„Ich hatte immer das Gefühl, es macht etwas mit mir, sich das alles anzuschauen.“
Ist das Kunst oder kann das weg?
Es hört sich an, als würden Murmeln auf den Boden prasseln. Man hört den Aufprall jeder einzelnen Kugel. Ines hat den Raum noch nicht betreten. Nur noch wenige Meter, dann wird sie sehen, was sich hinter dem Murmelrätsel verbirgt. Nur noch durch die Tür und sie steht mitten in dem Zimmer. Murmeln kann sie keine sehen, dafür aber einen Haufen winziger gelb-roter Pillengehäuse. Ines schaut nach oben. Die Pillen kommen nicht irgendwoher, sie fallen aus einem kleinen Loch in der Decke. Ansonsten ist der Raum leer. Fast leer. Ganz hinten in der Ecke steht ein Wasserspender. Pillen und Wasserspender. Ines zählt eins und eins zusammen: Soll sie die Pillen etwa schlucken?
Kunststudium – und dann?
Ines Dalheimer studiert „Freie Bildende Kunst“ an der Kunsthochschule in Mainz. Die Studentin ist im ersten Semester und gehört somit der Basisklasse an. Diese ergibt sich aus allen Studierenden des ersten und zweiten Semesters. Ines erzählt, dass die Basisklasse rund um die Uhr Zugang zu einem eigenen Atelier hat. Alle Studierenden haben einen Schlüssel und können selbst entscheiden, wann sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen wollen. Schon ihr kulturelles FSJ in der Kostümabteilung im Stadttheater in Freiburg habe der 20-Jährigen gezeigt, dass es sie in die kreative Richtung zieht. Kostüm- oder Bühnenbildnerin stehe immer noch in der engeren Berufsauswahl. Auch das Thema tätowieren sei in Kreisen der Kunststudierende oft Thema. Ines hat sich während der Coronapandemie ihre eigene Tätowiermaschine gekauft: „Ich konnte malen und dann dachte ich mir: Easy, tätowieren kann ich auch.“
Eine Ausstellung als „lebender Organismus“
Ines erzählt, dass ihr Vater sie schon als kleines Kind mit in Museen genommen hat. „Ich hatte immer das Gefühl, es macht etwas mit mir, sich das alles anzuschauen.“ Für die Studentin sei ein Museumsbesuch eine besondere Art der Unterhaltung. Ines vergleicht den Besuch damit, ein Buch zu lesen. Ein Buch rege einen zum Nachdenken an und bleibt noch lange im Kopf. Ähnlich empfinde sie auch, wenn sie sich eine Ausstellung ansehe.
Vergangene Woche ging es für die Studentin in die Schweiz für eine Exkursion. Innerhalb von drei Tagen klapperten die Kunststudierenden sieben verschiedene Museen und Ausstellungen ab. Ein Museum hat es Ines besonders angetan: die Ausstellung der Fondation Beyeler in der Nähe von Basel. Das erste Mal seit 25 Jahren werde nicht nur das gesamte Museum, sondern auch der umliegende Park zum „Schauplatz einer experimentellen Präsentation zeitgenössischer Kunst“, heißt es auf der Internetseite des Ausstellers. Weiter heißt es, die Ausstellung würde sich als „lebender Organismus“ verstehen, der sich stetig verändert und wandelt. Aber was genau bedeutet das in der Praxis?
Die Pillen, die aus dem Loch in der Decke fallen, sind nur ein kleiner Teil der lebhaften Ausstellung. Ines erzählt von der Situation, als sie in einen der Museumsräume läuft, in dem ein Mann und eine Frau zu sehen waren, die ihr wie normale Besucher vorkamen. Beide seien dunkel angezogen gewesen, er mit Brille und Adidas Sneaker, sie mit einem T-Shirt aus Samt und Chucks. Umso überraschter sei die Kunststudentin gewesen, als die Personen angefangen haben ungewöhnliche Töne von sich zu geben und sich auffällig tanzend durch den Raum zu bewegen. Das Schauspiel fügte sich für Ines nach und nach zu einem Bild zusammen. Die Künstler*innen hatten zu dem Zeitpunkt angefangen zu singen, zu beatboxen und zu pfeifen. Die Studentin erzählt, wie sie und die anderen Studierenden langsam erkannt haben, dass die Performenden eine Sinfonie von Bach darstellten. „Man hat sich das angeschaut und wollte direkt mittanzen“, erinnert sich die 20-Jährige. Im Fachgenre trägt diese Darstellung von Kunst ihren eigenen Namen: „Performance Art“.
Performance Art, auf Deutsch oft als „Aktionskunst“ bezeichnet, ist eine Kunstform, bei der die Darbietung oder Handlung der Künstler*innen selbst das Kunstwerk darstellt. Im Gegensatz zu traditionelleren Kunstformen wie Malerei oder Skulptur, bei denen das Kunstwerk ein physisches Objekt ist, ist die Performance Art flüchtig und vergänglich.
Quelle: Kunstplaza
Und für alle Techno-Liebhaber: Das Museum pflegt seit 2016 eine Kooperation mit dem Club „Nordstern“ aus Basel. Bei den sogenannten „sun.set“ – Events legen samstags verschiedene DJs auf dem Parkgelände der Fondation Beyeler auf. Elektronische Musik trifft auf moderne Kunst.
Gen Z und Kunstmuseen – passt das zusammen?
Um an der Kunsthochschule in Mainz angenommen zu werden, musste sich Ines zuvor einem Bewerbungsgespräch stellen. In dem Gespräch sei sie gefragt worden, wie relevant Kunstmuseen für sie persönlich wären. Ines Antwort: Sie würde sich vor allem auf Social Media mit Kunst auseinandersetzen. Durch das Kunstinteresse ihres Vaters seien aber auch Museen schon früh Teil ihres Lebens gewesen.
„Kunstverständnis ist eine Art Weltverständnis.“
Doch sind Kunstmuseen für die heutige Generation noch relevant? Ines sagt: „Es kommt auf die Interessen an, so wie in jeder Generation“. Die Studentin glaubt nicht, dass es ein allgemein schwächeres Interesse an Kunst gebe. Museen müssten aber interessanter, interaktiver und vor allem zugänglicher werden. Sie ist der Meinung, dass auch der Geldaspekt eine Rolle für viele junge Menschen spiele. Deswegen würde sie sich in Zukunft eine größere Staatsförderung diesbezüglich wünschen. Die Fondation Beyeler verlangt 25 Schweizer Franken als regulären Eintritt. Für Personen unter 25 Jahren ist der Besuch in das Museum kostenlos.
Ines vertritt die Ansicht, man sollte Kunst nicht als „Bubble“ verstehen. Kunst beziehe sich auf sämtliche Bereiche des Lebens, sei es Politik oder Geschichte. „Kunstverständnis ist eine Art Weltverständnis“, so die Studentin.
Moderne Kunst, um dem System zu entfliehen
Ein einzelner Strich auf einer weißen Leinwand soll Kunst sein? Gerade abstrakte Kunst wird von vielen Leuten belächelt. Vor wenigen Monaten erst gab es einen Trend auf Tiktok, bei dem die Scherzfrage „Ist das Kunst oder kann das weg?“ auftauchte. Damit soll gezeigt werden, dass man heutzutage Kunst nicht mehr klar erkennen könne. Ines ist sich dessen bewusst: „Ich glaube, dass viele Menschen moderne Kunst nicht mehr als Talent sehen.“ Früher sei es mehr um Technik gegangen. Die moderne Kunst stelle sich gegen den Effizienzgedanken „Je schneller du realistisch malen kannst, desto besser bist du.“ Heutzutage komme es auf andere Dinge an, so die Studentin. Sie persönlich mag die Veränderung in der Kunst. Deutschland verkörpere für die 20-jährige Struktur und System. Die moderne Kunst biete der Gesellschaft eine Möglichkeit, mal anders zu denken und den Menschen auf eine andere Art und Weise Themen näherzubringen. Sie befürchtet jedoch, dass diese Veränderung die Leute dazu bringen könnte, weniger Zugang zur Kunst zu finden. Dass Kunstmuseen aussterben, glaubt Ines nicht. Sie müssten sich nur der Zeit anpassen.
Ines starrt immer noch auf die gelb-roten Pillen auf dem Boden. Ein Kommilitone hat herausgefunden, dass man die Teile scheinbar sorgenfrei Schlucken kann. Ihr ist bewusst, dass bei dieser Art von Kunst gezielt mit ihren Gefühlen und Gedanken gespielt wird. Ein Gefühl von Unsicherheit, aber auch Vertrauen machen sich bei der Kunststudentin bemerkbar. Zwiegespalten läuft sie auf den Pillenhaufen zu, pickt sich eine Tablette raus und schluckt sie.