„Und wenn man über jüdisches Leben spricht, dann spricht man plötzlich über Holocaust. Aber das ist es eben nicht. Da spricht man nicht über jüdisches Leben – über jüdischen Tod spricht man da.“
Seit dem siebten Oktober
Es ist 14.31 Uhr an einem recht sonnigen Sonntag. Die U14 nach Mühlhausen hält an der Haltestelle Fauststraße. Es steigen viel mehr Menschen ein als sonst um diese Zeit. Es sind auffallend viele Kinder in der U-Bahn. Ein Mädchen spielt an einem Tablet mit pinker Plastikhülle. Ein Vater kramt in seinem Rucksack nach einem weiteren Madeleine, diesem französischen Gebäck in einem Plastiktütchen. Seine Tochter hat schon eins bekommen. Sein jüngerer Sohn wartet noch geduldig. „Sind das dann Millionen Menschen?“, fragt die Tochter, nachdem an der Haltestelle Marienplatz noch viele weitere eingestiegen sind. Man sitzt sich fast gegenseitig auf dem Schoß. Aber heute scheint es fast niemanden zu stören, dass die U-Bahn so voll ist. Denn alle haben das gleiche Ziel. In den Sitzgruppen unterhalten sich fremde Menschen miteinander. „Nein, aber bestimmt ein paar Tausend“, meint ihr Vater. Die sonst so träge und bedrückte U-Bahn Stimmung scheint heute fast wie das Wetter draußen: etwas sonniger und angeregt.
An der Haltstelle Rathaus strömen die Menschen, die kleinen und die großen, alle in eine Richtung. Zielstrebig. Vereinzelt tragen sie Plakate in ihrer Hand. Am Marktplatz erreicht die Masse ihr Ziel. Die „Jüdische Studierendenunion Württemberg“ (JSUW) hat zu einer Kundgebung aufgerufen. „Demokratie, Vielfalt, Freiheit verteidigen - Stuttgart hält zusammen!“ Selbst der VfB Stuttgart hat ermutigt teilzunehmen - 8.000 Menschen sind dem Ruf gefolgt. Vor so vielen Leuten hat Alon Bindes noch nie gesprochen. Der Vorstandsvorsitzende der JSUW hält die sechste Rede an diesem Nachmittag: „Wir brauchen keine Extremist*innen in unserer Gesellschaft. Und erst recht nicht, um uns zusammenzubringen.“ Die Menge klatscht und jubelt. Ein Mann in mitten der Menge bewegt einen Gartenrechen zustimmend hoch und runter. Die Plakate werden noch ein Stück höher gereckt.
Von Hass und Vorurteilen
Nicht mal eine Woche zuvor, am Montag, hatte Alon zusammen mit dem Vorstand der JSUW beschlossen, die Kundgebung zu organisieren. Auslöser war die Veröffentlichung der Rechercheergebnisse von Correctiv. Drei Tage später sitzt der 26-Jährige in einem Stuttgarter Café und schaut stolz und zufrieden auf den Sonntag zurück. Alon Bindes ist gebürtiger Stuttgarter. Er ist Student und kurz davor, seinen Bachelor in Wirtschaft an der Uni Hohenheim abzuschließen. Er ist Musiker und spielt Geige im Uni Orchester. Und er ist Jude und seit drei Jahren auch Vorsitzender des sechsköpfigen Vorstands der JSUW. Alon möchte seine Identität nicht auf diesen letzten Teil beschränken: „Man kann sich auch mit anderen Dingen identifizieren. Mit Musik identifiziere ich mich auch - oder mit meinem Studium und mit meinen Interessen.“ Oft merkt Alon, wie seine jüdische Identität für andere negativ konotiert ist. Er erzählt von Hass und Vorurteilen, die ihm entgegengebracht werden, und wie er schon als Kind lernt, das zu akzeptieren. Dass er früher, um in den Kindergarten zu gehen, durch eine Doppelschleuse mit schusssicherem Glas musste oder jeden Sonntag auf dem Weg zur Gemeinde am Polizeischutz vorbeiläuft, ist für ihn „das Normalste auf der Welt“. Doch der Hass und die Vorurteile, die ihm oft begegnen, bestimmen nicht sein Leben: „Natürlich beschäftigt das einen, wenn Leute gegen einen sind, aber das ist nicht das, was meine Identität formt. Also wenn ich aufstehe, denke ich nicht 'Oh Gott, mich hassen alle'.“
„Der Antisemitismus war nie verschwunden. Die Antisemit*innen in den Schmuddel-Ecken des politischen Spektrums leider auch nicht“, erklärt Prof. Barbara Traub, Vorstandsvorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW), bei der Kundgebung. Antisemitismus beschreibt laut der von der Bundesregierung anerkannten Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen, die sich als Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ausdrücken kann.“ Dieser Hass äußert sich „in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Mit einer inneren Ruhe erzählt Alon von den Vorurteilen, die andere auf ihn projizieren, während er seinen Cappuccino trinkt. Alon selbst ist nicht religiös. Er ist müde von dem Narrativ der orthodoxen Juden und Jüdinnen, welches seiner Meinung nach viel zu oft in den Medien gezeigt wird, dafür, dass es nur auf zwei Prozent aller jüdischen Personen zutrifft. „Und wenn man über jüdisches Leben spricht, dann spricht man plötzlich über Holocaust“, erklärt er. „Aber das ist es eben nicht. Da spricht man nicht über jüdisches Leben – über jüdischen Tod spricht man da.“
Es ist noch ein weiteres Gesprächsthema dazugekommen: der Nah-Ost-Konflikt. Krieg. Mehr vom jüdischen Tod. Alon erzählt von der Hoffnungsstimmung unter den Juden und Jüdinnen in Deutschland in den Jahren und Monaten vor dem Angriff der Hamas auf Israel. Er war sich der steigenden Rate von antisemitischen Angriffen in Deutschland bewusst. Und doch beschreibt er die allgemeine Stimmung unter der deutsch-jüdischen Bevölkerung als hoffnungsvoll. Besonders in seiner jüngeren Generation hätte man diese Idee gehabt, dass man doch lauter und offener in der Gesellschaft sein könnte und vielleicht weniger Polizeischutz bräuchte. Initiativen wie die Jüdische Campuswoche, bei der durch Stände und Veranstaltungen an deutschen Unis Aufklärung über die deutsch-jüdische Kultur betrieben wurde, machten ihm Mut. Im Allgemeinen hätte es ein Aufleben im jungen jüdischen Leben gegeben. Doch dann kam der Bruch. Alon beschreibt es so: „Diese ganze Entwicklung, die es gab. Dieser ganze Optimismus, da wurde ein ganz großes Fragezeichen darüber gesetzt und dieses Fragezeichen besteht immer noch.“
Wie Hoffnung zu Angst wurde
Am 07. Oktober 2023 griff die palästinensische radikal-islamistische Terrororganisation Hamas Israel an. Seit dem herrscht Krieg in Gaza und Israel. Seit dem ist auch für Alon und seine jüdischen Freund*innen hier in Deutschland nichts mehr so, wie es mal war. Malita* ist ebenfalls Studentin hier in Stuttgart. Sie selbst ist in einer jüdischen Familie aufgewachsen. Ein Großteil ihrer Familie lebt in Israel. Rückblickend beschreibt sie die Tage und Wochen seit Beginn des Nah-Ost-Konflikts so: „Es ist ein Trauma. Ich konnte nicht schlafen. Ich hab geträumt von schreienden Kindern und Krieg.“ Nachdenklich schaut die 21-Jährige aus dem Fenster. Dann mit einem etwas traurigen Lächeln zurück in die Laptop-Kamera. Hinter ihr füllen bunte Bücher die allseitsbekannten weißen Ikearegale. Malita sagt, da ist eine „konstante Angst“, die sie seitdem begleitet. Ähnlich beschreibt es auch Alon: „Man hat einfach fucking Angst, rauszugehen. Man hat Angst, zur Uni zu gehen und sich irgendwie öffentlich zu zeigen.“
„Man hat einfach fucking Angst, raus zu gehen. Man hat Angst, zur Uni zu gehen und sich irgendwie öffentlich zu zeigen.“
Von Seiten der IRGW wird Juden und Jüdinnen in der Region geraten, sich nicht als jüdisch-erkennbare Menschen an öffentlichen Orten zu versammeln und bestimmte Orte, an denen pro-palästinensische Demonstrationen oder Anti-Israel-Proteste stattfinden, zu meiden. Der Zentralrat der Juden warnt davor, mit jüdischen Symbolen das Haus zu verlassen oder an öffentlichen Plätzen hebräisch zu reden. Während Alon erklärt, dass er viele dieser Dinge aus Angst teilweise auch unterbewusst nicht mehr gemacht hat, fällt ihm selbst nicht auf, dass er bei dem Wort „hebräisch“ die Stimme senkt. Dabei sehen die Frauen mittleren Alters, die in dem Café am Nachbartisch sitzen, alles andere als bedrohlich aus.
In der Bahn darauf zu achten, über welche Seiten man auf Instagram scrollt oder ein Telefonat mit dem Satz „Ich bin gerade in der Bahn“ zu beginnen, um zu erklären, dass man gerade nicht so offen reden kann, ist für Alon schon zum Automatismus geworden. Seit dem Krieg in Gaza und Israel achtet er noch mehr auf seine Sicherheit. Diese Vorsicht ist nicht unbegründet: In den drei Monaten nach dem 07. Oktober 2023 wurden laut dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung rund 2.250 antisemitische Straftaten erfasst. Im Vergleich dazu wurden im kompletten Jahr 2022 2.480 antisemitische Vorfälle in Deutschland gemeldet. Auch die Beratungsstelle für antisemitistische Gewalt und Diskriminierung OFEK arbeitet in den Wochen nach dem Angriff der Hamas im Krisenmodus. Sie erhalten innerhalb der ersten zwei Monate 647 Beratungsanfragen - das sind 275 Anfragen mehr als für gewöhnlich innerhalb eines kompletten Jahres.
Unsicher in der eigenen Heimat
Wegen der Angst, die den neuen Alltag von Alon und Malita prägt, gibt es eine Frage, die sich beide seit Kriegsbeginn stellen: „Kann ich mir eine Zukunft in Deutschland vorstellen?“ Alon geht fest davon aus, dass alle aus der jungen deutsch-jüdischen Generation mit dieser Frage konfrontiert sind. In einem Erfahrungsbericht über ihre ersten Gefühle und Gedanken aus Oktober schreibt Malita: „Ich habe mit meinen Freund*innen gesprochen, und wir haben alle gemeint, dass wir momentan lieber im Kriegsgebiet in Israel wären als in unserer eigenen Heimat.“ Sie habe sich im Leben noch nie so unsicher gefühlt. Alon erklärt, man hätte niemals erwartet, dass es irgendwann wieder möglich sein würde, dass Menschen auf der Straße offen dazu aufrufen, dass Juden und Jüdinnnen umgebracht werden sollen.
„Es fühlt sich noch alles so bisschen wie ein Fiebertraum an. Ich fühl mich bisschen von Deutschland distanziert.“ Vier Monate nach dem Angriff der Hamas auf Israel hat sich Malita von dem ersten Schock erholt. Im gleichen Atemzug erzählt sie, wie sie sich schlecht dafür fühlt, dass sie ihr Leben weiterleben kann und wie ihr Herz bricht, wenn sie an den Krieg in Israel denkt. Für die Zukunft wünscht Malita sich, dass Juden und Jüdinnen in Sicherheit in Deutschland leben können - ohne ihre Identität verstecken zu müssen. Damit das möglich wird, müsse die deutsche Bevölkerung laut Alon „klare Kante zeigen“: Es könnten nicht nur Jüdinnen und Juden gegen Antisemitismus kämpfen. Es brauche die ganze Gesellschaft. Diese Meinung vertritt auch Barbara Traub in ihrer Rede auf der Kundgebung am Sonntag. „Nie wieder ist genau jetzt“, sagt sie entschieden ins Mikrofon. Die Menschen aus der U-Bahn klatschen ihre Hände noch fester aufeinander. Das Jubeln wird lauter. Der Gartenrechen bewegt sich immer noch hoch und runter. Zustimmendes Pfeifen.
*Name der Interviewten wurde geändert, ist der Redaktion aber bekannt.