Gemeinsame Werte vermitteln

Europa bilden?

Früh mit Europa in Kontakt kommen und europäische Werte leben – ist es das, was unsere Kinder brauchen? | Symbolbild
30. Juni 2018

13 Schulen in Europa nennen sich „Europäische Schulen“, in Karlsruhe, Ludwigsburg und Freiburg kann man Europalehramt studieren. Aber wie viel Europa ist wirklich schon im Bildungssystem angekommen?

Wenn morgens die Türen der S-Bahn an der Haltestelle „Europäische Schule“ in Karlsruhe öffnen, stürmen Kinder heraus. Ihre Stimmen durchbrechen die Stille und machen diesen Teil von Karlsruhe zum Europäischen Raum. Viele verschiedene Sprachen schwirren durch die Luft, ein Schüler redet mit einem Freund auf Französisch, dann dreht er sich um und antwortet einem anderen auf Polnisch. Jugendliche schlendern über den Schulhof, der mit der großen Wiese und den Bäumen fast schon wie eine Lichtung wirkt – irgendwo zwischen Karlsruhe und einem vereinten Europa.

Europäische Schulen – Vorreiter für ein einheitliches Bildungssystem?

Pioniergeist

Die Europäische Schule gibt es in Karlsruhe seit mehr als 50 Jahren. Dort werden Schüler vom Kindergartenalter bis zum Abitur unterrichtet. In ihrer Schulzeit sollen die Kinder dort in ihrer Muttersprache gefördert werden und europäische Werte leben lernen. „Es gehört zu einem modernen Bildungssystem, diese zu pflegen und in der Schule zu erleben“, findet Daniel Gassner, Schulleiter in Karlsruhe. „Respekt vor Vielfalt fängt bei den Sprachen an: den anderen zu verstehen, mit ihm zu arbeiten, obwohl man nicht die gleichen Einstellungen hat.“

Laut einer Umfrage vom Herbst 2017 gelten als „europäische Werte“ vor allem Frieden, Demokratie und Menschenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit. Wir haben in Karlsruhe und Stuttgart nachgefragt, was junge Leute mit diesem Begriff verbinden.

Einheit durch Bildung

Die Herausforderung „Bildung“ beginnt schon auf nationaler Ebene. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind groß, wenn es darum geht, wie Abiturnoten berechnet werden, wie viele Fächer die Schüler einbringen müssen und wie lange sie dafür zur Schule gehen. Die Vergleichbarkeit, die in Deutschland fehlt, haben die europäischen Schulen bereits in der EU erreicht: Wer eine dieser Schulen besucht, kann ein Auslandsjahr an einer anderen europäischen Schule machen – ihm werden alle Fächer anerkannt und er kann seine Schullaufbahn wie gewohnt zu Hause fortsetzen. Genauso wie es Studierenden durch die ECTS-Vereinbarung möglich ist. Die europäischen Schulen bilden ein eigenes Netzwerk: Sie teilen einen gemeinsam erarbeiteten Lehrplan – unabhängig von Staat oder Bundesland.

Was bedeutet ECTS?

Das European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) soll es erleichtern, zwischen verschiedenen Ländern und Universitäten während des Studiums zu wechseln und Universitätsabschlüsse vergleichbar zu machen. Pro Vorlesung wird von einem bestimmten Zeitaufwand ausgegangen.

1 ECTS = 30 Stunden Arbeitsaufwand

Beispiel: Für einen Bachelor-Abschluss müssen Studierende in der Regel 180 ECTS-Punkte in sechs Semestern sammeln.

Europa an Universitäten

Nicht nur an Europäischen Schulen, sondern auch im deutschen Bildungssystem lässt sich Europa finden: An Hochschulen in Karlsruhe, Ludwigsburg und Freiburg wird der Studiengang Europalehramt angeboten. Auch hier wird Wert auf interkulturelle Kompetenzen gelegt. Im Gegensatz zu den europäischen Schulen liegt der Schwerpunkt allerdings nicht auf der Sprachdiversität. Absolventen können danach auf Englisch und Französisch unterrichten. In ihren Seminaren lernen die Studierenden, wie man die landesspezifische Kultur in den Unterricht in einer Fremdsprache einbezieht. Grundsätzlich dürfen sich Absolventen natürlich in anderen Ländern bewerben. Dabei haben sie offiziell jedoch keinen Vorteil gegenüber Absolventen des normalen Lehramtsstudiums.

Kulturell gibt es jedoch trotzdem einen Unterschied, findet Ariane Kummetz, die in Karlsruhe Europalehramt studiert: „Ich glaube, ich bin dadurch einfach flexibler als jemand, der sich in seinem Studium nicht mit verschiedenen Kulturen befasst hat.“

Sollten die Schüler von heute über Europa lernen, um es morgen bilden zu können? | Symbolbild

„Wir sollten uns keinen Kontinent wünschen, in dem man überall dasselbe macht oder spricht – diese Vielfalt gehört zum Reichtum der Union."

Daniel Gassner, Schulleiter der Europäischen Schule Karlsruhe

Die Leiterin des Studiengangs in Karlsruhe, Prof. Dr. Christa Rittersbacher, wünscht sich ein internationales Bildungssystem: „Vergleichbarkeit und Gleichwertigkeit finde ich wichtiger als eine generelle Vereinheitlichung, damit Vielfalt und Individualität nicht verloren gehen.“ Auch auf politischer Ebene ist ein europäischer Bildungsrahmen Gesprächsthema. Ulrike Trebesius, Mitglied des europäischen Parlaments, steht dieser Idee kritisch gegenüber. Sie ist der Überzeugung, dass Bildung nicht internationalisiert werden sollte: „Generell sollte eine Vereinheitlichung nicht auf institutioneller Ebene passieren. Bildungssysteme müssen sich über einen längeren Zeitraum entwickeln und auf den Bedarf der Wirtschaft abgestimmt sein.“

Die nächste Generation

Die EU-Kommission will bis 2025 einen gemeinsamen europäischen Bildungsraum eingerichtet haben. Dieser soll sich nicht nur in Kinder- und Jugendbildung, sondern auch in einer lebenslangen Förderung äußern. Das Kultusministerium Baden-Württemberg ist der Ansicht, dass zumindest der bilinguale Unterricht aus dem regionalen Schulsystem nicht mehr wegzudenken sei. Wenn die nächste Generation europäisch heranwächst, könnte sie also einen wahrhaft vereinten Kontinent bilden – wenn es ihr ermöglicht wird.