Eine vergessene Welt
Unzählige Male bin ich durch diesen Wald gelaufen. Mehrmals die Woche gehe ich hier joggen und habe hunderte von Kilometer auf den staubigen Spazierwegen und den weichen, erdigen Trampelpfaden zurückgelegt. Ich dachte, ich würde jede Kreuzung, jede Lichtung und jedes Astloch kennen.
Als mir Benjamin erzählte, dass sich hier, in meinem Wald, ein verlassener Luftschutzbunker befinden sollte, wollte ich ihm zuerst nicht glauben. Benjamin Seyfang ist jedoch ein absoluter Experte auf diesem Gebiet. Er ist Fotograf und Urban Explorer. Seine Motive sind verlassene Orte – so genannte Lost Places. Alte Fabrikanlagen, verlassene Krankenhäuser und geräumte Militärbasen. Vor allem hier, in Baden-Württemberg, war Benjamin an fast jedem dieser Orte um zu fotografieren.
Im Wald verborgen
Es ist früher Abend und ein leichter Nieselregen prasselt auf das Blätterdach der riesigen Buchen. Hinter den Bäumen rauschen Autos über die Hauptstraße. Benjamin und ich stapfen zügig den steilen Weg hinauf, an dem ich normalerweise während meiner Laufrunde anfange zu keuchen. Würde der Urban Explorer nicht mit diesen völlig verdreckten Stahlkappenstiefeln und diesem riesigen, mit Matschspritzern gesprenkelten Wanderrucksack durch den Wald marschieren, würde er zwischen den anderen Spaziergängern nicht auffallen. Sonst sieht er nämlich eher unscheinbar aus. Blond, Brille, hellblaues T-Shirt. „In diesem Rucksack ist mein ganzes Equipment. Das habe ich mir alles über die Jahre zusammengekauft“, sagt er und mustert den Wald unterhalb des Weges. Das tut er schon seit zwei, drei Minuten. „Irgendwo hier muss es sein. Ich finde den Eingang nie auf Anhieb. Wenn du große Betonquader siehst, sag Bescheid.“
Ich sehe nur vom Regen aufgeweichten Waldboden, Blätter, morsche Baumstümpfe. Da! – ein Eichhörnchen. Wo sollen hier Betonquader sein?
Plötzlich bleibt Benjamin stehen und schaut sich um: „Kommt da jemand?“, fragt er und nickt in meine Richtung. „Nein, niemand zu sehen“, antworte ich. Er verschwindet im Dickicht. Ganz legal ist dieser Zeitvertreib in den meisten Fällen nicht. Erwischt wurde Benjamin jedoch nur ein Mal. „Damals wurde ich vom Gelände verwiesen. Man muss aber dazusagen: Ich breche nirgends ein und beschädige nichts“, erklärt der Entdecker.
Ich folge ihm, kämpfe mich durch das Geäst, die steile Böschung hinab. „Hier sind die Betonquader“, sagt er und deutet auf zwei mannshohe, von Ranken und Moos überwucherte Steinblöcke. Ich bin erstaunt, jedoch wundere ich mich jetzt nicht mehr darüber, dass ich diese Stelle nicht kannte. „Vom Weg aus siehst du den Bunker nicht.“ Benjamin lächelt.
Zwischen den Betonblöcken entdecke ich in der Erde ein kleines Loch von der Größe eines Fuchsbaus. „Ist das der Eingang?“, frage ich. Benjamin nickt und holt eine Stirnlampe aus seinem gewaltigen Rucksack. Da also hinunter.
Alles andere vergessen
Ich gehe voran, zwänge mich durch die Öffnung und lasse meinen Körper in die Dunkelheit unter mir gleiten. Ich erinnere mich an das Märchen Frau Holle, in dem die schöne, fleißige Stieftochter in einen Brunnen fällt und in einer anderen Welt aufwacht. Genau so fühle ich mich auch. Vor mir: Ein langes, graues Gewölbe aus Beton. Der Boden ist übersäht mir Unrat, Glasscherben, morschem Holz und von der Zeit zerfressenen Schuhen und Textilien. Ein beklemmendes Gefühl, das Ende des Ganges nicht sehen zu können. Es riecht nach Keller, nach altem, schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutztem Keller und die breiten Risse im Gewölbe machen diesen Ort nicht gerade vertrauenswürdiger. Ich kann sie sehen – die Menschen, die auf dem Boden kauern und auf das Ende des Bombenhagels warten. Es ist eng, stickig und die Einschläge an der Oberfläche lassen Staub von der Decke rieseln.
Ich knipse die Taschenlampe an; die Menschen sind verschwunden. Benjamin landet hinter mir auf dem lehmigen Boden. „Wenn ich an solchen Orten bin wie hier, dann vergesse ich alles andere“, sagt der Urban Explorer. Nun weiß ich, was er meint. Wir sind in eine fremde Welt eingetaucht.
Im Labyrinth
Benjamin aktiviert ein rosafarbenes Knicklicht und legt es unter die Öffnung, die zurück in die uns bekannte Welt führt. „Ich markiere nur schnell den Ausgang“, sagt er.
Schritt für Schritt begeben wir uns tiefer in dieses verwinkelte Labyrinth aus schmalen Gängen. Vor einigen Tagen hatte ich Kontakt mit Claudio (er möchte anonym bleiben) vom Verein Schutzbauten Stuttgart. Diese Bunkeranlage sei nur für den Zivilschutz vorgesehen gewesen. Die Umstände unter denen die Menschen hier unten das Ende der Luftangriffe abwarteten, seien unvorstellbar gewesen. „Wir haben auf Führungen immer wieder Zeitzeugen, die heute noch Panik bekommen, wenn sie solche Anlagen betreten“, erzählte mir Claudio. Bis zu acht Stunden verbrachten die Schutzsuchenden in diesen engen feuchten Gewölben.
Das Haus des Kannibalen
Auf einem kleinen Vorsprung liegt der Schädel eines Rehs. Im Licht der Taschenlampe entstehen bizarre Schatten an der Wand. „Was war der gruseligste Ort, an dem du je warst?“, möchte ich wissen. Benjamin überlegt: „Ich war mal im Haus des Kannibalen.“ „Im Haus des Kannibalen?“ Schon allein der Name dieses Lost Places wäre für mich Grund genug, diesen Ort auch weiterhin verlassen zu lassen. „Ja, das war tatsächlich das Haus eines Kannibalen, der auch dafür im Gefängnis sitzt. Er hatte sich mit einem Mann verabredet, diesen dann auf dessen eigenes Verlangen hin, umgebracht und verspeist.“ Ich blicke in den Gang vor mir. Nur Dunkelheit. Mir wird mulmig. „Und in diesem Haus warst du? Also auch in dem Raum, in dem der Kannibale sein Opfer geschlachtet hat?“, frage ich. „Genau", sagt Benjamin, „Die ganze Geschichte habe ich mir erst danach durchgelesen. Ich habe in diesem Haus einfach eine ganz komische Aura gespürt. Und ich meine ich war schon an vielen gruseligen Orten.“
Ein geisterhaftes Bild
Ich sehe Wehrmachtssoldaten, die große Ölfässer aufeinanderstapeln. Über uns die dumpfen Schläge der Fliegerbomben – Taschenlampe an. Der Raum ist leer, nur die gestapelten Fässer stehen dort. Nun kommt auch Benjamin in den Raum.
Er stellt seinen Rucksack ab, öffnet ihn und holt große batteriebetriebene Leuchten, ein Stativ und seine Kamera heraus. Eine Leuchte hinter die Fässer, eine jeweils links und rechts im Raum. Die alten Stahlfässer werden ausgeleuchtet und bieten ein wunderschönes, geisterhaftes Bild.
„Ich mag surreale Orte“, sagt Benjamin. „Ich war beispielsweise mal in einer riesigen Satellitenschüssel – ein wirklich magischer Lost Place. In verlassenen Hotels war bestimmt jeder Urban Explorer. Wenn du aber eine alte Tierarztschule erkundest, wo noch irgendwelche Tierteile in Einmachgläsern stehen, oder wenn du in eine stillgelegte Klinik kommst, wo es überall noch nach Desinfektionsmittel riecht, das ist einfach spannender.“ Auch dieser Bunkerraum wirkt durch die Beleuchtung und durch die weißen Kalkflecken an den Wänden – surreal.
„Dieses Hobby ist für mich ein Ausgleich zu einer Welt, in der alles immer höher, schneller, weiter, stressiger und lauter wird. Wenn ich dann an einem Lost Place bin und fotografiere, dann vergesse ich alles andere. Es ist für mich einfach ein Ruhepol. Mich fasziniert das Erkunden solcher Orte“. Seine Fotos stellt er auch aus. Zuletzt in der Raumgalerie in Stuttgart.
Der Kodex
Wir begeben uns auf den Weg Richtung Ausgang. Jeder Gang sieht gleich aus. Ich folge dem Schein von Benjamins Stirnlampe und entdecke in einem kleinen Loch ein knallgelbes Lackdöschen mit der Aufschrift „Tip Top“. „In diesem Stollen habe ich mal eine verrostete Pistole gefunden“, erzählt Benjamin. „Ansonsten habe ich schon oft irgendwelche alten Dokumente oder Briefe aus der Nazi-Zeit entdeckt.“ Doch der Fotograf wiedersteht der Versuchung und lässt alles an seinem Ort. Der Urban Explorer-Kodex besagt nämlich: Bewege dich unsichtbar, hinterlasse keine Spuren und lass alles an seinem Ort.
Wie komme ich hier raus?
Links um die Ecke, vierzig Meter gerade aus, links, nochmal links. Am Ende dieses Gewölbes sehe ich einen schwachen rosa Schein. Der Ausgang. Doch wie kommen wir dort hinaus? Die Öffnung sieht von hier unten noch viel kleiner aus, als von oben. „Warst du schon oft in gefährlichen, vielleicht sogar lebensgefährlichen Situationen durch das Urban Exploring?“, frage ich Benjamin. „Ja, schon oft. Ich war auch schon in Bergwerken, in die man nur hineinkam, indem man sich sechzig Meter in die Tiefe abseilt. Wenn ich aber solche Touren mache, gebe ich meistens irgendjemandem Bescheid. Ich sage den Leuten dann immer: ‚ich rufe dich in sechs Stunden an. Wenn du dann noch nichts von mir gehört hast, lass eine Stunde verstreichen und rufe dann diese und diese Nummer an.‘“
Wie ein Kleinkind krabble ich den Schutthaufen hinauf um durch das hell erleuchtete Loch in der Decke zurück in die mir bekannte Welt zu kommen.
Ich ziehe mich durch die Öffnung und stehe im Wald. Der Himmel ist grau, es regnet leicht. Hinter den Bäumen rauschen Autos über die Hauptstraße.
Vor wenigen Augenblicken habe ich Geschichte gespürt und weiß nun, weshalb Benjamin sich in solche Gefahren begibt. Ich war in einer vergessenen Welt.