„Humor ist das beste Transportmittel, um so ein sensibles Thema wie meins zu transportieren. Es ist lebensnotwendig für eine bessere Welt.“
Der Tag „R“, also der Tag des Rollstuhls wie ihn Caglar nennt, war ein Schock und stellte sein Leben auf den Kopf. Caglar sitzt im Rollstuhl. Der 41-Jährige leidet an der angeborenen Krankheit Spina Bifida (offener Rücken), die eine Fehlbildung des Rückenmarks bewirkt. Bereits in der Jugend weist Caglar eine deutliche Gehbehinderung auf. Mit 25 Jahren ist er endgültig auf den Rollstuhl angewiesen. „Der Rollstuhl war immer so ein Planet, der um mich herum gekreist ist, aber immer noch sehr weit weg war“, erzählt er. Auf die Frage, was er aus seinem Schicksal mitnimmt, antwortet er: „Wenn die eine Tür zufällt, gehen andere auf. Und je stärker sie zufällt, desto mehr Wind macht sie, um andere zu öffnen.“ Bis er jedoch zu dieser Ansicht kam, musste Caglar erst eine schwere Zeit durchmachen.
Als Caglar in den Rollstuhl muss, gerät er in eine Depression. Ein Leben ohne seine Leidenschaft Basketball ist für ihn in dieser Zeit undenkbar. Den zweijährigen Zeitraum seiner Depression beschreibt er als „freiwilligen Lockdown“: Sein Zuhause in Hildesheim verlässt er nicht, er kündigt seinen Job als kaufmännischer Angestellter in einer Werbeagentur und meidet die Gesellschaft. „Ich habe nur noch meine Eltern an mich rangelassen.“
Er entdeckt Rollstuhlbasketball für sich und beginnt den Sport nach anfänglichen Bedenken zu lieben. Dabei spielt er sich bis in die erste Bundesliga hoch, raus aus seinen eigenen vier Wänden in eine Halle mit rund 400 Zuschauer*innen. Rollstuhlbasketball öffnet Caglar plötzlich eine ganz andere, vor allem buntere Lebenswelt. Es befreit ihn aus seiner Depression. Er selbst beschreibt mir die Sportart als „eine Welt zwischen Bewunderung und Behinderung“.
Mit dem Sport öffnen sich viele weitere Türen: Caglar steigt in die Modelbranche ein und schafft es 2016 als erstes Model im Rollstuhl auf den Laufsteg der Berliner Fashion-Week. Dabei ist ihm besonders eines wichtig: Inklusion zeigen. Um die Gesellschaft mehr auf diese Thematik aufmerksam zu machen, wird er kurze Zeit später Motivationscoach. Er leitet Seminare an Firmen, Schulen und sozialen Einrichtungen. Mit dem Projekt „Neue Sporterfahrung“ will er schon Kindern und Jugendlichen den Umgang mit Menschen mit Behinderung näherbringen. „Sie sollten eine neue Perspektive kennenlernen.“ Dafür lässt er sie Rollstuhlbasketball spielen und nutzt dabei besonders ein Mittel: Humor.
„Humor ist das beste Transportmittel, um so ein sensibles Thema wie meins zu transportieren. Es ist lebensnotwendig für eine bessere Welt.“
Caglar merkt, dass ihm Humor ein viel größeres Durchdringen zu den Menschen ermöglicht. Aus diesem Grund wird er Comedian und will so das Thema Inklusion präsent machen. Mit Offenheit erzählt der Deutschtürke in seiner Show „Rollt bei mir“ von seinen Alltagsgeschichten und den merkwürdigen Fragen, die ihm Passant*innen stellen. „Ich werde auch gefragt, wie ich denn eigentlich Sex haben kann", sagt er schmunzelnd. Überraschenderweise findet Caglar vor allem intime Fragen „großartig". Dadurch sehe er das gesellschaftliche Interesse an einem Leben mit Handicap.
Die Gesellschaft sei im Umgang mit Menschen mit Behinderung häufig unsicher und unaufgeklärt. Viele Menschen würden ihm gegenüber Berührungsängste haben. Diese Situationen baut er gekonnt in seine Auftritte mit ein und antwortet meist schlagfertig und sarkastisch. „Ich finde es ganz interessant, viele Passanten trauen sich mehr, wenn sie mich aus dem Fernsehen kennen, weil dann muss es mir ja gut gehen" , meint Caglar.
Es gebe nichts, was Caglar mehr hasse als das Wort „Behinderung“. „Was ist denn dann normal?“, fragt er. Laut ihm solle es normal sein, „behindert“ zu sein: „Alles was vorkommt ist normal, sonst wäre es nicht da.“
„Inklusion ist das selbstständige Miteinander, egal mit wem und was.“
Der Gesellschaft fehle es an Präsenz von Inklusion. „Jeder zehnte Mensch hat eine Behinderung, glaube ich. Aber da frag‘ ich mich ehrlich gesagt, wo sind die denn alle?“ Beispielsweise kritisiert Caglar, dass Menschen mit Behinderung im öffentlichen Leben, wie im Fernsehen, kaum zu sehen seien. Seine neue Aufgabe als Schauspieler bei „In aller Freundschaft“ und dem Tatort sieht er deshalb als „überfällig“ und „dringend notwendig“ an. Ihm fehle die Offenheit in der Gesellschaft und die Mittel zur gemeinsamen Kommunikation, die er durch Unterhaltung in Form von Comedy und Schauspielerei stärken wolle. Schon beim Intro seiner Auftritte wird dem Publikum seine Haltung zu dem Thema deutlich. Er wird unter anderem mit der Beschreibung: „Der Mann, der auch im Brandfall den Fahrstuhl benutzt“, auf der Bühne präsentiert.
Mit Unterhaltung versuche Caglar Aufklärung zu schaffen. Er wolle zeigen, dass er kein Rollstuhl-Comedian sei, sondern ein Comedian, der rein zufällig im Rollstuhl sitze. Bei seinen Auftritten fokussiere er sich deshalb nicht nur auf Rollstuhlfahrer-Witze und spreche seine Behinderung lange auch nicht an. „Gebt zu, ihr habt auch schon vergessen, dass ich im Rollstuhl sitze“, sagt er seinem Publikum kurz vor dem Ende seiner Show. Sein Leben mit dem Rollstuhl würde Caglar auch nicht mehr für gesunde Beine eintauschen wollen. „Der Rollstuhl ist in gewisser Weise eine Form meiner Persönlichkeit geworden, [...] die Base würde verloren gehen.“ Ich bin auch der Meinung, dass ihm der Rollstuhl zum Erfolg verholfen hat. Dadurch, dass er selbst betroffen ist, kann er Rollstuhlfahrer-Witze und das Thema Inklusion viel empathischer und persönlicher transportieren. Ich glaube, dass Caglar durch seine Leistung im Basketball auch ohne seinen Rollstuhl bekannt geworden wäre. Aber ich denke, dass sich die Türen zur Comedy und zum Thema Inklusion vor allem durch den Rollstuhl öffneten. Durch seine offene und einzigartige Persönlichkeit hat er Erfolg und diese ist mit dem Rollstuhl herangewachsen.