„Das Pferd ist der Haupttherapeut.“
"Viele denken, man therapiert Pferde."
Es ist ein kalter, grauer Wintermorgen. Bei genauem Hinschauen kann man die Folgen der regnerischen und stürmischen Nacht zuvor noch erkennen: Kleine Äste liegen auf dem Boden des Reiterhofs herum. Das große Eingangstor zum HPZ liegt am Fuße einer Kastanienallee, auf der linken Seite des Körschtals in Scharnhausen. Die Physiotherapie und Verwaltung sitzt im idyllischen alten Schlössle, umringt von Koppeln, der Reithalle, Wiesen und dem Stall. Weiter hinten ist auch ein umgestürzter Baum, erzählt Hippotherapeutin Rebekka Graf, während wir vor der Reithalle auf ihre Patientin Manuela S. warten.
Als diese im Taxi mit leichter Verspätung ankommt und auf die Rampe geschoben wird, ist die Kälte vergessen. Sie hat seit 36 Jahren die Krankheit Multiple Sklerose, seit 2010 kann sie sich nur noch im Rollstuhl sitzend fortbewegen. Manuela S. wirkt zwar etwas aufgeregt, doch die Vorfreude auf das Reiten ist ihr anzusehen. Gleich wird sich ihr Blickwinkel für eine halbe Stunde ändern. Sie ist dann auf einer anderen Höhe, als sonst im Rollstuhl. Manuela S. ist für das stürmische Wetter gewappnet. Eine dicke braune Winterjacke und ihr gemusterter hellroter Schal schützen Hals und Rücken vor der kalten Luft. In ihrer weinroten Hose erkennt man sie sofort.
Jetzt müssen sich alle gut konzentrieren, denn die Aufgabe erfordert höchste Aufmerksamkeit. Manuela S. wird aus dem Rollstuhl auf das Pferd Donna gehoben. Besonders auf die Stellung des Beckens muss hier geachtet werden. Dieses sollte während der Therapie mittig auf dem Pferd sitzen, damit die Körperlängsachse gerade ist und die Patientin mehr Aufrichtung erlangt. Das Pferd darf auch nicht zu weit von der Rampe entfernt stehen, sonst klappt das Aufsitzen nicht. Hippotherapeutin Graf hebt die Patientin von oben auf die braune Stute und die Pferdeführerin hilft von unten aus der Reithalle und sorgt dafür, dass Donna auch ruhig und geduldig stehen bleibt. Anstelle eines Sattels wird bei der Hippotherapie ein Therapiepad und ein Therapiegurt verwendet. Kaum auf der Stute angekommen, verändert sich der Gesichtsausdruck der Reiterin. Sie lächelt und strahlt Zuversicht aus. „Das Schöne ist, dass es für mich gar nicht so sehr eine Therapie ist, sondern dass es quasi gefühlt wie ein Hobby ist. Das Gefühl von Normalität: ich sitze auf dem Pferd und vergesse die Behinderung.“ Wenn man den Hintergrund nicht kennen würde, käme man nicht unbedingt auf die Idee, dass dort eine Frau mit einer starken Spastik in den Beinen reitet. Mit jeder Runde, die das Team in der Reithalle dreht, scheint Manuela S. lockerer und unbeschwerter zu sitzen. Ihr blondes, knapp schulterlanges Haar weht leicht im Wind. Neben der psychischen Lockerung und Entspannung, besteht der Hauptzweck der Therapie in diesem Fall daraus, den erhöhten Muskeltonus, die Spastik, zu lösen. Dies passiert, während das Pferd in der Gangart Schritt am Langzügel geführt wird. Auf den Körper des Patienten, insbesondere das Becken und den Rumpf, werden dreidimensionale Schwingungsimpulse des Pferderückens übertragen. Dadurch muss die Muskulatur der Patientin so arbeiten, dass Gehen theoretisch möglich ist. Graf erklärt dieses gangphysiologische Rumpftraining so: „Das ist eigentlich unser Ziel: dass der Körper so vorbereitet ist, dass Gehen möglich wäre. Dass die Muskulatur gelockert ist und die Muskelspannung aufgebaut wird und Schmerzzustände gelindert werden. Ein Pferd arbeitet immer nur in einer physiologischen Bewegung. Diese Bewegung ist ökonomisch, meine Gelenke werden niemals endgradig bewegt. Dadurch werden meine Gelenke immer nur in einem Maße durchmobilisiert, die ich nachher brauche, um mich bewegen zu können.“
Damit dies auch gelingt, arbeiten Pferd, Patientin, Hippotherapeutin und Pferdeführerin als interdisziplinäres Team zusammen. Die Therapeutin läuft neben dem Pferd her und kann mit ihren Händen taktile Reize geben, damit eine Bewegungserweiterung in den Gelenken entsteht. Außerdem ermuntert sie die Patientin verbal, sich aufzurichten oder nach links oder rechts zu rutschen. Sie gibt der Pferdeführerin auch vor, welche Hufschlagfiguren in der Reitbahn geritten werden sollen, um unterschiedliche Kräfteeinwirkungen auszulösen. Dennoch betont Graf:
Mit Manuela S. geht das Team entweder an der äußeren Bahn entlang oder macht einen großen Kreis auf der Hälfte der Bahn. Diese Hufschlagfiguren nennt man ganze Bahn und Zirkel.
Graf trägt ihre braunen Haare zu einem Dutt hochgesteckt und ist sonst mit dickem Anorak, schwarzer Reithose und Schnürboots für die Arbeit auf einem Pferdehof gerüstet. Die Hippotherapeutin und die junge Pferdeführerin wirken wie ein eingespieltes Team.
Nach einer halben Stunde ist die Therapiestunde hoch zu Ross beendet und Manuela S. wird wieder in den Rollstuhl befördert. Die nächsten Patienten stehen schon auf der Rampe bereit für ihre Therapieeinheit. Das HPZ Scharnhausen bietet auch andere Formen des therapeutischen Reitens an. Dazu gehören, neben der Hippotherapie, auch die heilpädagogische Förderung und der Para-Dressursport. Jetzt schiebe ich sie an den Ställen vorbei ins Schloss, wo sie nun 30 Minuten Pause macht. Wir wärmen uns auf und nutzen die Zeit für ein Gespräch. Die Frage, ob sie sich da draußen auf dem Pferd an ihr altes Leben ohne die Krankheit MS zurückerinnert, bejaht Manuela S. Sie erzählt: „Dieses Gefühl von Leichtigkeit. Durch die Spastik ist ja alles so schwer. Diese Sehnsucht, ich möchte leichtfüßig die Treppe runterhüpfen. Dann ist das ein Stück davon.“ Dieses Erlebnis bleibt vielen Betroffenen verwahrt. Denn Hippotherapie ist seit 1996 nicht mehr im Heil-und Hilfsmittelkatalog verankert. Damit ist Hippotherapie eine Maßnahme für Selbstzahler, welche von der Krankenkasse so gut wie nie übernommen wird. Auch Manuela S. habe bereits bei ihrer Krankenkasse eine Kostenübernahme angefragt, doch
„da stößt man auf taube Ohren.“
Woran liegt das? Rebekka Graf, stellvertretende Leitung des Betriebs, kritisiert: „es gibt viel zu wenig Studien, die belegen wie wertvoll die Hippotherapie ist.“ Bei der Krankheit Multiple Sklerose bestehe das Problem auch darin, dass Ausprägung und Symptome der Krankheit zu unterschiedlich seien und jeder sehr individuelle Verbesserungen zeige. Dies erschwere es, Teilnehmergruppen für Studien zu finden. Im November 2017 wurde eine Studie im britischen Multiple Sclerosis Journal veröffentlicht, welche erstmalig den positiven Effekt der Hippotherapie auf höchstem wissenschaftlichem Niveau nachweist. Dafür wurden 12 Wochen lang zwei Gruppen von MS-Patienten behandelt. Nur in der Interventionsgruppe wurde Hippotherapie durchgeführt, um anschließend einen Vergleich ziehen zu können. Die Studie belegt den „höheren positiven Effekt auf Lebensqualität und MS-spezifische Symptome wie Fatigue (chronische Müdigkeit) und Spastizität“ in der Interventionsgruppe. Auch der Gleichgewichtssinn habe sich signifikant verbessert. Hippotherapie als ergänzende Behandlung könne als Ein-Patient-ein-Pferd-Physiotherapie-Behandlung mit und auf dem Pferd charakterisiert werden. Diese Wirkung auf die Psyche bestätigt auch Manuela S. Für sie sei das quasi ihr Medikament: „Das tut mir einfach gut.“ Manuela S. war schon immer gerne draußen in der Natur. Ihre früheren Hobbies Wandern, Radfahren oder Schwimmen kann sie nicht mehr ausüben. Im Gegensatz zu anderen Behandlungen stehe für sie nicht der Therapiegedanke im Vordergrund, sondern auch die familiäre Atmosphäre. Hier hilft jeder jedem. Während unseres Gesprächs im Gemeinschaftsraum kommt auch mal ein Hund zu ihr, den sie liebevoll streichelt. Bei einem Blick durchs Fenster sehen wir, dass es draußen mittlerweile heftig regnet. Manuela S. hatte Glück, als sie geritten ist. Nach einer halben Stunde betritt die Physiotherapeutin den Raum, denn Manuela S. wird jetzt in der Praxis ein Gehtraining absolvieren. Aber selbstständig laufen können wird sie nie wieder.