„Ich bin da total blauäugig rein und wusste nicht, was mich erwartet.“
Von Beruf Postkartenschreiberin
Zahlreiche Gäste schlappen mit Winterschuhen zur Theke in die Stuttgarter Café-Bar. Doch unter einem der Tische strecken nackte Füße hervor. Dort sitzt Sabine Rieker und schreibt. Ihr Oberkörper ist gebeugt und ihr Kopf nur eine Haaresbreite vom Stift entfernt. Zur Begrüßung leuchten ihre blauen Augen auf und ein breites Lächeln füllt den Raum. Dann taucht sie aus ihrer Gedankenwelt auf und schenkt mir eine Postkarte. „Danke fürs Sein ganz allgemein“, steht darauf geschrieben.
Sabine, als Kind wolltest du Schriftstellerin werden. Hat sich dein Wunsch erfüllt?
Ich habe schon länger für mich herausgearbeitet, dass Postkartenschreiben meine Art der Schriftstellerei ist. Ich bin am glücklichsten, wenn ich schreibe und indem ich das tue, bin ich für mich Schriftstellerin. Ob das jemand anderes auch so sieht, ist mir dann relativ egal.
Du schreibst also hauptberuflich Postkarten?
Genau.
Wie gestaltest du deinen Arbeitsalltag?
Sehr abwechslungsreich. Wenn ich in Stuttgart bin, gehe ich meistens frühstücken und fange dort an zu schreiben. Nachmittags schreibe ich zu Hause weiter, kaufe ein oder mache E-Mails fertig. Gestern war ich noch in Bonn, morgen fahre ich nach Zürich und im Anschluss nach München. Der Ortswechsel inspiriert mich und fließt in mein Schreiben ein.
Von wem erhältst du Postkarten-Aufträge?
Wenn man nicht zu Hause im stillen Kämmerchen schreibt, kann es passieren, dass Gäste von Cafés oder die Besitzer einen darauf ansprechen und mich bitten eine Postkarte für Familie, Freunde oder Bekannte zu schreiben. Es kommt selten vor, dass jemand eine konkrete Vorgabe macht, so schreibe ich von Herzen das, was mir im Moment einfällt.
Bestimmt freuen sich die Empfänger deiner Postkarten. Negative Reaktionen sind kaum vorstellbar.
Negative Reaktionen kamen bisher weniger von außen, sondern eher von meiner Familie, die das irgendwie nicht so nachvollziehen konnte, wie alle anderen. Das hat ein bisschen länger gebraucht. Da kamen dann ablehnende Worte oder auch irgendwie eine ablehnende Karte von meiner Mutter. Andere Kommentare waren wiederum so bestärkend, dass ich dachte: Also gut, von einer Person muss ich mir jetzt keine Panik einreden lassen.
Du kommst aus einer kleinen Gemeinde bei Meisburg in Rheinland-Pfalz. Warum hast du dich damals entschieden, dort in der Nähe zu studieren?
Nach dem Abi wollte ich eigentlich gleich nach Stuttgart, hab’s mir damals aber noch von meinen Eltern und meiner Nachbarin ausreden lassen. Sie meinten: „Die Schwaben sind schwierige Menschen, da wirst du niemals Freunde finden.“ So landete ich in Bonn zum Studium.
Welche Fächer hast du belegt?
Ich habe Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Ich dachte, das probiere ich mal aus. Dabei bin ich geblieben und habe es durchgezogen.
Parallel zu deinem Studium hast du bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft gearbeitet, die als gemeinnütziger Verein den Wissensaustausch in der Physik fördert. Was hat dir daran gefallen?
Ich glaube, nach wie vor gefällt mir recherchieren und einpflegen. Also Ordnung in die Dinge zu bringen und eine Überschrift dafür zu finden. Schließlich suchte die Deutsche Physikalische Gesellschaft jemanden, um eine Adressdatenbank zu pflegen.
Wie ging es nach dem Studium weiter?
Ich habe die Stelle als Assistentin der Geschäftsführung bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft angenommen, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen will. Ich habe nie ein Praktikum in die Richtung meiner Studiengangsfächer gemacht. Da war ich froh, dass ich quasi übergangslos eine Anstellung hatte, um Geld zu verdienen.
Danach bist du in die Werbebranche eingestiegen. Wie kam es dazu?
Von dem einen auf den anderen Tag glaubte ich, schon immer segeln zu wollen. Im Nachhinein würde ich das als innere Stimme oder sowas betrachten. Innerhalb meines Assistenzjahres habe ich einen Segelschein gemacht und kam mit einem Mann am Steg ins Gespräch, der meinte: „Das passt doch nicht zusammen, deine Leidenschaft fürs Schreiben und jetzt bist du bei den Physikern.“ Er fragte und fragte immer weiter. Ich habe ihm dann erzählt, dass es schon immer mein Traum war, vom Schreiben leben zu können, dass ich aber das, was ich schreibe nicht als wertvoll erachte. Der andere Grund war meine Hamburg-Sehnsucht. „Was ist denn so toll an Hamburg? Warst du mal dort?“, fragte er. Dann bin ich tatsächlich spontan nach Hamburg gefahren und da fiel mir die Texterschmiede wieder ein.
Eine Art Ausbildung?
Ja, das ist so ein Konzept, dass man tagsüber zwei sechsmonatige Praktika in Werbeagenturen macht und abends Theorieunterricht besucht.
Hat dir das Arbeiten in der Texterschmiede Spaß gemacht?
Jein. Also es war alles unheimlich anstrengend. Alles war neu: Neue Stadt, neue Menschen, neue Arbeit. Im Theorieunterricht haben wir dann total schöne Werbung besprochen und bearbeitet. Tagsüber hat man eher Allerweltwerbung gemacht. Da habe ich gemerkt, dass ich total verkopft bin, dass ich stundenlang recherchiere und dann doch keinen Satz zusammenbekomme. Ich bin da total blauäugig rein und wusste nicht, was mich erwartet.
Du hast mit dir gekämpft?
Ich hatte das angefangen und wollte es durchziehen. Doch nach ein paar Wochen hatte ich einen kleinen Nervenzusammenbruch, weil mal wieder eine Deadline angestanden war und ich wieder nichts auf die Reihe bekommen habe.
In einem total netten Gespräch mit meinen Chefs ergab sich dann aber, dass ich so hohe Erwartungen an mich selbst habe, die mich vollkommen blockieren. Ich solle es doch genießen, einfach nur ein Praktikum zu machen. Dann lief es auch viel besser. Aber ich wusste trotzdem, so auf Dauer, dass es nicht das Richtige für mich ist.
Wann hast du dich entschieden Postkartenschreiberin zu werden?
Also grundsätzlich habe ich immer Postkarten geschrieben, auch in den alten Jobs. Aber zeitbedingt viel weniger, als heute. Das war immer etwas, das ich gern gemacht habe.
Neben dem Schreiben segelst du auch gerne. Was steckt hinter dieser Leidenschaft?
Ich bin auf diesem Boot so präsent, dass da einfach kein Raum für Gedanken ist, links und rechts. Das ist total angenehm und ruhig. Diese Naturverbundenheit im Wasser, sich einfach treiben zu lassen und an Ziele zu segeln, wo man vorher noch nicht war. Darüber ergab sich auch einer meiner größten Sammelaufträge als Postkartenschreiberin. Zur Erinnerung für Teilnehmer einer Segelschule schreibe ich individuelle Foto-Postkarten, quasi als schönes Souvenir an ihre Ausbildungswoche. Nach dem Vorbild eines anderen Segellehrers bin ich Pfingsten letzten Jahres auch die ganze Woche barfuß gesegelt.
Deshalb auch heute keine Schuhe?
Ja, ich habe es einfach mehr und mehr in den Alltag übernommen. Das ist schon ein großer Ausdruck von Freiheit für mich. Im Winter probiere ich es solange, wie es sich okay anfühlt.
Wie führte dein Weg letztendlich von Hamburg nach Stuttgart?
Nach der Zeit in Hamburg arbeitete ich erstmal wieder bei den Physikern in Bonn. Es gingen wieder zwei Jahre ins Land, dann kündigte ich. Dieser Drang hörte nicht auf, herauszufinden, was ich will. Um Struktur in meinen Alltag zu bekommen, besuchte ich regelmäßig ein Café in Bonn. Morgens stand ich da auf der Matte und habe angefangen zu schreiben. Da ist es mehr und mehr Menschen aufgefallen und ich erhielt meine ersten Aufträge als Postkartenschreiberin. Es war verrückt.
Doch der Traum vom Leben in Stuttgart blieb einfach hartnäckig. Im zehnten Schuljahr waren wir hier auf Klassenfahrt. Jedenfalls fand ich es hier so schön, dass ich gesagt habe: „Hier will ich auf jeden Fall einmal leben!“ Das war einfach so ein Gefühl, ich kann das irgendwie nicht an einem besonderen Ereignis oder Ort in Stuttgart ausmachen.
So poetisch das Postkartenschreiben auch ist, dein Gehalt reicht doch nicht für die Rente?
Das weiß ich nicht. Soweit denke ich nicht, ich meine, das ist ja eine Tätigkeit, die ich nach Lust und Laune machen kann. Wenn ich eines Tages keine Lust mehr darauf haben sollte, mache ich mich frei davon und mache eben was anderes.
Postkartenschreiberin statt Werbetexterin. Entfliehst du dem hektischen Alltag?
Ja, definitiv. Das Schreiben mit der Hand entspricht mehr meinem natürlichen Tempo. Früher hat mir so ein weißes Blatt Papier Angst gemacht. Ich glaube, so bin ich bei der Postkarte gelandet, weil das übersichtlich ist. Aber für meinen lang ersehnten Buchwunsch war es klar, dass ich die Langform brauche und es geht mittlerweile. Ich habe die Angst davor überwunden.