man nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Der „Airport Crush“ sozusagen auf Bahnhofsniveau. Vielleicht sieht man diese Person auch mehrmals, weil man den gleichen Arbeitsweg hat oder die gleiche Hochschule besucht. Die Blicke begegnen sich zwei oder drei Mal, aber keiner traut sich. „Soll ich mal lächeln? Soll ich was sagen? Oder lieber nicht?“
Man kann es in hunderten Filmen sehen, wie sich die zwei Hauptcharaktere im Zug oder am Bahngleis das erste Mal begegnen. Alles scheint stillzustehen und die Reise wirkt unglaublich schicksalshaft, so, als hätte alles nur dazu geführt, dass sich zwei Menschen treffen. Aber das Leben ist ja kein Film und die kollektive Angst, sich zu blamieren, hält die Wartenden davon ab, den Alltag ein wenig aufregender zu gestalten. Und so wird aus der Möglichkeit eines schönen Gesprächs, vielleicht sogar einer kleinen Romanze, ein weiteres verpasstes Abenteuer im ewigen Warten.
Blickkontakt ist keine Einladung
Vielleicht ist das aber auch ganz gut, dass sich selten jemand traut. Denn wenn doch, trauen sich meist die Falschen. Statt für nette Flirts scheint man eher eine Zielscheibe für schlechte Anmachen und nervige Kommentare zu sein. Genug Feinfühligkeit scheint oft nicht in der menschlichen Natur zu liegen, um zu erkennen, dass ein Gespräch oder ein Flirt nur einseitig gewollt ist. Egal, was man tut, nur der kleinste Blickkontakt wird hier als Einladung verstanden. „Hey, na, kann ich mit dir nach Hause gehen?“ oder „Was hast du denn an, du bist doch eine Frau!“ wird noch unangenehmer, wenn man danach noch 20 Minuten am Gleis stehen bleiben muss. Oder man letztendlich neben solchen Typen in der Bahn landet.
Man steht da am Gleis und wartet und muss die ganze Zeit darauf achten, wo man hinschaut, um nicht noch einmal ungewollt Blickkontakt zu haben. Denn nein, natürlich will man diesen Typ nicht mit nach Hause nehmen. Wie blöd fühlt sich das bitte an? Wenn man in solchen Situationen ein mitleidiges Lächeln von der Frau neben einem bekommt, ist das leider schon mehr, als man erwarten kann. Man weiß genau, alle haben es gesehen, aber niemand sagt etwas. Einfach mal nachzufragen, ob alles in Ordnung ist, oder ein kurzes belangloses Gespräch anzufangen, wäre doch schön.
Stattdessen bilden sich Trauben um die Anzeigetafeln. Dabei wissen doch alle, dass man diesen Gleis-Orakeln nicht trauen kann. Und es herrscht die wohlbekannte, peinlich berührte Stille, die es irgendwie schafft, lauter zu sein, als alle Bahnhofsgeräusche.
Allein in der Menge
An einem Bahnsteig treffen sich so viele Fremde. Jeder tut so, als wäre er ganz in seiner eigenen Welt, während in Wirklichkeit alle den Gesprächen neben sich lauschen, die gleiche Anzeigetafel anstarren und innerlich mit jeder weiteren Minute Verspätung ein Stück mehr verzweifeln. Die Wartenden sind ein stiller Club, der schweigend leidet, aber irgendwie auch zusammenhält. Leider mit denen, die sich daneben benehmen.
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Dieser Artikel ist Teil der Kolumne „Zeit totschlagen“. „Die Folge Zeit totschlagen: Die Warteschlangen-Strategie“ findest du hier.