Das DJ-Team des heutigen Abends verschlingt das Essen, als wäre es ein letztes Kräftetanken vor der großen Nacht. Die rustikalen Kronleuchter über ihren Köpfen flüstern wie vergessene Juwelen von früheren Zeiten, während die Fernseher an den Wänden die moderne Welt ins Haus holen. Im Wirtshaus zum Hotzenplotz scheint die Zeit stillzustehen, doch die Gespräche drehen sich mit rasender Geschwindigkeit. Schnell wird klar, dass die Wahl des Treffpunkts nicht zufällig ist – eine Welt, in der sich Geschichte und Gegenwart die Hand reichen.
Der Raum ist erfüllt von den Aromen frischer Braten und dem Duft traditioneller Gerichte, als Nick – oder besser gesagt, „Technoschnizzel“ – als Letzter der Truppe eintrifft.
Nicks DJ-Name „Technoschnizzel“ ist mehr als ein Wortspiel. Er erzählt von seinem bevorstehenden Auftritt – sein zweiter bezahlter Gig, bei dem er die Beats genauso meisterhaft mischen wird, wie die Köche hier ihre Gerichte. Alle lachen, als er stolz verkündet: „Heute esse ich kein Schnitzel, sondern Spätzle“, er aber mit einem Augenzwinkern versichert, dass er die Beats später genauso heiß und schmackhaft servieren werde.
Als die DJ-Crew später im „Climax” eintrifft, sieht der Club noch wie ein verwaister Ort aus, bereit für eine große Veränderung. Er erinnert an die Zeit vor vier Jahren, als das Nachtleben gegen das Totengebimmel der Pandemie kämpfte. Doch tatsächlich explodierte mit 58 Prozent, genau in diesen Jahren zwischen 2020 und 2022, die Nachfrage nach DJ-Equipment förmlich. Das Jahr 2023 brachte sogar eine Art Wiedergeburt der elektronischen Musik: mit rund 6,55 Millionen Hörer*innen ab 14 Jahren in der deutschsprachigen Region. Barish Bilgin, der als DJ-Coach an der „VibrA DJ“- Hochschule in Mannheim arbeitet, sieht DJs als die neuen Rockstars, die den ungebremsten Aufschwung des Techno mitgestalten: „Der Traum, DJ zu werden, ist so alt wie die Clubszene selbst, aber heute hat sich der Fokus klar verschoben: Wer sich jetzt bei uns anmeldet, will nur eines – Techno auflegen. Selbst ehemalige EDM-DJs wechseln vollständig zur Techno-Welt. Mit 50 neuen Bewerbungen und über 100 aktiven Schülern wird der Platz langsam eng.“
Ein Club, in dem der Platz eng wird – diese fieberhafte Erwartung durchzieht die gesamte Atmosphäre im „Climax”. Plötzlich macht es richtig „Krach“ und mit dem ersten Soundcheck kommt Bums in die Bude. Während das dröhnende Testbeat-Beben der anderen DJs durch den Raum rollt und die Wände zum Vibrieren bringt, lehnt sich Nick mit einer fast schon unerschütterlichen Gelassenheit an die Bar und erzählt von seinen Anfängen an den Turntables. Seit neun Jahren ist Nick der Technoszene gänzlich verfallen: Er feiert ausschließlich zu Techno, hört privat nur Techno und atmet praktisch Techno. „Das gibt einem definitiv ein Gefühl für die Musik“, verrät er, fast schon nostalgisch. Sein DJ-Debüt war erst letzten Oktober, als er das Equipment eines Freundes übernahm – eine Entscheidung, die sein Leben veränderte. Nach ein paar oberflächlichen YouTube-Tutorials suchte er sich schnell Tipps von erfahrenen DJs, brachte sich die entscheidenden Kniffe aber selbst bei. Nicks SoundCloud-Sets verschafften ihm mit dem Tempo eines Überschalljets den ersten Gig – Vitamin B, die Wunderwaffe der richtigen Kontakte, macht es möglich. Nick lehnt sich näher und senkt seine Stimme ein wenig, als wolle er ein Geheimnis preisgeben:
Die DJ-Pulte stehen bereit wie die Kommandostände eines futuristischen Raumschiffs, als die Gäste einströmen – Techno-Krieger*innen, bewaffnet mit Fächern, magnetisch vom DJ-Pult angezogen, wie Motten vom Licht. Ihre Lack- und Leder-Outfits, umschlungen von klirrenden Ketten, kontrastieren mit den freundlichen Gesichtern, die ganz im Moment schweben. Einige haben ihre Pupillen zu großen, hypnotischen Scheiben geweitet, die das bunte Licht der Clubbeleuchtung reflektieren, als wären sie Fenster zu einer anderen Welt.
Die DJs, die ihre Plattenteller wie magische Artefakte behandeln, sind die Kapitäne dieses nächtlichen Raves, der die Grenzen des Gewöhnlichen sprengt. Die Kiefer einiger Tänzer*innen bewegen sich rhythmisch und unaufhörlich, wie bei Kühen, die langsam auf einem Grashalm kauen. Allmählich mischen sich die ersten Anzeichen des Morgengrauens in die pulsierende Dunkelheit des Clubs. Inmitten dieses Spektakels ist Nick besonders präsent. Als sein Set beginnt, scheint er den frühen Morgen selbst zu kontrollieren.
Nicks Sound: „Trance-Techno“ – eine Symphonie aus schnellen, tanzbaren Beats mit „happy Vibes“ – hebt sich ab, nicht durch Lautstärke, sondern durch Feinheit: „Es ist die Kunst, wie ich Übergänge setze und Vocals loope, um sie nahtlos in den Track davor einzuflechten“, fachsimpelt Nick. Für ihn ist Trance-Techno wie ein Drahtseilakt – ein falscher Schritt und alles fällt auseinander: „Exakte Planung und Vorbereitung sind ein Muss, nur so kann ich die perfekte Reise für mein Set gestalten”.
Aber was Nick überzeugt, überzeugt nicht alle. Weit ab des Clubs, in dem in den Morgen getanzt wird, treffen wir Dag Lerner, bekannt als DJ Dag, der als Erfinder und Urvater des Trance-Genres gilt. Auf ihn wirkt das heutige Trance wie eine verblasste Kopie seiner ursprünglichen Idee – ein Echo, das weit von der Tiefe entfernt ist, die er einst schuf: „Das ist oft das genaue Gegenteil von dem, was ich unter Trance verstehe,“ erklärt er. „Viel zu schnelles, übertrieben fröhliches und künstliches Geklapper, das ist eher Happy-Techno als echtes Trance.“
Dag bewegt sich mit einem markanten Hinken durch seine ungewöhnliche Wohnung, wie ein Pirat mit knarrendem Holzbein, der seine Abenteuer in jeder Bewegung spürbar macht. Sein kunstvoll geschnitzter Krückstock, ein Relikt eines Motorradunfalls, könnte auch als mysteriöse Friedenspfeife durchgehen. Seine Wohnung selbst: voller kurioser Sammlerstücke und exotischer Memorabilia, die an das Refugium eines modernen Schamanen erinnern.
Trance – für Dag weit mehr als bloße Clubmusik – ein Zustand der Tiefenentspannung, vergleichbar mit Hypnose: „Trance ist ein meditativer Zustand der Verzückung, eine monotone Wiederholung von Sounds, die dich in Ekstase versetzen. Bei indianischen Zeremonien in Amerika habe ich erlebt, wie monotones Trommeln diesen Zustand herbeiführt – das war mystisch. Auch Techno kann dich in diesen Zustand versetzen. Du schließt die Augen, verlierst dich in der Musik und lässt dich tragen. Deshalb nenne ich es Trance.“
Die Geschichte des DJings begann in den frühen 1900er Jahren, als Radio-Moderatoren mit Schallplatten die ersten Klanglandschaften erschufen. In Berlin und Frankfurt wurde der Grundstein der deutschen Techno-Szene gelegt. Mit dabei damals: DJ Dag als zentraler Schöpfer des „Sound of Frankfurt“.
1992 stieg Dag mit dem Projekt „Dance 2 Trance“ und dem legendären Hit „Power of American Natives“ in den Musik-Olymp auf, was ihm eine goldene Schallplatte einbrachte – bis heute eine Trophäe seiner revolutionären Arbeit.
„Hier bin ich sogar auf dem Cover eines DJ-Magazins“, zeigt er mit stolz geschwellter Brust, „1993 war es das erste echte DJ-Magazin, und die englischen Giganten wie Mixmag und DJ-Mag gaben den Takt der Szene vor.“
Seine Worte hallen nach, als er die Erinnerung an jene Nächte heraufbeschwört, in denen seine Musik die Luft zum Vibrieren brachte und eine unbeschreibliche Energie entfaltete: „Musik ist Kunst. Wenn du ein Bild anschaust und du merkst, es berührt dich, dann ist das Kunst. Wenn sie dich im Herzen berührt und eine Reaktion auslöst, dann ist das Kunst. Ich habe schon Sachen produziert, bei denen die Leute auf der Tanzfläche geweint haben. Das ist das größte Kompliment überhaupt.“ Während sein Blick in die Ferne schweift, wird klar: Diese tiefgreifende Erfahrung ist nicht jedem vergönnt. Von der Wohnzimmercoach des alternden DJ-Gotts zurück in den Club, zu Nick, dem Nachwuchs-DJ bei seinem zweiten bezahlten Gig überhaupt. Was treibt ihn an? Will auch er Menschen Tränen entlocken? „Viele wollen nur DJ werden, weil es krass klingt. Aber ohne das innere Feuer fehlt etwas. Die Technik kann man lernen, aber das Gespür, was ein Set einzigartig macht, muss in einem brennen“, fasst er treffend zusammen.
Dag sieht das ähnlich wie Nick, aber nach der alten Schule: „Mir fehlen bei den ganzen jungen Hüpfern die Charakterköpfe, wie wir das früher waren – die wirklich aus der Menge herausstechen.“ Für ihn bedeutet High-Class DJing weit mehr, als nur ein Ton-Techniker für Übergänge zu sein. „Ein DJ ist ein Musiker und Entertainer, der das Publikum lesen und die Musikauswahl perfekt anpassen kann,“ erklärt Dag. Er ist überzeugt, dass ein wirklich guter DJ, Meister seines Handwerks ist, der sein Metier mit Leidenschaft und Präzision beherrschen muss.
Doch auch der Glanz des Erfolgs kann trügerisch sein. Wahre Größe im DJ-Leben bedeutet für Nick nicht nur, auf der Bühne zu glänzen, sondern auch den richtigen Umgang mit anderen zu pflegen. „Wichtig ist, in der Szene präsent zu sein, aber vor allem bodenständig zu bleiben. Wer abhebt, wird schnell zum arroganten Sack, den keiner mehr sehen will“, betont er lachend. Für Nick sind Gigs mehr als nur Shows für ‚Fans‘: „Es sind Partys mit all meinen Freunden.“ Dieser Gedanke verkörpert den Herzschlag der Techno-Szene: Eine Community, die durch Musik, Freundschaften und ein gemeinsames Verständnis für die Einzigartigkeit des Technos zusammengehalten wird.