Achtsamkeit 6 Minuten

Reset im Kopf: Vom Multitasking zurück zum Augenblick

Frau überfordert am Telefon
Die Reizüberflutung in unserem Alltag. Symbolbild | Quelle: Lu Siegrist
12. Dez. 2024

Stress gehört bei vielen zum Alltag und Multitasking ist kaum wegzudenken. Ein Termin jagt den Nächsten. So rauschen die Tage an uns vorbei, ohne wirklich bewusst gelebt zu haben. Sind Achtsamkeit und Bewusstseinsarbeit eine Lösung? 

Gehetzt rennen wir aus der Tür, die Jacke noch nicht an, schon stecken wir uns die Kopfhörer ins Ohr und lassen unsere Playlist spielen. In der Bahn angekommen, holen wir unseren Laptop heraus. Das Dokument muss ja noch fertig gestellt werden. Immer wieder ploppt eine WhatsApp von einer Freundin auf. Schnell tippen wir eine Antwort ein. Multitasking, das können wir! Noch schnell Instagram und Co. abchecken und aus der Bahntür hetzen. …Crash! Aua… wir sind mit einer fremden Person kollidiert. 

Und zack, plötzlich sind wir wieder im Augenblick! 

Stress, ständige To-Dos und Dauerbeschallung sind längst feste Teile unseres Alltags. Unsere Gesellschaft kommt aus dem Strudel kaum mehr raus. Nicht ohne Grund hat Android schon vor Jahren die „digital wellbeing“-Funktion eingeführt, bei der man seine Nutzung analysieren und sich ein Tageslimit setzen kann. Eine App namens „Onesec" erinnert einen beim Öffnen von Apps sogar daran, tief ein- und auszuatmen, um achtsam zu sein.

Doch was hat es mit der Achtsamkeit auf sich?

Das beantwortet die Achtsamkeitslehrerin Silke Tsafrir aus dem Haus der Achtsamkeit in Stuttgart: „Achtsamkeit bedeutet, im Moment präsent zu sein und mit all seinen Sinnen zu fühlen. Was passiert im Außen und was macht das mit mir im Inneren?“ Man beobachte also seine Gedanken und Gefühle, ohne sie zu bewerten oder gar zu verurteilen. Doch häufig hindert unser Dauerstress daran, innezuhalten und mit unseren Gefühlen in Kontakt zu treten.

Wenn Stress ungesund wird...

Laut Mary Sengutta, Professorin für klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Apollon Hochschule in Bremen, ist Stress erstmal ein natürlicher Mechanismus in unserem Körper und ist grundsätzlich nützlich

„Wenn Stress zu stark ist bzw. chronisch wird, schafft der Organismus es manchmal nicht mehr, ein natürliches Gleichgewicht zu erhalten bzw. wiederherzustellen und Menschen können eine Minderung ihres Wohlbefindens und ihrer Leistungsfähigkeit erfahren oder sogar psychisch und körperlich erkranken“, erklärt sie. 

Auch Gedanken können im Körper Reaktionen hervorrufen. Oft wirkt sich das in Form eines erhöhten Cortisolausstoßes aus. Es gebe Hinweise darauf, dass das Gehirn kaum zwischen realer und gedachter Bedrohung unterscheiden könne, d.h. die bloße Vorstellung einer Bedrohung könne bereits starken Stress auslösen.

Mithilfe der Achtsamkeit lernt man die eigenen Gedanken als flüchtige mentale Ereignisse zu betrachten und daher weniger emotional auf sie zu reagieren, erklärt Mary Sengutta. Nimmt man die Gefühle bewusst wahr, würden sie schneller weiterziehen, betont auch Silke Tsafrir. Sie ist sich sicher, dass man Angst und Stress besser bewältigen kann, wenn man in einer guten Beziehung zu sich und seinem Körper steht. 

Wichtig: Achtsamkeit ist eine angeborene Fähigkeit und muss daher nicht erlernt werden. Das Einzige, was es braucht, ist Übung. „Wir verlernen im Laufe unseres Lebens einen achtsamen Umgang. Wenn Kinder spielen, sind sie vollkommen im Moment“, sagt Silke Tsafrir. Diese Eigenschaft könne man sich abschauen. 

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Möchtest du zur Ruhe und zurück in den Augenblick kommen? Versuche dich gerne an der kleinen Atemmeditation von Silke Tsafrir. Keine Sorge, das Gedankenkarussell zu Beginn ist ganz normal. | Quelle: Silke Tsafrir

Folgen einer unachtsamen Lebensweise

„Ist man unachtsam, agiert man häufig automatisiert und ist mehr mit gedanklichen Prozessen beschäftigt, als mit der aktuellen Situation, so entgeht einem viel“, erklärt Mary Sengutta. Die Erfahrung des gegenwärtigen Moments mit all seinen Attributen tritt somit in den Hintergrund. Ob und welche Folgen dies für die Gesellschaft habe, könne man jedoch nur vorhersagen.

„Achtsamkeit ist kein Tanz auf dem Regenbogen“, betont der Musiker und Podcaster Alexander Freise. Sie sei an manchen Tagen harte Arbeit und koste viel Übung. Dennoch ist die achtsame Lebensweise für ihn kaum mehr wegzudenken. „Ich habe lange Zeit versucht, durch meinen Konsum ein großes Loch zu stopfen.“ Alexander lenkte sich ab und rutschte in die Pornosucht. Er wollte sich am liebsten aus der Welt „beamen“ und seine Gefühle abschalten, alles ohne Erfolg. „Klopft man seine Gefühle und Bedürfnisse unter den Teppich, kommen sie immer auf der anderen Seite wieder hervor“, sagt Alexander. Auf die Frage wie er auf die Achtsamkeit gestoßen ist, antwortet er: „Durch ein Leben voller Unachtsamkeit.“ 

„Achtsamkeit ist kein Tanz auf dem Regenbogen!"

Alexander Freise, Musiker und Podcaster

Wie wirkt sich eine achtsame Grundhaltung auf die Gesellschaft aus?

Auf diese Frage antwortet der Podcaster mit einer Gegenfrage: „Wie will man andere wahrnehmen, wenn man noch nicht mal sich selbst wahrnimmt?“ Ein achtsamer Umgang im Leben ermöglicht es, empathisch auf Menschen zu reagieren. Wie ein Radar, nimmt man nun die Bedürfnisse seiner Mitmenschen wahr, erklärt Alexander. „Umso mehr herzzentrierte Menschen umherwandeln, desto stärker wachsen wir als Gesellschaft.“ 

Selbstliebe ist für eine positive Veränderung in der Gesellschaft jedoch eine wichtige Voraussetzung, da sind sich Alexander und Silke einig. „Selbstliebe ist kein Egoismus, sondern eine Grundlage, um anderen Menschen mit Liebe zu begegnen“, betont er. Individuen, die über den Tellerrand hinausschauen und sich als Teil einer Gemeinschaft sehen, das sei das Ziel.

„Umso mehr herzzentrierte Menschen umherwandeln, desto stärker wachsen wir als Gesellschaft.“

Alexander Freise

Doch wie integrieren wir nun mehr Achtsamkeit in unseren Alltag?

Gewohnheiten sind die Lösung für mehr Achtsamkeit. Forschende der Duke University haben herausgefunden, dass 33 bis 54 Prozent unserer täglichen Aktivitäten Gewohnheiten sind. Um neue Gewohnheiten aufzubauen, sei es laut Gehirnforscher Gerald Hüther daher sehr wichtig, alte Gewohnheiten zu beobachten und immer wieder Pausen in den Alltag zu integrieren. So entsteht die Möglichkeit, selbstbestimmt zu entscheiden, welchen Weg wir gehen möchten. Gerald Hüther benutzt die Metapher einer Autobahn, um neue Gewohnheiten zu etablieren. Wiederholtes Denken und Handeln bahne neue Wege im Gehirn. Das Wiederholen sei von großer Bedeutung, da aus einem Trampelpfad irgendwann eine Landstraße und daraus eine Autobahn entstehe. Um bewusster den Alltag zu gestalten, ist es daher wichtig, achtsame Gewohnheiten zu etablieren.

Reiz und Reaktion im Körper

Betrachtet man die Aussagen aus neurowissenschaftlicher Hinsicht, kommt man an den zwei Mechanismen der Reizverarbeitung „bottom up“ und „top down“ kaum vorbei. 

Bei der bottom-up Verarbeitung reagiert man unwillkürlich auf Reize. „Wir müssen unsere Aufmerksamkeit nicht dorthin lenken, dies geschieht sozusagen automatisch“, sagt Mary Sengutta. Greift man zum Beispiel aus Gewohnheit nach einer Mahlzeit zu einer süßen Nachspeise, passiert dies häufig mit der bottom-up Verarbeitung. 

„Top-down bedeutet im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit, dass man diese bewusst auf einen Stimulus, bzw. auf Aspekte lenkt, die für uns gerade relevant sind.“ Dies ist der Wunsch der Achtsamkeitspraxis. Man lenkt die Aufmerksamkeit auf bestimmte Erfahrungsaspekte. „Wir lernen, uns auf Attribute des gegenwärtigen Momentes zu fokussieren, z.B. die eigene Atmung“, erklärt Mary Sengutta. 

Achtsam leben mit Yoga

„Praktiziert man Yoga, hat man keine Zeit zum Grübeln“, sagt Achtsamkeitscoach und Yogalehrerin Silke Tsafrir. Der Geist werde ruhiger, da man sich gleichzeitig auf Atmung und Bewegung konzentrieren muss. Für Silke ist diese Sportart eine Art Ausgleich zu dem sonst stressigen Alltag. „Die gesunden Bewegungen, mit denen man seine Kraft aufbaut und die Flexibilität steigert, wirken sich sehr positiv auf das ganze System aus“, erklärt sie. Auch Holger Cramer ist schon lange in der Yoga-Forschung aktiv. Im Interview mit Geo Wissen betont er, dass Yoga nicht immer spirituell, sondern mittlerweile häufig auch als Rehabilitation und Sportprogramm genutzt wird. Auch Mary Sengutta, Professorin für Psychologie, äußert sich positiv zum Yoga: „Es gibt erste Hinweise darauf, dass Yoga eventuell hilfreich sein könnte bei der Linderung von Depressivität.“

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Yoga und Meditation gewinnen in Relation zu anderen komplementären Gesundheitsansätzen stark an Zuspruch. | Quelle: National Center for Complementary and Integrative Health

Kritik an der Achtsamkeit

In den sozialen Medien kursieren viele Gerüchte über die Auswirkungen der Achtsamkeit. Mary Sengutta betont jedoch, dass die meisten Aussagen nicht verifiziert sind. Es gibt viele unterschiedliche Studien, die sich widersprechen und methodische Mängel aufweisen. Die Folgen der Unachtsamkeit und ob unsere Gesellschaft tatsächlich immer unbewusster lebt, seien daher nicht bestätigt. 

Auch Tobias Esch warnt in seinem Buch „Mehr Nichts!“ vor dem großen Trend. Der Gesundheits- als auch Neurowissenschaftler erklärt: „Der Umsatz mit Achtsamkeits-Apps und meditativen Online-Angeboten macht allein in den USA inzwischen über zwei Milliarden Dollar jährlich aus."

Nachdem wir jetzt wissen, wie wichtig Achtsamkeit ist, lassen wir unser Handy auf der Heimfahrt also einfach mal in der Tasche. In der Bahn schließen wir die Augen und lassen die Geräusche auf uns wirken. Nachdem wir tief ein- und ausgeatmet haben, steigen wir mit einem kühlen Kopf aus der Bahn. Wir sind nun bereit, offen und empathisch auf neue Menschen zuzugehen!