„Ich wollte einfach schnell wieder in diesen Modus kommen, in dem ich über mein Leben bestimmen kann.“
„Meine Behinderung macht mich perfekt.“
Ein Ausweis, der alles verändert. Manche Menschen sehen den Schwerbehindertenausweis als Ausgleich für Nachteile an, die durch eine Behinderung entstehen können. Durch ihn können Menschen mit Behinderung eine längere Kündigungsfrist oder mehr bezahlte Urlaubstage erhalten. Andere sehen den Ausweis als eine Titulierung, die sie sich selbst nicht geben wollen. Denn „behindert“ wird von der Gesellschaft meist mit Werturteilen wie „anormal“ oder „hilflos“ gleichgestellt.
Das Bild des behinderten Menschen ist in der Gesellschaft von vielen Stereotypen geprägt: Menschen mit körperlicher Behinderung bekommen dieses Bild am meisten mit, wenn zum Beispiel hinter ihrem Rücken gemurmelt wird. Durch den fehlenden Kontakt zu Behinderung reagieren Menschen entweder distanziert oder mit übertriebener Freundlichkeit und Bewunderung, wie gut die Person mit ihrer Behinderung zurechtkommt.
Diabetes – ihr Leben, ihr Hobby, ihr Beruf
Stephanie wird im Alter von 18 Jahren mit Diabetes Typ 1 diagnostiziert. Diabetes ist eine chronische Erkrankung, bei der ein Teil der Bauchspeicheldrüse vom eigenen Körper zerstört wird. Das hat zur Folge, dass kein Insulin mehr produziert wird. Insulin kann man sich als Türsteher der Zellen vorstellen, der die aus der Nahrung gewonnenen Energie hineinlässt. Ohne Insulin wird also auch keine Energie aufgenommen. Deshalb müssen sich Diabetiker*innen dieses spritzen, um zu überleben.
Nach ihrer Diagnose will Steffi am liebsten so weiterleben wie zuvor: Festivals, Reisen und Dates mit ihrem Freund. Den Diabetes nimmt sie wie einen stummen Begleiter überall mit hin. Phasen, in denen sie trotzt oder die Krankheit leugnet, hat sie nicht. Aber sie beschäftigt sich in den Jahren nach der Diagnose auch nicht mit ihren emotionalen und psychischen Veränderungen.
Erst mit den richtigen Ärzt*innen und dem Kontakt zu anderen Diabetiker*innen aus der Onlinecommunity beginnt Steffi, sich mehr mit den Auswirkungen auseinanderzusetzen. In ihrem Leben habe sie bisher alles machen können, was sie sich vorgestellt hatte, sagt sie. Verzichten muss sie nur auf wenige Dinge wie das Auslandsjahr in Vietnam. Trotzdem begleitet sie lange die Angst, ihr Diabetes könne als Schwäche erachtet werden. Es fällt ihr deshalb viele Jahre schwer, sich selbst als behindert zu bezeichnen.
Das liegt vor allem daran, dass behinderte Menschen in der Gesellschaft als „unvollständig“ oder „schwächer“ wahrgenommen werden. Viele Menschen prägt das Vorurteil, Behinderte könnten kein erfülltes und selbstbestimmtes Leben führen. Genau dies sei nicht der Fall, erklärt Steffi. Inzwischen bezeichnet sie sich als Mensch mit Behinderung. Der Antrag für einen Schwerbehindertenausweis steht bei ihr dieses Jahr ganz oben auf der To-do-Liste.
In der Diabetes-Community ist es ein umstrittenes Thema, ob man als Diabetiker*in als behindert gilt. Ein Teil der Community hat eine ähnliche Sichtweise wie Steffi früher: Man möchte nicht mit dem hilfsbedürftigen Bild von behinderten Menschen verglichen werden. Andere Diabetiker*innen haben das Gefühl, es sei übertrieben zu sagen, man wäre behindert. Beide Sichtweisen sind meist stark von verinnerlichter Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderung geprägt.
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In den Profilen sozialer Medien taucht immer öfter der Begriff „Inkluencer*in“ auf. Dabei handelt es sich um Influencer*innen, die sich besonders für die Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit einsetzen. Sie verlangen Gehör in den Medien und der Politik und Solidarität und Verständnis von den Mitmenschen statt Mitleid. Und vor allem zeigen sie, wie schön das Leben ist. Natalie Dedreux ist Inkluencerin und spricht über ihr Leben mit Down-Syndrom.
„Meine Behinderung macht mein Leben nicht schwieriger. Sie macht es perfekt.“
Beim Down-Syndrom kommt eine Abweichung in der Anzahl der Chromosomen vor. Üblicherweise haben Menschen 23 Chromosomenpaare, auf denen das Erbgut wie die Augen- oder Haarfarbe gespeichert ist. Menschen mit Down-Syndrom werden mit einem zusätzlichen Chromosom im 21. Paar geboren, weshalb man es auch als Trisomie 21 bezeichnet. Durch das zusätzliche Chromosom sind Teile des Erbguts dreifach statt doppelt vorhanden, was zu Fehlbildungen in unterschiedlicher Ausprägung führen kann.
Im Kindes- und Jugendalter nimmt sich Natalie schon immer als „anders“ wahr. „Anderssein“ ist für sie etwas Cooles. Mit dem Down-Syndrom aufzuwachsen sei spitze gewesen. Schwierigkeiten oder Hürden hatte sie dabei nicht zu überwinden. Sie genießt ihr Leben und träumt groß. Zunächst zieht sie aus ihrem Elternhaus in Köln in eine inklusive Wohngemeinschaft ein. Dann beschließt sie, dass sie nicht wie viele andere behinderte Menschen in einer Werkstatt arbeiten möchte.
Natalie ist Journalistin und arbeitet beim Magazin „Ohrenkuss“. Seit 1998 bietet das Magazin Autor*innen mit Down-Syndrom die Chance, Artikel zu schreiben und so Gehör zu finden. Natalie gehört seit 2016 dazu und ist stolz darauf, hier ihren Traumberuf leben zu können. Mit einem breiten Grinsen erzählt sie, dass sie als Journalistin bereits mit Persönlichkeiten wie dem Musiker Kasalla oder der Bundeskanzlerin Angela Merkel sprechen durfte.
„Es ist wichtig, dass man uns ernst nimmt. Viele behandeln uns wie Kinder. Wir wollen akzeptiert werden.“
Menschen mit Down-Syndrom werden auf der Straße häufig angestarrt. Natalie würde denjenigen dann am liebsten sagen, dass das nervt. Durch ihr Selbstbewusstsein und ihre ehrliche Kölner Art, traut sich Natalie gelegentlich auch, in solchen Situationen zu kontern. Ihre Lebensfreude und ihr Mut inspirieren. Sie akzeptiert sich so, wie sie ist, würde nichts an sich verändern wollen und setzt sich für Dinge ein, die ihr am Herzen liegen. Ihr Wunsch ist mehr Mitspracherecht für Menschen mit Behinderung.
Selbstakzeptanz kann für jeden anders aussehen. Manchmal muss man hart daran arbeiten und andere Male ist sie einfach vorhanden.