Wenn Social Media zum Kriegsschauplatz wird
Triggerwarnung: In diesem Artikel werden schreckliche Kriegssituationen detailliert beschrieben.
Ich öffne TikTok und sehe tragische Bilder: Ein Mann läuft schreiend durch eine sichtlich zerbombte Stadt. In seinen Händen trägt er zwei Plastiktüten. Laut der Überschrift befinden sich darin die Überreste seiner verstorbenen Kinder. Das Video ergreift mich und ich möchte mehr dazu wissen. In den Kommentaren finde ich viele Beileidsbekundungen, aber auch politische Äußerungen. Es handelt sich wohl um einen Mann aus Gaza. Ob das stimmt, finde ich nicht heraus.
Seit die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober einen Angriff auf den Süden Israels startete und die israelische Sicherheitsbehörde den Kriegszustand ausrief, wird der Krieg überall thematisiert. Regierungen, Nachrichtenportale und Talkshows diskutieren über den Konflikt, der die Menschen seit Jahrzehnten bewegt. Doch auch in den sozialen Netzwerken ist der Krieg ein großes Thema. Ausgerechnet die Plattformen, die sonst eher für leichte Unterhaltung sorgen und mit Alltagstipps glänzen, werden auf einmal zum Kriegsschauplatz. Ob Diskussionen in Kommentarspalten oder schockierende Aufnahmen im Feed – als User*in kommt man an der Thematik kaum noch vorbei. Doch wieso wird gerade dieses politische Thema derartig aufgegriffen?
Gegen Unterdrückung
Es ist nicht das erste Mal, dass der Nahost-Konflikt in den sozialen Medien eine Rolle spielt. Bereits im Frühling 2021 beschäftigten sich viele Nutzer mit dem Thema, erzählt Nahost-Experte Dr. Andreas Böhm von der Universität St. Gallen. Damals seien es Palästinenser*innen gewesen, die aus ihren Häusern vertrieben werden sollten und beim Beten in der al-Aqsa-Moschee angegriffen wurden. Daraufhin hätten die Hamas Israel bombardierte, so Böhm.
Dass es bei dieser letzten Eskalation zu einer breiten Thematisierung in den sozialen Medien kam, erklärt er mit der Ähnlichkeit zu anderen Fällen struktureller Unterdrückung. Er nennt Beispiele wie die „Black Lives Matter“- oder „MeToo“-Bewegungen, bei denen sich viele, vor allem Jugendliche und junge Erwachsene, für die Gerechtigkeit und gegen die Unterdrückung anderer einsetzen. „Die Palästinenser in den besetzten Gebieten sind Bürger zweiter Klasse und es ist de facto eine Art strukturelle Diskriminierung“, sagt Böhm. Weil ihr Anliegen gerade in den Kontext von ‚Black Lives Matter‘, ‚Me Too’ und auch ‚LGBTQ’ hineingepasst hat, sei es damals so aufgegriffen worden und laut Böhm seither auch in diesem Kontext präsent.
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Von Fehlinformationen und Filterblasen
Es handelt sich also um junge Leute, die sich für die Rechte anderer starkmachen und in ihren Posts ein wichtiges politisches Thema adressieren. Das hört sich zunächst positiv an. Besonders bei Video- und Bildaufnahmen aus den Kriegsgebieten könne dies aber gefährlich werden, da sie häufig aus politischer Motivation heraus manipuliert wurden und Fehlinformationen vermitteln können, so Böhm. Es fehle dann die redaktionelle Einordnung eines Geschehens und die Darstellung verschiedener Perspektiven, wie sie ein klassisches Medium leistet oder zumindest leisten sollte. Da den meisten Nutzer*innen die nötige Medienkompetenz oder auch die Zeit fehlt, um diese Leistungen selbst zu erbringen, werden die Beiträge schließlich völlig ahnungslos weiterverbreitet.
Dies können zum Beispiel Aufnahmen sein, die von der Hamas selbst oder auch dem israelischen Militär geteilt werden. So wurde etwa ein Video von israelischen Soldaten veröffentlicht, die im Al-Shifa-Krankenhaus ein angebliches Versteck von Terroristen und Geiseln präsentieren. In den klassischen Medien werden diese Inhalte zwar auch aufgegriffen, jedoch mit dem klaren Hinweis, dass deren Richtigkeit nicht bestätigt werden kann. In manchen Redaktionen gibt es mittlerweile auch sogenannte „Faktenchecker“, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, solche Inhalte zu prüfen. In den sozialen Medien fehlen derartige Leistungen aber häufig gänzlich. „Alle interessierten Kräfte können versuchen so zu tun, als wären diese fabrizierten Videos Realität und wer das nicht einordnen kann, ist dem mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert“, erklärt Böhm.
Aber auch die grundlegende Funktionsweise der Plattformen könne sich laut Böhm in der Debatte negativ auswirken. Durch die Algorithmen erhalten emotionale und schockierende Posts deutlich mehr Aufmerksamkeit als ausgeglichene und informationshaltige. Außerdem befinden sich viele Nutzer*innen in Filterblasen, in denen sich meist stur auf eine Seite geschlagen wird. Durch diese Emotionalisierung des Konflikts und die einseitige Betrachtung kommt es oft zu radikalen Standpunkten. In den Kommentarspalten unter Beiträgen zum Krieg wird deutlich: Hass, Hetze, Anfeindungen und wenig Bereitschaft zum Diskurs beherrschen die Unterhaltungen.
Diese strukturelle Logik der sozialen Medien werde von politischen Akteuren ganz bewusst ausgenutzt, sagt Böhm. „Sobald man in eines dieser ‚Camps‘ gerät, wird es wesentlich schwieriger. In dem Moment, wo beispielsweise israelische Propaganda sagt‚ an allen Toten im Gaza-Streifen ist am Ende sowieso nur die Hamas Schuld‘ oder Hamas-Propaganda sagt, dass es nur die gerechtfertigte Quittung für die israelische Politik der vergangenen Jahrzehnte sei, kommt man da nicht weiter“, so der Nahostexperte.
Algorithmen und Filterblasen
Algorithmen sind komplexe Rechenvorgänge, die dafür sorgen, dass Social-Media-Plattformen die angezeigten Inhalte auf eine bestimmte Art und Weise sortieren. Sie fördern beispielsweise Inhalte, die häufig kommentiert und geteilt werden. Außerdem führen Sie dazu, dass den User*innen vorwiegend Beiträge der eigenen Interessen und Vorlieben zugespielt werden. Dadurch entstehen sogenannte Filterblasen, die den Weitblick der User*innen einschränken können.
Quelle: iwd (Der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft)
Psychisch belastend
Neben den kontraproduktiven Effekten auf den politischen Diskurs können sich besonders die brutalen Bilder auch schlecht auf den Konsumenten selbst auswirken. Besonders Kindern können die schockierenden Aufnahmen zusetzen. Es gebe eine Bandbreite von negativen Folgen für die Psyche, sagt Sozialpädagoge Clemens Beisel. Das können zum Beispiel depressive Verstimmungen, Aggressionsprobleme oder Schlafstörungen sein. Beisel berichtet auch von eigenen Erfahrungen: Kurz nach Kriegsbeginn habe er ein Video gesehen, auf dem ein blutüberströmter Mann sein Kind in den Armen getragen hat. Dem Kind habe die Hälfte vom Kopf gefehlt. „Also das geht an einem Erwachsenen auch nicht spurlos vorbei und einem Kind fällt das noch viel schwerer sowas einzuordnen“, erklärt er. Eine regelrechte Überflutung mit Schockbildern könne jedoch auch Abstumpfung zur Folge haben. Man nehme dann gar nicht mehr wahr, wie tragisch das Gesehene eigentlich ist, da sich das Gehirn bereits daran gewöhnt hat.
Bewusste Nutzung als Richtlinie
Fehlinformationen, Radikalisierung und schlecht für die Psyche: Sollte man aufgrund dieser Erkenntnisse vielleicht doch festhalten, dass sich die sozialen Medien schlichtweg nicht eignen, um einen Krieg zu thematisieren? „Nein“, sagt Medien-Ethikerin Prof. Dr. Claudia Paganini. Social Media verschlechtere zwar manche Probleme, aber es könne und werde auch positiv eingesetzt, etwa um ein breiteres Spektrum an Meinungen zu sehen oder einen gewissen Druck auf Regierungen auszuüben. Außerdem seien in den sozialen Netzwerken auch einige differenzierte Positionen von jungen Leuten zu finden, auch wenn diese nicht speziell von den Algorithmen gefördert werden.
In der Regel würden Menschen zu emotionalen Reaktionen neigen und nicht zu einem vernünftigen Abwägen. „Das ist aber das, was wir eigentlich bräuchten. Gerade wir in Europa könnten das machen, da wir den Konflikt nicht vor der Haustür haben“, sagt Paganini. Sie rät also eher zu einem bewussteren und reflektierten Konsum der sozialen Medien, anstatt diese völlig zu verteufeln. Man müsse das bestehende Potenzial der sozialen Medien nur richtig nutzen, hält Paganini fest.