„Da muss sich die Stadtverwaltung nicht wundern, wenn bald wieder leerstehende Wohnungen belebt werden.“
Warum wir mehr Hausbesetzungen brauchen
Dass Stuttgart ein Problem mit Wohnraum hat, ist nichts Neues. Schon zum zweiten Mal belegt die Kesselstadt bundesweit Platz eins der teuersten Großstadt-Mieten. Für alle Normalverdienenden gleicht die Wohnungssuche einer Odyssee – zu teuer, zu klein, zu weit weg – und hat man dann eine passende Wohnung gefunden, muss man sich „nur“ noch gegen dutzende Mitbewerber*innen durchsetzen.
Eine Hausbesetzung in Stuttgart?
Adriana und Rosevita waren 2018 in einer ähnlichen Situation: Monatelang waren die beiden auf Wohnungssuche – erfolglos. Nach einer Kundgebung gegen Wohnungsnot in Heslach und anschließendem Spaziergang zu einem Haus mit zwei leerstehenden Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße 4, beschließen die beiden spontan einzuziehen. Adriana wohnte nun samt Kind und Lebenspartner im Erdgeschoss, Rosevita und ihr Sohn im Obergeschoss. Der Innenhof wurde in den folgenden Wochen zu einem Treffpunkt für Nachbarschaft, Unterstützer*innen und alle, die einfach mal vorbeischauen möchten. Unter der Woche gab es Kaffee und Kuchen, am Wochenende Hoffeste mit Programm und Kinderbetreuung. Die Hausbesetzer*innen erfuhren viel Zuspruch und Solidarität aus der Nachbarschaft und sogar über die Stadtgrenzen hinaus erreichten sie Grußbotschaften.
Hier findet ihr ein Video vom ehemaligen Besetzer*innenkollektiv über die Zeit der Besetzung.
Zu der Frage, was mit der Besetzung erreicht werden sollte, sagt Adriana heute: „Erstmal hatten wir ein Zuhause gefunden, in dem wir uns wohl fühlten. Wir wären auch bereit gewesen, Miete zu zahlen, hätte die Eigentümerin unser Angebot angenommen. Wir wollten aber auch ein Zeichen gegen Wohnungsnot, Spekulation und Profitgier setzen. Die Wohnraumfrage kann meiner Meinung nach nicht im Kapitalismus gelöst werden“.
Nach einem Monat voller Leben und Zusammenkommen wurde am 28. Mai 2018 mit einem Großaufgebot der Polizei geräumt. Luigi Pantisano, Stadtrat in Stuttgart für „Die FrAKTION“, kommentiert: „Die Räumung war falsch, denn zwei Familien hatten sich zwei, seit Jahren leerstehende, Wohnungen gesichert und haben damit endlich ein Dach über dem Kopf. Seit der Räumung stehen die Wohnungen wieder leer und die Stadt schaut tatenlos zu. Da muss sich die Stadtverwaltung nicht wundern, wenn bald wieder leerstehende Wohnungen belebt werden.“ Noch am Abend der Räumung zogen etwa 500 Menschen lautstark durch Heslach, um gegen diese zu demonstrieren.
Kein Einzelfall
Laut Angaben des statistischen Landesamtes stehen in Stuttgart etwa 11.000 Wohnungen leer. Die Stadt könnte zwar mit dem Zweckentfremdungsverbot gegen Leerstand vorgehen, doch das passiert nur selten. Wie auch? Es gibt gerade einmal zwei Stellen in der Stadtverwaltung, um die Einhaltung des Verbots zu kontrollieren.
Zweckentfremdungsverbot:
Im Jahr 2016 hat die Stadt Stuttgart die Satzung gegen Zweckentfremdung von Wohnraum eingeführt. Wenn Eigentümer Wohnraum länger als sechs Monate unbegründet leerstehen lassen, oder unerlaubt für gewerbliche Zwecke nutzen, kann die Stadt Bußgelder verhängen. Wohnraum der sich schon vor 2016 im Leerstand befand ist von dem Gesetz jedoch ausgenommen, weshalb unter anderem der Mieterbund Baden-Württemberg eine Überarbeitung des Gesetzes fordert.
Sicherlich, viele der leerstehenden Objekte sind nicht mehr bewohnbar oder stehen tatsächlich leer, um saniert zu werden. Dennoch gibt es genügend Wohnungen, die theoretisch schon morgen vermietet werden könnten, es aber nicht werden. Denn mit Wohnungen zu spekulieren ist sehr lukrativ, insbesondere hier in Stuttgart, wo die Mieten seit Jahren steigen.
Auch heute noch aktuell
Heute, drei Jahre nach der Räumung, stehen immer noch vier der fünf Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 leer. Adriana und Rosevita sehen sich mit einer Strafe in Höhe von insgesamt 14.000 Euro konfrontiert.
Das alles zeigt: Der freie Markt und der Staat sind nicht in der Lage, die Wohnungsnot zu lösen. Während Spekulant*innen es sich leisten können Wohnraum leer stehen zu lassen, sterben jeden Winter Obdachlose den Kältetod – letzten Winter waren es deutschlandweit 22 – und Tausende finden keine Bleibe. Alleine in Stuttgart haben letztes Jahr 4200 Menschen ihre eigene Wohnung verloren und wohnten in Unterkünften oder Wohnheimen. Es kann nicht sein, dass Profit über dem Grundbedürfnis Wohnen steht. Jeder Mensch sollte ein Dach über dem Kopf haben und nicht einen Großteil seines Einkommens dafür aufbringen müssen. Die Besetzung damals hat es geschafft, der Wohnraum Problematik ein Gesicht zu geben und das Thema damit zum Bestand vieler Diskussionen gemacht. Genau deshalb war die Aktion für Stuttgart so wichtig.