Familienbäckerei

„Brezel geht immer!“

Nach einer langen Arbeitsnacht verbringt Ingmar Krimmer Zeit mit Tochter Melina und dem zweijährigen Sohn Jona.
01. März 2018

Seit Jahren ist die Anzahl an Bäckereibetrieben rückläufig. Ingmar Krimmer, Vater und Bäckermeister im Familienbetrieb Krimmers Backstub‘, ist dennoch zuversichtlich. Er spürt keinen Druck, obwohl Backshops und Discounter-Backwaren den Marktpreis drücken. Wo liegt die Schuld, wenn Traditionsbäckereien aussterben?

12 Uhr nachts. Der erste Husten plagt. Gezeichnet durch Staub im Rachen, Staub an den Händen und Staub in den Augen, arbeitet Ingmar Krimmer unermüdlich weiter. Er feuchtet seine Hände im Wassereimer, greift in die riesige Schüssel und zieht. Der Teigschaber trennt die klebrige Masse und Ingmar klatscht sie auf die Waage des Rezeptcomputers. Sein Augenmaß stimmt, die Teigmenge liegt im Toleranzbereich.

Bäckermeister Ingmar Krimmer verlässt auch freitags gegen 23 Uhr Ehebett und Kinder. Er läuft hinunter in Krimmers Backstub‘ und beginnt seinen Arbeitstag, während andere in Bars oder Clubs feiern. Der damals 26-Jährige übernahm 2014, gemeinsam mit Ehefrau Tanja Krimmer, den alten Bäckereibetrieb Hille in Untermünkheim, im Landkreis Schwäbisch Hall.

Das Ruchspitz mit Schweizer Mehl ist eine Eigenkreation Krimmers und das erste Brot, das jeden Moment für drei schrille Pieptöne verantwortlich ist. „Der Ofen sollte nie leer stehen, deshalb müssen wir Teige schnell und fehlerlos produzieren“, erklärt Ingmar, dessen Augenringe herausragen, wenn das Licht schlecht fällt. Das nächtliche Wettrennen mit dem Ofen hat längst begonnen. Die gegenüberliegende Arbeitsfläche ist schon mit einer Mehlschicht von Geselle Volker überzogen. Ingmar kennt die Arbeitsabläufe im Schlaf. Mit schwarz-weiß karierter Arbeitshose, einem weißen T-Shirt und der Backschürze dazwischen, stellt er sich neben seinen Kollegen. Der Mehleimer steht griffbereit. Einschlagen, ein Stück drehen, einschlagen und ein Stück drehen, so formt Ingmar Krimmer mit Handarbeit seine Brote. Das Saatenkornbrot legt er in eine Mischung aus Bio-Sonnenblumenkernen, Bio-Leinsamen, Bio-Haferflocken und Bio-Roggenvollkornschrot. Anspannung und Konzentration zeichnen sein Gesicht, das Piepen beginnt. Gemeinsam ziehen die Bäckermeister ihre Brote aus dem Ofen, die mit Wasser besprüht werden – für den Glanz, versteht sich. Kurzes Durchatmen bei Ingmar und ein genussvoller Augenblick.

„Das ist der schönste Moment, wenn wir Brote rausholen und die gut aussehen. Dann lohnt es sich aufzustehen.“

Ingmar Krimmer

Auf der Straßenseite gegenüber, fünf Minuten Fußweg, steht eine Discounter-Filiale in Untermünkheim. Sie öffnete neun Monate nach Krimmers Backstub‘. Neben der integrierten Bäckerei Kern verkauft auch die Filiale Backwaren: Das Kaisergold für 14 Cent, das Mohngold für 15 Cent, die Knabberstange für 45 Cent und den Berliner für 49 Cent. Zu deren Herstellung heißt es: „Wir bitten um Ihr Verständnis, dass wir aus Wettbewerbsgründen keine Details zu dem Thema kommunizieren.“ Auch die Tankstelle in Untermünkheim verkauft innerorts Backwaren.

Um zwei Uhr befreit Volker die Arbeitsfläche und Ingmar kehrt das Mehl vom Boden. „Ich fühle mich eigentlich nicht unter Druck. Aber ich mache das erst vier Jahre, von daher möchte ich nicht so groß schwätzen, es können auch andere Zeiten kommen.“ Im Moment sei er überrascht, wie gut der Laden läuft.

Nach Angaben der Handwerkskammer Heilbronn-Franken schlossen innerhalb der letzten zehn Jahre rund 20 Prozent der Bäckereibetriebe in der Region. Ende 2017 waren es noch 190 Betriebe, die überlebt haben.

Doch Ingmar und sein Kollege backen weiter. Auf Hochtouren. Die Fenster von Krimmers Backstub‘ beschlagen, obwohl Ventilatoren gegen den Dampf kämpfen. Die Bäckermeister tragen auf ihrer Schulter ein Holzbrett nach dem anderen mit frischgebackenem Brot in Richtung Regal, bis Ingmar stockt: „Ach, Scheiße!“ Die Milchkapsel-Brote mit 100 Prozent Weizen hätten noch drei Minuten gebraucht, doch er habe sich keinen Wecker gestellt. Neu backen funktioniert nicht, da der Vorteig bereits mittwochs angesetzt ist, donnerstags der Teig gemacht wird und anschließend die Ruhezeit bei Kühlung folgt. „Wenn eins danebengeht, nagt das die ganze Zeit, auch wenn 90 Prozent schön geworden sind“, gesteht Ingmar, dessen Kontrollblick in den Ofen nun strenger wird. Doch wenn in der Nacht von Freitag auf Samstag die letzten Brote, von insgesamt 250 Kilogramm, im Backofen aufgehen und ihre knusprige Kruste erhalten, löst sich seine Anspannung.

Um drei Uhr ist Schichtbeginn für den Meister Tobias und Gesellin Chie. Damit folgt der Startschuss für die Tagesproduktion von 1.200 Brezeln. Nach nächtlicher Ruhe, blüht das Team jetzt auf. „Das ist ein bisschen Tradition, wenn wir Brezeln machen, schalten wir das Radio an“, lacht Ingmar. Was in der Industrie über Fließband und den Brezelschlinger läuft, verarbeiten Gesellen und Meister überwiegend von Hand: Aus einem Bruch presst die Maschine 30 Teigportionen, damit die Brezeln jeweils gleich groß sind. Danach zieht Volker die Teigschlangen Stück für Stück raus. Ingmar steht nun zwischen seinen Kollegen und schnappt sich ein paar der Schlangen. Im Akkord rollen sie die Teiglinge aus, in der Mitte bleibt ein dicker Bauch, links und rechts außen wird der Teig dünn. An beiden Enden hochgezogen, eine kurze Drehung und schon liegt die erste Brezel auf dem Blech. Spielerisch leicht läuft die Massenproduktion, Hand in Hand, ohne Murren und mit viel Leidenschaft für das Produkt.

Auch Ingmars Frau Tanja verlässt das Schlafzimmer und startet um vier Uhr in der Backstub‘. Die 27-Jährige beginnt Brot und „Weckle“ in Körben zu sortieren, die an Lieferkunden ausgefahren werden. Das Babyfon für die beiden Kinder Melina und Jona hat sie griffbereit. Eine halbe Stunde später schlägt es Alarm: Windelwechsel für den zweijährigen Jona. Nach rund sechs Stunden Arbeitszeit nimmt Volker eine Pause, auch Ingmar zwingt sich die Backstub‘ zum Frühstück zu verlassen. Eine Genussentscheidung zu treffen, fällt ihm jedoch schwer: „Im Moment finde ich das Ruchspitz ziemlich geil. Aber eigentlich ist mein Lieblingsbrot das Hohenloher Genetzte. Grundsätzlich bin ich einfach Brotesser, ich sage immer: Lieber Brot wie Weckle! Aber eine Brezel geht immer.“

„Viele Bäcker haben es in meinen Augen nicht verstanden, den Markt zu bedienen.“

Ingmar Krimmer

Nach dem Frühstück herrscht wieder Zeitdruck: Bis 5:45 Uhr will Ingmar alles Kleingebäck fertigmachen, um die Brezeln frisch auszubacken. Sein weißes T-Shirt ist an Schürze und Bauch längst braun eingestaubt. Zum wiederholten Mal fegt er den Mehlboden in der Backstub‘. Schließlich regt ihn das angestaubte Image der Bäckerbranche auf: „Das Problem ist nicht, dass kein Markt für Bäcker da ist. Viele Bäcker haben es in meinen Augen nicht verstanden, den Markt zu bedienen, weil sie immer noch Fertigmischungen einsetzen und Teiglinge zukaufen. Das macht auch der Discounter und verkauft es noch für die Hälfte.“ Wenn die Ware gleich schmeckt, warum solle der Verbraucher nicht zur preiswerten greifen? Die Versorgung könne die Industrie locker gewährleisten.

Krimmers Backstub‘ setzt auf eine andere Strategie, die mit hoher Qualität durch regionale Bio-Rohstoffe beginnt, über Transparenz durch Backworkshops und Zutatenlisten mit dem Anspruch eines Fachgeschäfts endet. So möchten Ingmar und Tanja Krimmer den Markt für Kunden bedienen, die darauf Wert legen. Trotz der Getreideverwendung von Familie Jesser aus Kochersteinsfeld und einer sorgsam dosierten Nutzung von Bio-Hefe, plagen Ingmar Sorgen: „Obwohl der Trend eigentlich dahingeht, dass wir einen großen Markt haben, ist trotzdem die Angst da, wie es sich entwickelt, weil alles so schnelllebig ist.“ Doch cool sei für ihn positives Feedback, daraus ziehe er Kraft.

Krimmers Backstub' produziert Freitagnacht rund 250 Kilogramm Brot.

Währenddessen stolpert Auszubildende Iris in die Backstub‘. Sie ist eine von knapp 18.000 Auszubildenden, die der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks im Jahr 2016 erfasste. Zehn Jahre zuvor waren es mit rund 33.000 Auszubildenden noch fast doppelt so viele. Als Grund, was das Bäckerhandwerk selbst falsch gemacht habe, sieht Ingmar die Ausbeutung und schlechte Bezahlung über Jahre, dazu käme ein gesellschaftliches Problem, dass der Beruf zu wenig anerkannt werde. Iris ist heute ab vier Uhr verantwortlich für Krimmers Berliner. Mit einer Stoppuhr bewaffnet, legt sie zuerst die eine, dann die andere Berlinerseite in die Fritteuse. Eingespritzt wird, auf den Gramm genau, eine handgemachte Himbeer-Johannisbeer-Konfitüre aus dem Schwarzwald. Süßes Stück für süßes Stück legt sie die Oberseite noch in Puderzucker, bevor die Berliner für 1,20 Euro verkauft werden.

Eine Stunde vor Ladenöffnung trudeln auch die Verkäuferinnen ein. Für rund 400 Kunden füllen sie Krimmers Verkaufsfläche mit frischgebackenem Brot und Kleingebäck. Zeit für Ingmar und seine Kollegen, um die vorbereiteten Brezeln auszubacken. Volker legt die erste Ladung auf die Schiene: Ein Laugen-Wasserfall platscht auf die Brezeln ein. Auf der anderen Seite steht Ingmar: Ein Messer in der linken und ein Messer in der rechten Hand, so schlitzt er den Bauch der Brezeln auf und streut etwas Salz hinein. Pünktlich zur Ladenöffnung liegen sie im Verkaufskorb. Die Brezeln seien schließlich immer unter den Top fünf Artikeln am Ende des Tages, wenn Ingmar nach ein paar Stunden Bäckerverwaltung im Büro wieder Schlaf sucht.