Individualismus

Wahn nach Selbstverwirklichung

In allem was ich mache, muss ich aufgehen – oder nicht?
09. Aug. 2020

Von allen Seiten prasseln sie auf mich ein: Podcasts, YouTube-Kanäle, Blogs. All das liebe und konsumiere ich beinahe täglich. Doch geht es uns dabei mehr um Selbstverwirklichung, als darum, eine aufregende Idee umzusetzen? Ein Kommentar.

Auslöser für meine innerliche Auseinandersetzung mit dem Selbstverwirklichungswahn war die aktuelle Pandemie. Täglich wurde ich während des Lockdowns auf Social Media damit konfrontiert, dass viele Menschen, denen ich auf Instagram folge – darunter einige Prominente – das absolute Maximum aus dieser Zeit herausholen und sich selbst auf unterschiedliche Weise optimieren. Gleichzeitig kam eine Welle von Artikeln, die sagten, dass es okay ist, aus der Quarantäne nicht mit einem durchtrainierten Körper, einem eigenen Buch und zwei neu erlernten Sprachen zurück in die Zivilisation zu kehren. Trotzdem kam ein immenses Mitteilungsbedürfnis unserer Gesellschaft zum Vorschein. Und so erscheint es mir nicht nur auf Social Media, sondern auch im wahren Leben. 

Wie individuell ist Individualismus noch?

Vielleicht hat es den Drang zur Selbstverwirklichung, in allem was man tut, schon immer in irgendeiner Form gegeben. Jedoch boomt dieser Trend, oder auch Nicht-Trend, seit einiger Zeit so richtig. Ich frage mich: Muss man sich wirklich in allem, was man macht, selbst verwirklichen? 

Bei einer Umfrage von Generation What? gaben 12 Prozent der 16- bis 17-Jährigen von rund Hunderttausend Befragten an, dass es zu viel Individualismus gibt. Bei den 34-Jährigen und aufwärts waren es 19 Prozent der Befragten. Aber was genau bedeutet Individualismus? Ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen? Sich selbst im Job oder im Hobby zu verwirklichen? Einen alternativen Lebensweg zu gehen?

Die Mehrheit der Befragten sieht kein Problem mit Individualismus. Auch ich finde, dass es ein Geschenk ist, sich auf unterschiedlichste Weise vielfältig verwirklichen zu können. Die Chance zu haben, privat wie auch beruflich einen unkonventionellen Weg abseits der Norm gehen zu können ist viel wert. Doch oft scheint es, als würden einige Menschen Dinge eher tun, um diese anderen mitzuteilen. Dabei geht der Individualismus, der schön und wichtig ist, unter und verwandelt sich in eine Art Anpassungsmuster. Gerade bei Personen des öffentlichen Lebens frage ich mich häufig, ob diese wirklich schon immer ein Buch schreiben, ein Parfüm kreieren oder ein eigenes Lied produzieren wollten. Vielleicht geht es eher darum, sich selbst auf eine neue Weise zu inszenieren.

Zwischen Selbstporträt und Ideenumsetzung

Ich denke, dass viele von uns gerne Spuren in der Welt hinterlassen möchten, wenn wir später mal nicht mehr da sind. Aus Angst, sonst vergessen zu werden. Wir wollen keine Chance verpassen, der Gesellschaft und den eigenen Nachfahren etwas Sinnvolles zu hinterlassen. So geht es auch mir – die Vorstellung, während meiner Zeit auf der Erde nichts bewirkt zu haben beunruhigt mich. Jedoch denke ich, dass es viel wichtiger ist, in unserem persönlichen Umfeld etwas zu hinterlassen, bei den Menschen, die uns nahe und wichtig sind. Wenn man eine gute Idee hat, sollte man diese der Welt natürlich nicht vorenthalten. Aber wir müssen nicht aus allem, was uns in den Sinn kommt, eine Business-Idee machen. Dinge mal nur für sich selbst zu tun befreit und nimmt den Druck, anderen gefallen zu müssen. Dass man sich selbst gefällt, ist immer noch am wichtigsten.