Jenseits von männlich und weiblich
Es sind die kleinen Dinge im Leben, über die sich die beiden 19-jährigen Abiturient*innen Harri und Jonte oft große Gedanken machen müssen. "Bei öffentlichen Toiletten überlege ich zuerst, welche Toilette für mich keine Gefahr wie z.B Belästigung darstellt", erzählt Harri, als wir die beiden für ein Interview treffen durften. Probleme, wie sich ständig erklären zu müssen, weil auf dem Pass der Geburtsname steht oder bei der Arbeit und in der Schule falsch angesprochen zu werden, sind für nicht-binäre Personen alltäglich. Auf dem Papier ist Jonte als männlich und unter einem anderen Namen als ks gewähltem Namen eingetragen, doch das sage nichts über k aus. "Ich freunde mich nicht mit strikten Labeln an. Wenn ich gefragt werde, wie viele männliche und weibliche Anteile ich habe, sage ich einfach: ich habe 100% menschliche Anteile."
Welche Pronomen benutzen nicht-binäre Menschen?
Bei männlichen und weiblichen Personen ist die Ansprache einfach er oder sie. Das gilt jedoch nicht unbedingt für genderqueere und nicht-binäre Menschen. Allgemeine Pronomen wären beispielsweise sie*er mit dem "Gendersternchen" oder sie_er mit der "Gendergap". Ansprachen wären so beispielsweise Frau*Herr oder Frau_Herr. Jonte und Harri verwenden individuelle Pronomen. Harri verwendet das Pronomenset nim/nims, ein Beispiel wäre: Nim hat nims Schlüssel vergessen. Jonte verwendet das Pronomenset k/ks, ein Beispiel dafür wäre: K hat ks Schlüssel vergessen. Welche weiteren Pronomenes für nicht-binären Menschen gibt, könnt ihr auf Nibi-Space nachlesen.
Was bedeutet was?
cisgender: Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
transgender: Personen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde; einige nicht-binäre Menschen würden sich als trans bezeichnen, einige jedoch nicht.
queer: Menschen, die nicht heterosexuell und/oder nicht cisgender sind; oft ein Überbegriff für Menschen aus der Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender Queer (LGBTQ) - Community.
intersexuell: Menschen die genetisch, hormonell oder auch anatomisch nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können.
Harri und Jonte werden noch hauptsächlich mit ihren nicht geschlechtsneutralen Geburtsnamen angesprochen, was für die beiden ein großer Störfaktor ist. "Als nicht-binäre Person ist es in Deutschland nicht möglich, den Vornamen zu ändern", erklärt Harri. "Es ist nur entweder für binäre Trans*-Personen, also von männlich zu weiblich oder umgekehrt, oder für Menschen mit Traumaerfahrung möglich. Doch selbst da braucht mensch mehrere Gutachten." Für Jonte ist die Ansprache mit ks gewähltem Namen noch wichtiger als die Pronomen, denn dieser macht ein großes Stück ks Identität aus.
Identitätsfindung ist ein Prozess
In der Pubertätsphase sind die beiden zum ersten Mal auf genderqueere Themen gestoßen und so kam langsam auch das innere Coming Out. Das innere Coming Out ist der Zeitpunkt, an dem eine Person die Identität, das Geschlecht oder die Sexualität akzeptiert. "In der Kindheit wusste ich natürlich noch nicht, dass es außer Mann und Frau noch etwas anderes gibt. Als ich mich zum ersten Mal damit befasst habe, was es denn bedeutet, sich männlich oder weiblich zu fühlen, habe ich gemerkt, dass ich überhaupt nicht in das binäre System unserer Gesellschaft passe", erzählt Harri. Mit nims Familie und nims engen Freundeskreis hat Harri bereits darüber gesprochen, in der Schule ist nim noch nicht geoutet. Jonte hat sich bei wenigen Freunden als nicht-binäre Person geoutet, auch k tut sich besonders in der Schule und im Sportverein schwer, denn oft ist keinerlei Akzeptanz vorhanden:
Der Unterschied zwischen Sex und Gender
Im Deutschen gibt es nur das Wort Geschlecht, während zum Beispiel im Englischen zwischen "sex" und "gender" unterschieden wird. während "sex" die biologischen Eigenschaften beschreibt, steckt hinter "gender" das soziale Geschlecht und die damit verbunden Normen und Konstrukte. Besonders im Netz lese mensch häufig abfällige Kommentare, dass nicht-binäre Identitäten ein ausgedachtes Phänomen seien und dass Menschen sich demnach auch als Tiere identifizieren könnten. Doch dabei vergessen viele, zwischen den Geschlechterbegriffen zu unterscheiden. "Das Geschlecht, also das Gender, ist etwas, das nicht von außen nicht feststellbarer ist, es ist eine innere, psychologische Identität", erklärt Harri. "Andere Menschen können von außen nicht in mich hineinschauen. Sie können lediglich eine grobe Einschätzung machen. Ob ein Individuum aber ein Mensch oder ein Tier ist oder eine Person dunkel- oder hellhäutig ist, lässt sich von außen feststellen."
100 Prozent Mensch sein
Mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz für Vielfalt erhoffen sich Harri und Jonte - in der Gesellschaft und im Gesetz. Ihnen gehe es auf keinen Fall darum, das männliche und weibliche Genus abzuschaffen, sondern dass neben diesen beiden weitere existieren können. "Ich fände es gut, wenn es bei der Geburt für Eltern die Möglichkeit gäbe, die dritte Geschlechtsoption anzukreuzen, damit das Kind das später selbst entscheiden könnte", schlägt Jonte vor. Zwar besteht seit dem 1. Januar 2019 die Möglichkeit als offiziellen Geschlechtseintrag "divers" anzugeben, doch diese Option steht allein intersexuellen Menschen offen. Sichtbarkeit und Akzeptanz entstehen aber vor allem durch eines: Aufklärung. "Solche Themen in der Schule zu behandeln würde queeren Jugendlichen das Leben um vieles Leichter machen. Da es ein gesellschaftliches Thema ist, sollte mensch nicht nur in Biologie, sondern auch in Gemeinschaftskunde darüber sprechen." Als wir die beiden fragten, was sie sich persönlich für die Zukunft wünschen, muss Harri nicht lange überlegen: