„Ich verkleide mich nicht mehr, ich fühle mich als Frau“
41 Jahre lang lebte Emma in einem Körper, der nicht ihre Identität widerspiegelte, denn Emma ist transgender. Ich kenne sie noch als Patrick, den Vater meines Ex-Freundes. Heute sitzt sie vor mir als starke Frau, die sich nicht mehr davor scheut, zu zeigen, wer sie ist. Ein langer Weg brachte sie an den Punkt, an dem sie heute ist: endlich sie selbst.
Sie trägt schulterlange Haare und dezent geschminkte Augen. Aber vor allem: ein breites Grinsen auf den Lippen. Ich sehe sie zum ersten Mal als Frau, doch es scheint, als wäre es nie anders gewesen. Auf ihrem Weg hat sie noch einige Hürden zu bewältigen: die gerade andauernde Hormontherapie, die Namens- und Personenstandsänderung, die sie auch auf dem Ausweis zu Emma macht und die geschlechtsangleichende Operation, die sie für 2022 anstrebt. Mir brennen einige Fragen schon auf dem Herzen, also fange ich an.
Wie lange gibt es „Emma“ schon?
Puh, den Namen Emma gibt es jetzt so zehn bis zwölf Jahre. Da habe ich mich in einer Selbsthilfegruppe angemeldet und da muss man sich eben einen Namen geben.
Warum Emma?
Ich wollte einen Namen, der nicht ansatzweise in meinem Umfeld vorkommt. Emma war damals noch nicht weit verbreitet und ich konnte ja nicht ahnen, dass er zehn Jahre später mal auf Platz eins der Geburtenliste steht. Damals wurde ich noch gefragt, warum ich mir denn so einen Oma-Namen ausgesucht habe (lacht).
Es fing aber nicht mit dem Aussuchen eines Namens an.
Nein, meine ersten Erinnerungen habe ich mit sechs, sieben Jahren. Ich wusste, irgendwas ist mit mir anders, aber ich konnte es nie so wirklich in Worte fassen. Mit 16 Jahren habe ich dann meine Ex-Frau kennengelernt — wir sind mit 19 Eltern geworden und bis ich 25 war, war alles supi. Dann habe ich jedoch in meinem Job in den Außendienst gewechselt und ganz viel Zeit für mich selbst gehabt. Da hat das dann so richtig angefangen.
Wie kann man sich das vorstellen?
Es ging so los, dass ich angefangen habe, mir Stück für Stück Kleidung zu kaufen. Das ging weiter mit Make-up, einer Perücke. Ich habe mich abends dann im Hotel gerichtet. Irgendwann hat mir das aber nicht mehr gereicht, nur im Hotel zu sein — ich wollte raus. Wenn das Hotel einen Nachtausgang hatte, bin ich also auch mal in die Stadt gegangen. Alles im Unwissen meiner Familie.
Wie lange ging das?
Das ging erstmal round about drei Jahre. Dann habe ich den Job gewechselt. Anstatt zwei Wochen im Monat war ich nur noch ein bis zwei Übernachtungen in der Woche weg. Das sollte ein Neuanfang werden und ich wollte mit meiner Vergangenheit abschließen, also habe ich alles weggeschmissen. Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Das ging dann genau ein halbes Jahr gut (lacht), dann stand ich da und dachte mir: Scheiße und jetzt? Alles war weg. Also habe ich angefangen, mir neue Sachen zu kaufen. Nach weiteren drei Jahren war ich dann wieder so weit, nachts rauszugehen. Ich ging dann ins Kino oder mal alleine ins Restaurant. Bis dahin wusste noch niemand etwas davon. Kurz darauf hat Meine Ex-Frau es dann herausgefunden, weil sie meine Klamotten, die ich in der Garage versteckt habe, gefunden hat. Sie war fix und alle, aber nach vielen langen Gesprächen hat sie angefangen, sich da etwas reinzudenken. Ich habe dann versucht, sie davon komplett fernzuhalten und mein Doppelleben ging weiter.
Und sonst hat es niemand bemerkt?
Nein, wenn ich jetzt im Nachhinein mit Leuten darüber spreche, bekomme ich immer zu hören, dass man mir nie etwas angemerkt hätte. Mit der Zeit habe ich es eben perfektioniert, die zwei Rollen voneinander zu trennen.
Mir ging es damals nicht anders. 2016 verbrachte ich viel Zeit mit Patrick. Ich war sogar mit ihm und meinem Ex-Freund zusammen im Urlaub. Im Nachhinein betrachtet, beherrschte sie ihr Doppelleben also perfekt.
Wann kam dann die endgültige Entscheidung?
Das war ein langer Weg, 2020 erst. Der Lockdown, Grenzschließung. Und ich war zwölf Wochen im Home-Office. Zwölf Wochen zu Hause und zwölf Wochen am Stück Emma. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem es hieß: Ab nächster Woche kann es weitergehen. Ich dachte nur: Jetzt soll ich den Anzug wieder anziehen und losfahren? Da war mir klar: Der Zeitpunkt ist gekommen, etwas zu ändern.
Wie war dein Outing?
Das eine Outing gab es nicht. Nachdem es meine Ex-Frau wusste, habe ich zwei Jahre mit niemand anderem darüber gesprochen. Dann weihte ich meinen besten Freund ein. Er war echt sauer, weil ich es so lange vor ihm verheimlicht habe, aber mit der Sache an sich hatte er kein Problem. Dann erzählte ich es meiner Mutter, meinen Kindern und nach und nach allen anderen in meinem engeren Umfeld. Die Reaktionen waren wirklich positiv, da habe ich schon ganz andere Geschichten von Gleichgesinnten mitbekommen. Klar, der ein oder andere hatte anfangs vielleicht Schwierigkeiten, damit umzugehen, aber das ist mittlerweile kein Problem mehr.
Bereust du es, die Entscheidung nicht schon früher getroffen zu haben?
Nein, alles kommt zur richtigen Zeit. Als meine Ehe vor fünf Jahren in die Brüche ging, bin ich weggezogen. Da hätte ich es machen können, so als neuen Lebensabschnitt. Zu dem Zeitpunkt hatte ich aber noch nicht die persönliche Reife und konnte mir selbst nicht eingestehen, wie groß das Thema ist. Jetzt habe ich 41 Jahre glücklich als Mann gelebt und lebe hoffentlich noch 41 Jahre glücklich als Frau. Dann habe ich es 50 / 50.
Seit zwölf Wochen bist du in der Hormontherapie. Wie haben sich die ersten Veränderungen angefühlt?
Ein unglaublich tolles Gefühl. Erst letztens stand ich im Bad, habe in den Spiegel geschaut und dachte: Das ist nicht mehr Patrick. Patrick gibt es nicht mehr. Ich meine, klar, ich habe das ja schon lange ausgelebt, aber mit der ganzen Schminke, Perücke und Silikoneinlagen war das mehr verkleiden. Jetzt brauche ich das alles nicht mehr, schminke mich viel dezenter. Ich verkleide mich nicht mehr, ich fühle mich als Frau.
War Patrick eine Rolle für dich?
Damals nicht, nein. Das Doppelleben war sehr anstrengend, aber ich würde nicht sagen, dass ich todunglücklich als Mann gelebt habe. Mit der Zeit wurde es jedoch immer schwieriger, das zu trennen. Emma war irgendwann nicht mehr nur ein Name, sie entwickelte sich zu einer eigenständigen Person. Hört sich vielleicht strange an, aber ich war Emma, zu 100 Prozent. Das zu switchen, von Emma zu Patrick und von Patrick zu Emma, immer wieder, das wurde immer anstrengender und anstrengender.
Was bedeutet für dich Weiblichkeit?
Ein Gefühl, wenn ich in den Spiegel schaue und mich weiblich fühle. Aber was ist schon Männlichkeit, Weiblichkeit? Ich bin ein starker Mensch. Ich werde als Frau genauso stark und selbstbewusst auftreten und in manchen Situationen „meinen Mann stehen“.
Bist du jetzt erst du selbst?
Als Patrick war ich schon auch ich selbst und genauso eine Persönlichkeit. Aber als Emma fühle ich mich doch ein Stück weit mehr wie ich — definitiv.
Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich sehr unglücklich war und mich selbst klein gemacht habe. Ich hatte fast schon Minderwertigkeitskomplexe, immer das Gefühl, als Mann nicht gut genug zu sein. Aber ich war eben anders als die anderen Männer. Damit bin ich dann irgendwann auch klargekommen und habe mich und meine Art akzeptiert.
In den letzten Jahren bin ich aber persönlich nochmal um einiges gereift und als Emma fühle ich mich jetzt noch mehr wie ich.
Hat sich in den letzten Jahren in deiner sexuellen Orientierung was verändert?
Tatsächlich schon. Als Patrick konnte ich mir nie was mit einem Mann vorstellen, das war ein No-Go. Jetzt würde ich mich als bisexuell bezeichnen. Ich würde ehrlich gesagt gar nicht wissen, ob ich mich jetzt noch auf eine Frau einlassen könnte. Da hängen ja viele Erinnerungen dran und vielleicht will ich das dann gar nicht mehr.
Hast du schon sexuelle Erfahrungen mit Männern gemacht als Emma?
Ja, habe ich.
Wie hat sich das angefühlt?
Anfangs total strange, aber es war aufregend. Erfüllend. Eine sehr spezielle Situation. Ich kann aber schlecht einschätzen, ob es so erfüllend war, weil es etwas komplett Neues war oder weil ich es als Emma erlebt habe.
Bist du heute immer noch manchmal Patrick?
Im privaten Umfeld gar nicht, im geschäftlichen stehe ich noch im Schatten von ihm. Zwar erfahre ich in meinem Unternehmen viel Akzeptanz und kann meinen Weg auch im Beruf gehen aber viele Kunden haben mich durch Corona eben lange nicht mehr gesehen und wissen noch von nichts. Die einzigen Überbleibsel sind jetzt allerdings nur noch ein weißes Hemd und ein Sakko.