„Die Bewerbungsmappe muss die eigene Persönlichkeit widerspiegeln.“
Ist außergewöhnlich das neue Normal?
Lukas kommt als Letzter in der Bibliothek an. Die anderen haben es sich schon an einem Ecktisch in der Lernwelt gemütlich gemacht. Er stellt seinen grau melierten Herschelrucksack auf einen Stuhl neben die Tasche von Sina, einen handgeknüpften Jutebeutel aus Kork, der in allen Farben des Regenbogens strahlt und seine Umgebung langweilig wirken lässt. Sina hat ihn aus ihrem Auslandssemester in Kambodscha mitgebracht, wo sie ihn von einer Einheimischen im Kirirom National Park gekauft hat. Lukas' Rucksack hingegen fällt neben dem Jutebeutel kaum auf.
Durch und durch durchschnittlich
Ähnlich verhält es sich, wenn man die Besitzer der Taschen betrachtet. Lukas‘ Äußeres passt zu seinem Lebenslauf: vollständig und zweckerfüllend, aber unspektakulär. Er hat sein Abitur an einem allgemeinbildenden Gymnasium gemacht und im Anschluss daran begonnen, an einer Hochschule in der Region zu studieren. Er wusste schon immer genau, was er will. Ganz anders Sina: Sie hat ihr Freiwilliges Soziales Jahr als Entwicklungshelferin in Haiti verbracht, gibt neben der Uni sozial benachteiligten Kindern Nachhilfe und war im Lauf ihres Studiums noch zwei weitere Male im Ausland.
„Ich wünschte, ich könnte solche Dinge in meinen Lebenslauf schreiben“, denkt Lukas. Er sieht an sich herunter. „Vielleicht sollte ich auch etwas dafür tun, damit mich die Leute für besonders halten.“
Der Druck, außergewöhnlich zu sein
So wie unser fiktiver Charakter Lukas fühlen sich viele Studenten. Es herrscht der Druck, besonders zu sein und etwas Außergewöhnliches zu machen. Kaum ein Hochschulabsolvent hat noch keine Zeit im Ausland verbracht. Die meisten engagieren sich sozial oder haben ein abgefahrenes Hobby. Es ist normal, außergewöhnlich zu sein. Wer da nicht mithält, der befürchtet, unterzugehen. Und dieses permanente Konkurrenzdenken kann sich durchaus auf das Wohlbefinden auswirken.
Psychologen sehen die Erklärung für dieses Phänomen vor allem in der stabilen wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Durch das starke soziale System und die politische Ordnung sind alle grundlegenden Bedürfnisse der Menschen erfüllt, sodass wir uns abstraktere Dinge wünschen: Wir wollen uns selbst verwirklichen und kämpfen um Anerkennung. Das Ziel ist es dabei, herauszustechen und sich von der Masse abzuheben. Vor allem die Kinder der 1990er und frühen 2000er Jahre, die sogenannte Generation Z, neigen zu einem solchen Verhalten.
Um sich außergewöhnlich fühlen zu können, müssen sich Menschen mit anderen messen. Das geschieht im Rahmen eines sozialen Vergleichs: Sie beobachten ihre Umwelt und bewerten anschließend ihr eigenes Handeln. Das Ziel ist laut dem Urheber der Theorie, dem Sozialpsychologen Leon Festinger, ein möglichst positives Selbstbild aus dem Vergleich ziehen zu können. Eine wichtige Rolle kommt dabei den sozialen Medien zu. Die Instagram-Profile junger Leute sind gefüllt mit sorgfältig ausgewählten Fotos. Die Erfolge und Besonderheiten anderer üben Druck auf uns aus. Es kann durchaus passieren, dass der Vergleich beim Durchscrollen des Feeds nicht zufriedenstellend für die eigene Person ausfällt. Die Folge: schlechte Laune, allgegenwärtiger Leistungsdruck und sogar Depressionen.
Bekommen nur Besondere einen Job?
„Sina hat’s gut!“, denkt sich Lukas. „Die bekommt bestimmt jeden Job, den sie will.“ Er hält inne. Zwar hat er immer fleißig gelernt und kann gute Noten vorweisen, Sinas Lebenslauf ist jedoch wesentlich ausgeschmückter. „Wie soll man gegen so jemanden auf dem Arbeitsmarkt ankommen?“, fragt er sich und mustert seine Kommilitonin.
Für viele Studenten ist Herausstechen vor allem aus beruflichen Gründen ein Muss. „Einige Unternehmen setzen heutzutage bereits ein Auslandssemester voraus“, erklärt Benjamin Simon, Bewerbungscoach bei der A.S.I. Wirtschaftsberatung in Stuttgart. Das gelte vor allem für große und bekannte Firmen. Daraus lasse sich allerdings keine magische Formel ableiten, mit der man jeden Job bekommt. Schließlich habe jeder Arbeitgeber unterschiedliche Anforderungen an Bewerber. „Das Gesamtpaket muss stimmen“, meint der Experte.
Es bringt also nichts, außergewöhnliche Dinge zu machen, nur um anschließend seinen Lebenslauf damit schmücken zu können. Der Bewerbungscoach empfiehlt, zwei persönliche Themen in den Lebenslauf einzubauen, um im Bewerbungsgespräch eine Vorlage für Smalltalk zu haben. Und am allerwichtigsten: Dein CV muss zu dir passen.
Lukas lächelt zuversichtlich. Sein Blick wandert zu seinem Rucksack. Vielleicht geht er ja doch mal zu einer Infoveranstaltung für Auslandsaufenthalte. Aber nur, wenn er wirklich Lust dazu hat.
Die Geschichte von Lukas und Sina ist zwar frei erfunden, der Druck, außergewöhnlich zu sein, ist hingegen real. Doch wie stehen die Studierenden der HdM eigentlich dazu? Edit. hat sich für euch umgehört.