„Wenn man bedenkt, wie viele Bunker an manchen Stellen noch unter den Städten schlummern und verfallen. [...] Man geht buchstäblich an der Geschichte vorbei.“
Vergessene Bunker: Urbex im Untergrund
Es ist ein bewölkter Tag mit Nieselregen irgendwo in Nordrhein-Westfalen (NRW). Wir wandern auf einem schmalen Waldweg einen Berg entlang. Tobi und seine Urbex-Kollegen „JK“ und Pawel schauen gemeinsam auf ihre Lost Place Karte. Tobi hat seinen eigenen YouTube-Kanal „Tobico Adventures“. Als ehemaliger Bundeswehrsoldat faszinieren ihn vor allem alte Militärtechnik und Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg. Dabei ist er auf der Suche nach „dem einen Bunker“, einem möglichst intakten Bunker mit Relikten aus der damaligen Zeit. „Irgendwo da unten is‘ die Bude“, zeigt JK ins Tal. Dort steht eine größere Fabrik, die man durch die Bäume erkennen kann. Die „Bude“ ist ein alter Werksbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Arbeiter vor 80 Jahren Schutz vor den Bomben der Alliierten suchten. Es sind etwa 60 Höhenmeter durch den Wald. Wegen des Regens und des Laubes rutschen und stürzen wir den Hang hinunter. Auf halbem Weg sehen wir schon eine alte Betonmauer im Berg.
Unten angekommen sind wir alle viel dreckiger als noch vor fünf Minuten. Tobi hat sich an einer Stelle die Hose aufgerissen. „Das gehört dazu, niemand hat gesagt, dass es ein leichtes Hobby ist“, sagt er überzeugt. Kaputte Klamotten, verlorene Gegenstände, hohe Reisekosten und immer die kleine Gefahr, erwischt zu werden, gehören zum Urbex dazu. Urbex steht für "Urban Exploring" und beschreibt ein Hobby in dem man verlassene oder vergessene Orte aufsucht und erkundet. Auch wenn viele dieser verlassenen Orte teilweise seit Jahrzehnten leer stehen und ungenutzt sind, gilt es in vielen Fällen als Hausfriedensbruch, da sich die Objekte oft auf Privatgrund befinden.
Geheimnisse der Vergangenheit
Inzwischen hat jeder seine Ausrüstung bestehend aus Taschenlampen und Handystativen aus dem Rucksack geholt. Jeder will die Erkundung auf seine Weise festhalten. Tobi beginnt das Intro für sein Video zu drehen und gibt eine kleine Einführung was er heute erkunden wird.
Wir setzen den ersten Schritt in den Werkschutzbunker und werden von einem toten Reh in Empfang genommen. Von dem Reh sind nur noch die Knochen übrig. Im Eingangsbereich finden sich Gussformen für schwere mechanische Teile. Wir gehen durch die Schleuse, die mit zwei schweren Metalltüren gesichert ist, um dem Druck der Bomben standzuhalten. Hinter diesen Türen stehen wir schon in einer großen Kammer. An der Wand steht sehr groß geschrieben: „Rauchen verboten!“ Licht oder Elektronik gibt es hier schon lange nicht mehr. Die hölzernen Türrahmen sind mittlerweile morsch und die Türen und Lüftungsrohre verrostet. Neben dem sehr großen Befehl nicht zu rauchen, stehen auch weitere Schriftzüge im Bunker geschrieben. Jeder, egal ob Frau oder Mann, muss sich an der Reinigung beteiligen. Neben dem Durchgang zur nächsten Kammer steht, dass dieser nur für Frauen und „Werksmaiden“ vorgesehen war. Der Bunker ist in mehrere große Kammern unterteilt, in denen Hunderte von Fabrikarbeitern Platz finden mussten wenn die Bomben fielen. In jeder Kammer befanden sich noch kleine Nebenräume, wahrscheinlich die Toiletten.
Tobi und seine Kollegen schauen sich fasziniert jede einzelne der Schriftzüge an und machen Fotos sowie Videos. „So gut erhaltene Schriftzüge findet man selten, das ist schon etwas Besonderes“, erklärt mir Tobi. Vor einem Raum steht ein rot unterlegter Schriftzug „Für Werksfremde mit rotem Ausweis“. In den Nebenräumen ist ein Name in kyrillischer Schrift in die Wand gemeißelt: „вася 18.6.43“. „Wahrscheinlich haben sowjetische Kriegsgefangene hier gearbeitet“, kommentiert Tobi. So erzählt der Bunker seine ganz eigene Geschichte, je weiter wir ihn erkunden. Eine besondere Entdeckung für die Urbexer.
Harte Konkurrenz
Wir begeben uns in den rechten Flügel des Bunkers. Jeder Raum ist identisch mit dem anderen, zumindest vom Aufbau her. Allerdings sind hier die Beschriftungen teilweise mit Farbspray übersprüht worden. „Sowas finde ich ja richtig scheiße!“ Tobi lässt noch weitere Ausdrücke fallen, bevor er mir erklärt, was es damit auf sich hat. Trotz des gleichen Hobbys ist die Konkurrenz unter den Urbexern groß. Manchmal kommt es vor, dass jemand wirklich als Erster ein Objekt entdeckt. Er zieht seine Inhalte daraus, macht Bilder und Videos von den unberührten Schriften und Symbolen und übersprüht sie schließlich, um den anderen Urbexern die Freude der Erstentdeckung zu nehmen. Andere Urbexer rufen nach der Entdeckung die Feuerwehr oder die Stadt an, um das Objekt verschließen zu lassen. So sichern sie sich die Exklusivität für ihren Content. Man will der Einzige sein, der exklusive Inhalte auf seinem Kanal hat. Auch die großen Urbex und Lost Place YouTuber sind dafür verantwortlich. Orte werden oft geheim gehalten. Sobald diese auf öffentlich zugänglichen „Lost Place Maps“ landen, kann man sich sicher sein, dass diese innerhalb kürzester Zeit vandalisiert oder Sachen geklaut werden. Dabei ist es egal, was gestohlen wird. Alte Luftfilter, Kabel, Metall, Feldbetten, alles, was irgendwie einen Wert hat oder haben könnte.
„Ich behandle jeden Ort mit Respekt, wenn ich etwas Besonderes finde, mache ich ein Video oder ein Foto davon, lasse es aber genau da, wo es war, damit der nächste Urbexer auch etwas davon hat. So sollte es jeder machen.“ Seiner Meinung nach sollten Orte wie dieser besser erhalten und umfunktioniert werden. „Wenn man bedenkt, wie viele Bunker an manchen Stellen noch unter den Städten schlummern und verfallen. Die könnte man alle mit ein bisschen Arbeit wieder herrichten und als Museum anbieten. Man geht buchstäblich an der Geschichte vorbei.“ Er erzählt von Weltkriegs Bunkern unter alten Marktplätzen. Diese Zivilschutzbunker gab es in NRW zuhauf und sind heute unter unscheinbaren Kanaldeckeln unter Parkplätzen versteckt.
Tobi beendet seine Aufnahme mit einem Gruß an seine Zuschauer. Mit JK drehen wir noch ein paar Szenen für seine Instagram-Reels. Sein Hobby, Reels zu schneiden, entstand parallel damit, verlassene Orte zu erkunden. Andere Urbexer auf Instagram inspirierten ihn dazu, selbst Orte zu erkunden und Inhalte zu erstellen. Seit über einem Jahr ist er nun dabei. Kennengelernt hat er Tobi auf Instagram, als dieser einen Aufruf startete, um mehrere Leute für eine Gruppe zu finden. „Mir ging das damals auf die Eier, dass jeder seinen eigenen Film fährt. Ich wollte, dass mehr Zusammenhalt unter Urbexern stattfindet, anstatt sich gegenseitig abzufucken.“ erklärt Tobias deutlich. Auch Pawel hat über Instagram zu der Gruppe gefunden. Generell findet viel Vernetzung und Kommunikation unter den Urbexern per Instagram statt. Auch Orte werden hier ausgetauscht.
Einsames Paradies
Einer dieser Geheimtipps befindet sich in Dortmund. Nach einem mittelmäßigen Döner gehen wir in ein verlassenes Pornokino, das nur wenige Meter entfernt liegt. Es liegt direkt an einer viel befahrenen Straße, was das Betreten riskant macht. Die Eingangstür zu den darüber liegenden Wohnungen steht jedoch offen. Direkt neben der Eingangstür befindet sich ein Durchgang zum Eingang des Kinos. Die Wohnung ist schon so lange verlassen wie das Pornokino selbst, trotzdem leben hier noch Menschen: Obdachlose. Es kommt immer wieder vor, dass man an verlassenen Orten Spuren von Obdachlosen findet. In der Wohnung und im Kino finden wir Schlafsäcke, kürzlich gerauchte Zigaretten und sogar relativ frische Wurstbrote. Von den Obdachlosen selbst fehlt jede Spur. Auch gebrauchte Spritzen finden sich zwischen all dem Müll. Überall liegen Hüllen von Porno-DVDs.
Das Kino selbst ist wie eine Zeitkapsel in die Zeit vor dem Internet. Kinosäle mit halbhohen Wänden als Sichtschutz, ein Saal mit einer gekachelten Bucht am Ende des Raumes, in der sich Paare austoben konnten. Ein Saal ist voll mit engen Privatkabinen und flimmernden Röhrenfernsehern, in denen man für ein paar Euro einen Porno seiner Wahl anschauen und masturbieren konnte. Eine Vitrine dekoriert eine Wand mit Dutzenden kurioser Pornotitel. Tobias und JK lesen diese vor und müssen oft laut lachen. Immer wieder fragen sie sich, wer wohl in so ein Kino ging. Für beide ist es ein absurder Gedanke, hierher zu kommen und unter anderen Fremden einen Porno anzuschauen. Aber auch dieser Ort erzählt interessante Geschichten.
Wir nutzen Atomschutzbunker im Alltag
Als eines der letzten Objekte unserer Tour besuchen wir eine Mehrzweckanlage (MZA). Solche Anlagen sollten während des Kalten Krieges der Zivilbevölkerung Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Bedrohungen bieten. Diese Anlagen befanden sich oft in unscheinbaren zivilen Gebäuden. Auch in Stuttgart gibt es mehrere solcher MZA. Der Bahnhof Rotebühlplatz ist zum Beispiel ein Atomschutzbunker für 4.500 Personen und auch die Tiefgarage des Parkhauses Hauptbahnhof ist eine solche Anlage.
In unserem Fall befinden wir uns unter einem regulären Parkhaus. Die hydraulischen Stahltüren, durch die wir gehen, sollten dem Druck einer Atomexplosion standhalten. Innen drin sieht alles aus wie eine normale Tiefgarage, jedoch mit Gängen die in weitere Räume führen. Ganze Reihen aus Toiletten und Waschbecken, eine große Küche sowie Pumpen- und Filterräume für die Wasser- und Luftversorgung. Aus einem Raum kommt uns der Geruch von Diesel entgegen. Hier sind große Dieseltanks für die Versorgung der Generatoren im Falle eines Stromausfalls. Wir kommen zu einem Schaltkasten, Technik aus den siebziger Jahren. Tobias und JK fummeln an den Sicherungen herum. Plötzlich leuchtet die ganze MZA. „Junge, das ist ja irre!“ Tobias grinst. Die ganze Technik scheint noch zu funktionieren. Mit wenigen Handgriffen könnte der Bunker wieder komplett in Betrieb genommen werden. Sogar die hydraulischen Türen scheinen noch zu funktionieren.
Wir gehen weiter den Gang entlang und kommen zu einem weiteren Schaltkasten mit einem großen Drehschalter mit der Aufschrift „Hauptschalter“. Ohne groß nachzudenken legt Tobias den Schalter um. Plötzlich ertönt ein wahnsinnig lautes Geräusch, als würde ein riesiger Computer hochfahren. Die gesamte Luftfilteranlage des Bunkers springt an, zum ersten mal seit wahrscheinlich 40 Jahren. Man hört, wie Dreck und kleine Steine durch die Lüftung geblasen werden. „Jo Digger! Mach keinen Scheiß Alter“, ruft JK aus dem ABC-Filterraum. Tobias schaltet die Anlage wieder aus, wir stehen alle etwas geschockt im Kreis. Keiner von uns hat damit gerechnet. Die Stimmung ist eine Mischung aus Euphorie und leichter Paranoia. Wenn die Anlage im Bunker so laut war, dann muss man die Lüftung draußen auch gehört haben. Wir stellen alles wieder so ein, wie es vorher war, und verlassen die MZA.
Nach zehn Stunden ist unsere Tour zu Ende. Es ist faszinierend, was alles vor und unter uns liegt. Irgendwann bekommt man ein Gefühl dafür, wo etwas sein könnte, sagt Tobias. Längst schauen er und seine Kollegen nicht mehr auf öffentliche Karten, sondern recherchieren selbst. Es ist wie eine Schatzsuche nach einzigartigen Relikten und unberührter Geschichte. Dennoch sind sich alle einig, dass mehr Bewusstsein geschaffen und mehr Aufklärung betrieben werden muss. Mehr Denkmalschutz, mehr historische Aufarbeitung und vor allem mehr Respekt vor den Relikten der Vergangenheit.