„Ich an deiner Stelle würde mich umbringen“
Kobold im Kopf
Ein unkontrollierter Schlag an die Schläfe. Geräusche, die wie Grunzen und Krächzen klingen. Zähneklappern. Augenzwinkern. Menschen bleiben stehen, starren, laufen weiter.
Nicht die dunkelblau-orange gefärbten Haare sind das, womit er die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Jean-Marc Lorber hat das Tourette-Syndrom: Fast sein ganzes Leben begleiten den 41-Jährigen nun schon verbale und motorische Tics und somit auch die Blicke Fremder, unangebrachte Kommentare und Diskriminierung. Was mit starkem Blinzeln als Neunjähriger angefangen hat und später als Tourette-Syndrom diagnostiziert worden ist, ist heute ein Teil von ihm.
Dr. Richard Musil, Oberarzt des Universitätsklinikums München und Leiter der Tourette-Ambulanz, beschreibt das Tourette-Syndrom wie einen Kobold im Kopf. Bei Betroffenen tritt dieser mal mehr und mal weniger kontrolliert in Form von Tics auf. Unterschieden wird hierbei zwischen motorischen, also plötzlichen, einschießenden Bewegungen und verbalen Tics. Das heißt, Betroffene geben einzelne Silben oder Sätze von sich, wobei die Ausprägung stark variieren kann. Die Ursache ist unbekannt, allerdings spielt die genetische Veranlagung eine Rolle. Ebenso können Infekte ein möglicher Grund sein.
„Die Intoleranz ist das Schlimmste. Menschen geben dir zu verstehen, dass du weniger wert bist“, berichtet Jean. Schon früh muss er erfahren, dass Diskriminierung zu seinem Alltag gehört. Während seiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann hat eine Kundin das von ihm verpackte Brot zurückgeben lassen. „Sie hatte Angst, dass Tourette ansteckbar ist.“ Sein Lächeln erstarrt für einen kurzen Augenblick. Als wäre er für einen Moment in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Auch in der Berufsschule sind Jean die Kommentare nicht erspart geblieben.
Es war für ihn nahezu unmöglich, einen Job zu finden, als er seine Lehre abgeschlossen hatte. Nach heuchlerischer Toleranz in Bewerbungsgesprächen folgte nach ein paar Tagen Probearbeit eine Absage. „Meine Chefin sagte mir, dass sie von meinen 'komischen Bewegungen' Bauchschmerzen bekommt. Und dann schmeißen sie dich deswegen raus.“
Jean berichtet von dem Mal, als sein Vorgesetzter den Arbeitsvertrag zerrissen hat.
„Es ist schwer, seinen beruflichen Weg zu finden, denn man bekommt oft Steine in den Weg gerollt“, erinnert er sich zurück. Die nächste Herausforderung lauerte. Nach der Ausbildung hat Jean für ein halbes Jahr als Paketkurier gearbeitet. „Das ist eigentlich der ideale Job für Menschen mit Tourette“, stellt er rückblickend fest. Während der Fahrt ist er konzentriert, weshalb die Tics nachlassen. Solange das Paket übergeben wird, kann er die Tics unterdrücken und im Auto die angestaute Energie rauslassen. Der Haken? Man vereinsamt. „Ich bin dann doch einen Tick kommunikativer“, spaßt er und lacht herzlich über sein Wortspiel.
Diese offene Art kommt ihm in seiner Aufklärungsarbeit, die er heute betreibt, entgegen. „Viele glauben immer noch, Tourette heißt 'Arschloch' rufen, dabei ist es nur ein kleiner Prozentsatz, der Koprolalie hat. Bei den meisten klingen verbale Tics eher wie ein halber Zoo“, schmunzelt er.
„Unter Tourette stellen sich viele die Extremform vor, bei der Betroffene Schimpfwörter und obszöne Sätze rufen. Das nennt man Koprolalie, kommt jedoch nur sehr selten vor. Medien tragen zu einem falschen Bild bei, indem Tourette immer in Verbindung mit Ausdrücken genannt wird“, erklärt Dr. Musil.
Gerade im Fernsehen wird oft nur diese Seite des Tourette-Syndroms gezeigt. „Es gibt regelrechte Tourette-Castings: Wer am meisten flucht wird gesendet“, berichtet Jean. Deshalb sieht er es als seine Aufgabe, als Referent aufzuklären und von seinen Erfahrungen zu erzählen. Information und Humor in Kombination mit Musik ist seine Art, Wissen zu vermitteln. „Musik ist meine Therapie“, erzählt er stolz, „bei Medikamenten weiß ich nicht, was sie aus mir machen.“ Dr. Musil bestätigt, dass tatsächlich bei vielen Betroffenen die Tics nahezu verschwinden, während sie musizieren. „Diese Form von Kreativität ist eine Art der Selbsttherapie“, so der Oberarzt.
„Ich bin in die künstlerische Szene gekommen und tue jetzt das, was mir mega Spaß macht", lässt Jean seine Vergangenheit Revue passieren – er atmet durch: „... dank Tourette.“ Vom diskriminierten Arbeitnehmer, dessen Arbeitsvertrag zerrissen wurde, bis hin zum freien Künstler, Musiker, Hörbuch-Autor und Leiter der Tourette-Selbsthilfegruppe in Stuttgart. Jean zeigt, dass man sich niemals auf seine Krankheit reduzieren lassen darf. Vielmehr sollte man die positiven Dinge daraus ziehen, wie auch Jean, der dankbar für seinen ständigen Turbo im Kopf ist.
„Das ist der Weg, den ich jetzt gehe und ich bin noch lange nicht am Ende.“