„Das kann man sich vorstellen wie im Fahrsimulator. Man hat sich die Strecke komplett im Kopf eingeprägt, sodass man sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Ich schaue nicht in der Weltgeschichte rum. Das kann ich mir auch nicht mehr erlauben. Dementsprechend konzentriere ich mich nur auf das Radfahren und dass nichts passiert.“
Fast blind auf zwei Rädern
So versucht Werner Auth anderen Leuten zu erklären, wie sich für ihn Fahrradfahren anfühlt. Mit zwölf Jahren diagnostizierte man bei ihm die Augenerkrankung Chorioideremie. Seit der Diagnose sind viele Jahre vergangen. Mittlerweile ist Werner 50 Jahre alt und auf dem linken Auge komplett blind. Auf dem rechten Auge hat er nur noch ein Gesichtsfeld von fünf Grad, ein gesunder Mensch hat ein Gesichtsfeld von 200 Grad.
Chorioideremie ist eine Augenerkrankung, bei der die Augennetzhaut stirbt, was zu Ausfällen des Gesichtsfelds führt. Die Erkrankung kann sehr unterschiedlich verlaufen und es wird geschätzt, dass in Deutschland etwa 1.000 von Chorioideremie betroffene Personen leben. In der Regel erkranken nur Männer, da diese Erkrankung geschlechtsgebunden über das X-Chromosom vererbt wird. Das bedeutet, dass Frauen das Gen zwar übertragen können, aber in der Regel nicht davon beeinträchtigt werden. (Quelle: PRO RETINA Deutschland e. V.)
Durch den zunehmenden Verlust der Normalität, verursacht durch die Folgen seiner Krankheit, fiel Werner vor vielen Jahren in ein tiefes Loch. Doch rumsitzen und jammern wollte er nicht. Mit dem Fahrradfahren gelang es ihm, einen Ausgleich zu seinem Alltag zu finden und die Trennung von seiner damaligen Frau zu verarbeiten. „Man bekommt den Kopf frei und ist gegenüber seinen Mitmenschen ausgelassener. Man ist einfach ausgepowerter und zufriedener durch den Sport“, erklärt er. Diese Erkenntnisse brachten ihn auf eine Erfolgsspur. Er setzte sich immer höhere Ziele, wollte sich etwas erarbeiten. So fing er mit dem Leistungsradsport an und legte mehr und mehr Kilometer zurück.
Sein Unfall bringt Werner ins Grüblen. Nach der Zeit im Krankenhaus fasste er einen Entschluss: Er wollte weitermachen und sich wieder auf das Fahrrad setzen. Doch dazu galt es, einige Hürden zu überwinden. Werner musste zuerst die Angst, sich wieder auf sein Fahrrad zu setzen, bezwingen. Erst nach vielen Kilometern fühlte er sich wieder auf den zwei Rädern sicher. „Ich setze mich ja nicht drauf und trete rein, sondern man muss den inneren Schweinehund und ganz besonders die innere Angst überwinden“, sagt Werner.
„Solange ich das noch machen kann, werde ich das auch machen.“
So setzte er sich 2014 das Ziel, zwei Jahre später bei den Paralympics in Rio de Janeiro teilzunehmen. Er trainierte immer intensiver, um seinem Ziel näher zu kommen. Allerdings wurde ihm die Teilnahme altersbedingt verwehrt. Trotzdem machte er weiter, fuhr im gleichen Jahr 22.000 Kilometer und wollte noch mehr.
Früher fiel Werner das Radfahren noch einfacher. So konnte er vor vielen Jahren bei seinen Routen variieren. Im aktuellen Stadium seiner Krankheit muss er sich auf drei feste Routen beschränken, die er abfahren kann, Routen, die er kennt. So nutzt er beim Radfahren andere Sinne, fährt nach seinem Gehör und setzt weitere Tricks ein: „Ich habe hier zum Beispiel eine kleine Runde, die fahre ich, wenn das Wetter nicht beständig ist. Die Strecke ist zehn Kilometer lang, geht durch vier Ortschaften und die fahre ich natürlich rechtsrum. Rechtsrum, weil ich dann nur rechts abbiegen muss. Wenn ich linksrum fahren würde, müsste ich manche Kreuzungen oder Straßen überqueren. Dementsprechend wäre die Gefahr für mich bedeutend größer“, sagt Werner.
„Ich habe gemerkt, dass ich wieder einen Kick brauche!“
Um sich weiter zu motivieren, setzte er sich ein neues Ziel: Er fing an, sich an einer gewissen Zahl zu motivieren, um am Tag seines 50. Geburtstages die 111.111 Kilometer drauf zu haben. „In vier Jahren, acht Monaten und 23 Tagen“, ergänzt Werner voller Stolz.
An guten Tagen fuhr er bis zu 300 Kilometer. Auf so anspruchsvollen Touren begleitete ihn dann ein Kollege. „Das Fahrradfahren hilft mir, im Alltag besser zurechtzukommen und ich fühle mich körperlich fitter, habe mir eine Koordination angeeignet, die ganz viele Leute in meinem Stadium nicht mehr hinbekommen. So ist der Sport auch medizinisch gesehen sehr sinnvoll für mich“, erklärt er. Jedoch teilt nicht jeder die Bewunderung für Werners Leistung und seinen unerschöpflichen Ehrgeiz.
„Man wird von Betroffenen kritisiert, weil man noch etwas hinbekommt, was andere nicht hinbekommen.“
Doch er ließ sich davon nicht beirren, fuhr weiter, glaubte an sich. „Man fährt diese ganzen Kilometer nicht aus Spaß an der Freude, sondern du musst dir im Leben Ziele setzen“, sagt er. Und so schaffte er es, fuhr im Schnitt 65 Kilometer pro Tag und knackte an seinem 50. Geburtstag dieses Jahres die 111.111 Kilometer.
„Für gesunde Leute sind das utopische Zahlen, für mich ist das ja nochmal das Doppelte. Mit dem, was ich habe, sowas zu machen. Von daher ist das eine innere Genugtuung.“
Die Zukunft lässt Werner auf sich zukommen. Nebenbei engagiert er sich in seiner Heimatstadt Fulda für mehr Rechte für Leute mit Behinderung. Mit dem Ziel, die Stadt für ihn bewohnbarer zu machen, kämpft er darum, dass Ampeln für Blinde oder Sehbehinderte umgerüstet und Leitsysteme gelegt werden.
Seine Zukunft auf dem Fahrrad sieht er mittlerweile gelassener: „Ich möchte schon weiter Fahrrad fahren. Aber ich habe ja auch noch andere Hobbys. Ich tanze gerne und habe jetzt neuerdings eine Partnerin, die auch gerne tanzt. Das ist ein neuer Ausgleich, sodass man nicht mehr ganz so viel Fahrrad fährt und das Risiko nicht eingehen muss“, erzählt Werner.