Alltagsbegleitung

Alt werden ist nicht einfach

Kaffee und Kuchen vorbereiten, Trost spenden und Spiele spielen: Das sind typische Aufgaben der Alltagsbegleitung.
11. Dez. 2023

Wie gehen Betroffene damit um, langsam dement zu werden und welche Themen sind in diesem Lebensabschnitt wichtig? Als Alltagsbegleitung im Pflegeheim tauche ich in die Gefühlswelten der Senior*innen ein, was mich manchmal vor Herausforderungen stellt.

Elisabeth* steht im weißen Nachthemd vor mir und lächelt mich an. Sie hat heute lange geschlafen und sieht immer noch ein wenig müde aus. Ich glaube nicht, dass sie weiß, wer ich bin. Aber sie freut sich immer, mich zu sehen. Sie ist dement, wie viele der Bewohner*innen im Seniorenheim. Ich kenne sie schon seit fast einem Jahr, denn so lange arbeite ich als Alltagsbegleitung hier. 

Angefangen hat alles mit einem Ferienjob. Ich richte das Essen für die Bewohner*innen und mache verschiedene Aktivitäten mit ihnen, um sie auf körperlicher und geistiger Ebene zu fördern. Ich bin für sie da, wenn sie Hilfe brauchen oder reden wollen. Meine Arbeit grenzt sich allerdings deutlich von der des Pflegepersonals ab, denn für medizinische Aufgaben oder die körperliche Pflege von Menschen habe ich keine Ausbildung.

„Haben Sie gut geschlafen?“, frage ich Elisabeth heute Morgen. Sie schaut mich an und zuckt mit den Schultern. Ich weiß mittlerweile, dass sie nicht gerne alleine ist, sich morgens oft lange die Haare macht und meistens mit guter Laune alle im Haus begrüßt. Manchmal winkt sie mir schon von weitem zu, wenn ich komme. Durch ihre Demenz fällt es ihr zum Teil schwer, die richtigen Worte zu finden. Trotzdem hat sie mir schon gesagt, dass es schön ist, wenn ich da bin. 

Heute habe ich Frühschicht. Um viertel vor acht bin ich dann meist die erste im Wohnzimmer des Seniorenheims. In weißer Arbeitskleidung und mit meinem Namensschild stehe ich in der Küche und setze den Kaffee auf. Dann gehe ich zur Pflege, um mich anzumelden. Wenn ich längere Zeit nicht da war, habe ich dabei immer ein mulmiges Gefühl. Denn innerhalb von ein paar Wochen kann sich in meiner Wohngruppe vieles ändern. Ab und an kommen neue Bewohner*innen, die ich erst kennenlernen muss. Manchmal ist innerhalb kurzer Zeit eine Person verstorben.

Ich schenke Elisabeth Kaffee ein und bringe ihr ein Brot mit Marmelade. Lange schaut sie auf das Brot, ohne etwas zu essen. Heute hat sie keine gute Laune, merke ich schnell. Nicht jede Person in meiner Wohngruppe lässt gleich viel Nähe zu, trotzdem kriegt man oft tiefe Einblicke in das Leben und in die Gefühlswelt der Bewohner*innen. Das können schöne Momente sein. Zum Beispiel, wenn mir Bewohner*innen stolz ihre Familienfotos zeigen oder über wertvolle Erinnerungen reden. Man bekommt aber auch Einblicke in Themen, mit denen man sich als junger Mensch nicht beschäftigen muss. Wie es ist, alt zu werden. Zu merken, dass man körperlich abbaut oder langsam vergisst. Und sicherlich ist vielen der Bewohner*innen bewusst, dass der Einzug ins Pflegeheim meist auch mit dem letzten Lebensabschnitt verbunden ist.

Eine Erkrankung, mit der ich bei meiner Arbeit viel zu tun habe, ist Demenz. Demenz umfasst verschiedene Erkrankungsformen und tritt vor allem im hohen Alter auf. Die häufigste Erkrankung ist Alzheimer. Im Alter von 85 Jahren ist ungefähr jede fünfte und ab 90 Jahren jede dritte Person von der Alzheimer Erkrankung betroffen. Etwa 70 Prozent der Demenzerkrankten leben zuhause und bekommen dort zum Teil Unterstützung von Angehörigen oder der Tagespflege. Fast 19 Prozent der Menschen leben im Pflegeheim. Die Erkrankung ist meist schleichend und individuell: „Das planerische Denken ist oft eingeschränkt oder es kommt zu Orientierungsschwierigkeiten und Wortfindungsstörungen. Das hängt natürlich auch davon ab, wo die Veränderungen im Gehirn auftreten“, sagt Laura Mey, Beraterin von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. 

Demenz ist für Betroffene, aber auch für Angehörige eine große Belastung.

Es gab Tage, da hat Elisabeth geweint, weil sie merkte, dass sich etwas verändert. Sie hat gemerkt, wie ihr die Worte entfallen und sie mit alltäglichen Aufgaben zum Teil überfordert ist. Da half manchmal nicht viel, außer vielleicht eine Umarmung. „Bei Menschen mit Demenz ist oft ein unterschwelliges Gefühl von Hilflosigkeit da, weil das Gedächtnis sie nicht mehr so zuverlässig leitet. Sie sind schneller überfordert, weil sie Informationen nicht mehr so gut verarbeiten können. Manche reagieren dann mit Frustration und Gereiztheit, bis hin zu aggressivem Verhalten. Andere können aber auch sehr ängstlich und weinerlich reagieren“, erklärt Laura Mey. Wichtig sei es, in solchen Situationen Verständnis und Empathie zu zeigen. Demenzerkrankte ständig auf Fehler hinzuweisen oder Machtkämpfe zu führen, sei dagegen ein No-Go.

Stimmungsschwankungen mancher Bewohner*innen bekomme ich oft mit, nicht immer muss es an der Demenz liegen. Im Laufe des Morgens werde ich angemotzt, warum das Essen so spät kommt oder wo die Tabletten bleiben. Dinge, die mir im Alltag egal wären, sind im Seniorenheim plötzlich wichtig. Manche Menschen werden sauer, wenn man ihnen statt zwei Scheiben Wurst nur eine serviert, wenn der Käse nicht der richtige ist oder das Mittagessen nicht so heiß wie gewünscht auf den Teller kommt. Oft finde ich das Verhalten übertrieben. Aber wenn ich mir überlege, wie schwierig es sein muss, die eigenen vier Wände und die Selbstständigkeit zurückzulassen, dann kann ich sie verstehen. Gerade die Regelmäßigkeit im Heim und die alltäglichen Dinge sind vermutlich so gut wie alles, was einem als Bewohner*in in dieser Lebensphase an Sicherheit noch übrig bleibt.

Vor einem Jahr habe ich mir manche Kommentare noch zu Herzen genommen. Mittlerweile prallen die meisten Beschimpfungen und unbegründeten Vorwürfe an mir ab. Man ist als Alltagsbegleitung und als Pflege oft Zielscheibe von Frust und Wut. Empathie ist wichtig, aber es ist auch wichtig, Grenzen zu setzen und den Fehler nicht bei sich selbst zu suchen. Es ist die Schwierigkeit, ein vertrauensvolles und emotionales Verhältnis zu den Senior*innen aufzubauen und trotzdem eine gewisse innerliche Distanz zu halten. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich aus meiner Arbeitserfahrung mitnehme. 

Wofür an diesem Morgen nur wenig Zeit bleibt und was ich eher in der Spätschicht mache, sind Aktivitäten mit den Bewohner*innen. Das ist wichtig, um die körperliche Gesundheit, aber auch das Gedächtnis zu fördern. Gar nicht so einfach ist es allerdings, Beschäftigungen zu finden, die für alle Bewohner*innen mit Demenz gleichermaßen passend sind. „Es kommt zum Beispiel auch darauf an, in welcher Phase der Demenz eine Person ist. Die Beschäftigung sollte nicht überfordern, aber auch nicht unterfordern. Sie sollen das Interesse wecken und Spaß und Freude bereiten. Dadurch wird das Wohlbefinden gesteigert und es ist ein wichtiger Faktor, mit dem man Demenzerkrankungen stabilisieren kann“, so Laura Mey. 

Viele Bewohner*innen berichten gerne aus ihrer Vergangenheit. Das ist auch bei Demenzerkrankten der Fall, weil das Kurzzeitgedächnis meist zuerst nachlässt.  Deshalb weiß ich mittlerweile, wie eine Wäscheschleuder funktioniert, oder wie man in früheren Zeiten fernab von Online-Dating im Tanzlokal andere Menschen kennengelernt hat. Die eigene Familie bleibt bis zuletzt ein großes Thema. Immer wieder werden mir mit großem Stolz Fotos von den eigenen Kindern und Enkelkindern gezeigt. 

Heute morgen bin ich eher damit beschäftigt, die Tische zu putzen und das Mittagessen vorzubereiten. So entspannt, wie der Tag angefangen hat, bleibt er nicht. Vor dem Mittagessen wird eine Bewohnerin gesucht, die nicht mehr in ihrem Zimmer ist. Ein wenig später wird sie wiedergefunden. Das ist im Pflegeheim kein Einzelfall. Immer wieder passiert es, dass Demenzerkrankte das Haus verlassen wollen. Auch für solche Fälle hat Laura Mey einen Rat: „Viele Menschen haben durch die Demenz eine innere Unruhe oder das Gefühl, etwas erledigen zu müssen. In solchen Fällen ist es besser, Menschen auf der emotionalen Ebene abzuholen und Verständnis zu zeigen. Die Person mit rationalen Argumenten zu konfrontieren, verstärkt den Impuls meist nur noch.“ Das ist nicht immer so einfach, solche ungeplanten Situationen lösen bei allen Mitarbeiter*innen Stress aus. Dieser überträgt sich dann zum Teil auch auf Bewohner*innen. „Menschen mit Demenz haben sehr gute Antennen dafür, Stress wahrzunehmen. Deshalb kann es in Pflegeheim auch schnell mal zu Konfliktsituationen kommen, wenn das Personal unter Druck steht“, sagt Mey. 

„Menschen mit Demenz haben sehr gute Antennen dafür, Stress wahrzunehmen.“

Laura Mey, Alzheimer-Beraterin

Unter Druck stehe ich während des Mittagessens auch oft. Zum einen ist es schwierig, das Essen möglichst schnell zu verteilen. Zum anderen sitzen während der Mittagszeit alle im Wohnzimmer, nur verstehen sich nicht alle gut. Die Mitbewohner*innen im Pflegeheim kann man sich nun mal nicht aussuchen. Elisabeth kommt mit der Lautstärke eines anderen Bewohners nicht gut klar. Das führt schnell zu Konflikten. Schon oft habe ich in diesem Rahmen festgestellt, dass Schimpfwörter und Beleidigungen Menschen trotz der Demenz noch lange im Gedächtnis bleiben. Zum Teil musste ich schon eingreifen, weil sich Senior*innen im Streit geschlagen haben, oder Stühle aufeinander schmeißen wollten. Das ist aber zum Glück nur selten der Fall.

Dieser Mittag verläuft ruhig. Ich frage Elisabeth, welches Menü sie essen möchte. „Das, was es gibt“, meint sie und lacht. Nach dem Essen läuft sie unruhig umher. Ich frage sie, ob sie mir helfen möchte, das Besteck zu sortieren. Ab und an machen wir das gemeinsam. Heute allerdings nicht. Sie schüttelt den Kopf und geht in ihr Zimmer. Ein wenig später kommt sie wieder und zeigt mir Fotos von einer Veranstaltung im Seniorenheim. Schließlich bin ich fertig mit meiner Schicht. „Ich gehe jetzt nach Hause, aber wir sehen uns bald wieder“, sage ich zu Elisabeth. Sie nickt verständnisvoll. Das ein oder andere Mal wurde ich schon vorwurfsvoll gefragt, was denn jetzt alle ohne mich machen sollen. Heute darf ich gehen.

*Name von der Redaktion geändert

Laura Mey berät Menschen mit Demenz sowie Angehörige über das Alzheimer- Telefon. Das kostenfreie Angebot ist auf der Website der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zu finden. Alzheimer-Telefon: 030 259 37 95 14