Die Kraft des Nichtstuns
Im Allgemeinen setzt sich die Kritik am Nichtstun aus folgenden Überzeugungen zusammen. Erstens: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Zweitens: Ohne Fleiß kein Preis. Und drittens: Zeit ist Geld. Solche Floskeln prägten uns bereits im Kindesalter. Seitdem klingeln wir uns zeitig aus den Federn und arbeiten härter und länger für unsere Karriereziele. Schließlich scheint das unproduktive „Nichtstun“ wie ein Angriff auf das Streben nach Wachstum und Profit zu sein. Einfach herumsitzen, beobachten, innehalten – das ist dem modernen Menschen unangenehm. Es ist zur Norm geworden, anzunehmen, dass wir erfolgreicher sind, wenn wir einen vollen Terminplan haben. Die Arbeitsmentalität – immer mehr immer schneller zu erreichen – durchdringt alle Lebensbereiche: Von der Schule bis zur Rente rasen Menschen von einem Karriereziel zum nächsten. Ihre Gesundheit bleibt auf der Strecke. Wir haben es mit einer Volkskrankheit namens Stress zu tun.
Immer mehr Menschen fühlen sich depressiv und ausgebrannt. Das hat eine Auswertung der KKH Kaufmännische Krankenkasse zum Tag der Workaholics am 5. Juli 2019 ergeben. Betroffene klagen über typische Symptome wie anhaltende Erschöpfung, innere Anspannung und Rückenschmerzen – die Diagnose: Burnout. Vor fast zwei Jahren erklärte die World Health Organisation die Krankheit offiziell für chronisch, ausgelöst durch den Stress des modernen Lebens.
Die Pandemie verstärkt den Druck
Die Maßnahmen der Pandemie wirken wie ein Motor für solche Leiden, auch und vor allem für junge Menschen im Homeschooling. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung belegt, dass rund zwei Drittel aller Schüler*innen gestresst sind. Viel mehr als noch vor der Pandemie. Ein Grund dafür ist die neue Lernumgebung, nämlich ihr eigenes Zuhause. Nächtliche Chat-Nachrichten, E-Mails, Aufgaben – das Corona-bedingte Homeschooling lässt die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit zunehmend verschwimmen. Aber muss das bedeuten: Wenn das Virus sich rund um die Uhr weiterentwickelt, sollten es die Schüler*innen auch? Nein. Pausen würden die Belastungsprobleme beheben, sind sich Forscher*innen an der Stanford University sicher. Besonders öfter zwischen den Videokonferenzen, die nach Studienergebnissen einen höheren geistigen Leistungsaufwand beanspruchen. Doch auch nach der Pandemie sollten Pausen wichtig bleiben, egal ob im Schulalltag oder Berufsleben.
Nichtstun kann Fluch und Segen sein
Mit dem kurzen „zwischendurch Abschalten“ lässt sich das andere, also die Schul- und Arbeitszeit, viel besser aushalten, bestätigen Lebensberater. Und mit „Abschalten“ ist jegliche Ablenkung gemeint, besonders das Smartphone. Gibt man sich dem Nichtstun bewusst hin, kann diese Phase wahre Wunder bewirken. Darum setze ich mich ein paar Mal am Tag auf die Terrasse und schaue zu, wie meine Hunde zusammen herumtollen und über die Wiese flitzen. Ich bin überzeugt, dass ich in diesen Zeitabschnitten voller Ruhe neue Energie tanke. Meine Effizienz bei der Arbeit ist danach deutlich höher.
Pausieren, ohne Smartphone in der Hand und ohne etwas zu Lesen – eine solches Schema mag einem bekannt vorkommen. Momentan berichten wieder viele Magazine und Zeitschriften von alten Konzepten, die bis heute den Zeitgeist treffen: zum Beispiel das „Niksen“. Eine Philosophie aus Holland, die das bewusste Nichtstun feiert, um den Geist vom Dauerstress des Alltags zu befreien. Eine ähnliche Lehre über das Wohlbefinden stammt aus einem nordeuropäischen Land: Die „Hygge“ ist eine Idee aus Dänemark, die zum Rückzug ins gemütliche Heim rät. Zu mehr Balance und Muße im Leben, halten uns die Schweden mit „Lagom“ an. Und wer bei solchen Wellness-Trends die Augen rollt, kann sich von der Tierwelt überzeugen lassen. Die angeblich so fleißigen Bienen ruhen sich je nach Art über mehrere Stunden am Tag und in der Nacht einfach nur aus. Trotz alledem ist ihre Arbeit am Ende getan. Neben Insekten scheinen auch Säugetiere weit in den Tag hinein einfach nichts zu tun. Das haben Forscher festgestellt, als sie die Zeitbudgets der Fauna untersuchten.
Rumliegen, dösen, entspannen – warum tun wir Menschen es den Tieren nicht öfter gleich? Naja, weil es harte Arbeit ist. Das hat schon der Schriftsteller Oscar Wilde bemerkt. Schließlich wiederspricht das reine Nichtstun dem gesellschaftlichen Ethos und wird in der westlichen Kultur als Müßiggang oder Faulenzen verpönt. Stichwort „Faulenzen“, dabei muss ich immer an die Lotophagen aus Homers Odyssee denken: Ein seltsames Volk, das den ganzen Tag über gar nichts tut, außer Lotosblüten zu essen. Und was am seltsamsten an dieser Erzählung ist, ist, dass diese Menschen mit ihrem Leben zufrieden waren. Auf uns Menschen aus der realen Welt wirkt das totale Nichtstun allerdings destruktiv. Die Langeweile kann genauso zum Stressfaktor werden, wie andauernd beschäftigt zu sein. Das Boreout-Syndrom wird analog zum Burnout immer häufiger unter dem Aspekt eines Krankheitsbildes diskutiert – ein Zustand ausgesprochener Unterforderung zum Beispiel im Arbeitsleben.
In beiden Fällen reagieren wir gestresst. Was das mit uns macht, haben Biolog*innenen herausgefunden: In Stresssituationen schalten Körper und Geist auf Alarmzustand. Im Gehirn werden die Botenstoffe Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, woran erst einmal nichts Bedenkliches ist. Gefährlich wird es dann, wenn über längere Dauer kein Entwarnungssignal gegeben wird. Erst durch entspannende Zeitabschnitte, oder durch Erfolge im Schul- oder Berufsleben, kann der Druck abgebaut werden. Doch bei vielen Menschen, die sich wie in einem Loch fühlen, mangelt es genau daran. Dann richten die Stresshormone Übles an: Der Psychoreport 2020 der DAK-Gesundheit hat ergeben, dass die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland rasant gestiegen ist. Der Blick auf die Einzeldiagnosen zeigt, dass Depressionen und Anpassungsstörungen die meisten Ausfalltage verursachten. Auslösende Stressoren können beispielsweise berufliche Konflikte sein und andauernde Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben.
Irgendwas ist da aus dem Gleichgewicht geraten. Schließlich macht uns ein aktives, bewegtes Leben glücklich, so suggerieren es zumindest Studien. Forscher*innen der University of Oxford veröffentlichten 2019 „Does Employee Happiness have an Impact on Productivity?“, eine Studie, die auf die Wechselwirkung zwischen mehr Zufriedenheit und mehr Produktivität aufmerksam macht. Es gilt die persönliche Mitte zu finden, zwischen Langeweile und Beschäftigung. Denn einerseits funktionieren Menschen dadurch, dass wir uns Aufgaben suchen. Ansonsten fühlen wir uns, anders als die Lotophagen, dem Tod näher. Wenn wir wiederum zu viel und das Falsche tun, kann uns das genauso niederdrücken.
„Entschleunigung“ für ein erfülltes Leben
Aus dem Dilemma kann bewusstes „Niksen“ tatsächlich helfen, wenn auch notgedrungen durch Arbeitsausfall, aber auch schon weit vorher. Denn in Momenten der Entschleunigung passiert in unserem Gehirn etwas, das Psycholog*innen als "Gedankenwandern" bezeichnen: Die Gedanken, die uns im Alltag vorschweben, geraten in den Hintergrund. Dadurch wird der Weg frei für völlig neue Denkansätze. Fragen zum eigenen Glück und zur Zufriedenheit mit dem Leben und eigenen Beruf sind dabei nur einige mögliche Themen, die uns in den Sinn kommen könnten.
„Das Leben ist nichts anderes, worauf wir unseren Fokus richten, wie eine Stirnlampe“, sagt Franz J. Schweifer. „Das, was wir im Alltag möglicherweise ausblenden, beleuchten wir in Ruhe.“ Schweifer ist nicht nur Managementtrainer und Buchautor, sondern auch stellvertretender Vorsitzender des 1990 gegründeten „Vereins zur Verzögerung der Zeit“ an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Deren Empfehlung: sich ausreichend Zeit nehmen, um über Entscheidungen nachzudenken. Die „Zeitverzögerer“ verstehen sich vorwiegend als Bewegung und Netzwerk von Menschen, denen der angemessene, gesündere Umgang mit Zeit ein Anliegen ist. Individuelle Alltagshilfen zur „Zeit-Balance“ versuchen über 1.000 Mitglieder und Fachleute an Personen und Organisationen weiter zu geben. Auf die Frage nach einem Ratschlag für Stressleidende antwortet Franz J. Schweifer mit einem Satz von Platon: „Wir entscheiden unser Leben mit der Wahl unserer Götter.“ Es geht also darum, herauszufinden, welche Werte im Leben wirklich von persönlicher Bedeutung sind. Wer bewusst nichts tut, hat eher die Chance, notwendige Veränderungen leichter aufzuspüren und das leben nach den eigenen Zielen und Anforderungen umzugestalten. Denn für unser persönliches Wohlbefinden sollten wir die meiste Zeit in das investieren, was für uns am wertvollsten ist.
Schließlich sind wir Menschen und „keine Maschine“, wie Tim Bendzko bereits 2016 festgestellt hat. Genauso wie zum Leben gehören Pausen auch zur Musik. Sie sind wichtig zum Atemholen und um Akzente zu setzen. Akzente setzen wir auch, wenn wir unseren Erfolg an der Qualität unserer Arbeit messen und nicht anhand eines vollen Terminkalenders. Wenn wir das "bewusste Nichtstun" mehr zu einer Priorität machen würden, wären unsere Leben vermutlich besser, glücklicher und ausgeglichener.