„Ja, ich habe vielleicht ein Chaos – aber ich habe eine Ordnung im Chaos.“
Montagmorgen, sechs Uhr. Das vertraute Piepsen des Weckers durchbricht die Stille. Kerstin Peters öffnet die Augen – und sieht nichts. Zwar erkennt sie, ob die Sonne bereits aufgegangen oder es noch stockdunkel ist, aber sie wird den Wecker, den sie nun ausschaltet, nie sehen. So schildert Kerstin die ersten Minuten ihres Tages. Die 23-Jährige schwingt die Beine aus dem Bett und geht zum Kleiderschrank. Ein rotes Oberteil und eine graue Jeans fischt sie heraus. Was genau sie heute trägt, weiß sie nicht – und wusste sie noch nie.
Im Alter von gerade einmal fünf Monaten erhielt sie die Diagnose Lebersche Tapetoretinale Dystrophie, ein Gendefekt, der die Netzhautfunktion stark beeinträchtigt. Obwohl die Krankheit erblich ist, ist Kerstin die einzige Blinde in ihrer Familie. In Deutschland sind vier von tausend Menschen blind oder sehbehindert. Kerstin zählt zu den rund 70 Tausend vollkommen blinden Menschen.
Sehbeeinträchtigungen im Überblick:
- Blind: Sehvermögen auf dem besseren Auge nicht mehr als 2 Prozent trotz Brille oder Kontaktlinsen
- Hochgradig sehbehindert: Sehvermögen nicht mehr als 5 Prozent trotz Sehhilfe
- Sehbehindert: Sehvermögen nicht mehr als 30 Prozent trotz Sehhilfe
Nächste Station: das Badezimmer. Routiniert greift Kerstin nach ihrer Haarbürste. Sie hat ihren festen Platz – wie fast alles in ihrer Wohnung. Für Sehende mag es chaotisch wirken, aber für Kerstin ist diese Ordnung im scheinbaren Durcheinander essentiell. „Ja, ich habe vielleicht ein Chaos – aber ich habe eine Ordnung im Chaos“, lacht sie. Mit 20 Jahren ist sie in ihre erste eigene Wohnung gezogen. Hier konnte sie sich alles nach ihren Bedürfnissen gestalten und eigene Strukturen entwickeln. „Es ist einfach eine unglaubliche Freiheit, die Sachen so einzurichten, wie ich es gerne möchte.”
„Alexa, wie viel Uhr ist es?“, ruft Kerstin dem Sprachassistenten auf dem Esszimmerschrank zu, während sie zur Küche läuft. Gestresst wirkt sie allerdings nicht. „Ich weiß, dass ich für viele Dinge mehr Zeit brauche und die nehme ich mir dann auch, wenn ich kann.“ Aus dem Kühlschrank holt sie das Müsli, das sie am Vorabend zubereitet hat, zieht ihre Schuhe an und greift nach ihrem Blindenstock.
Den Weg zur Arbeit hat Kerstin auswendig gelernt – so wie jeden anderen auch. Hin- und Rückweg sind dabei oft zwei völlig verschiedene Routen. Auf ihrem Weg zur S-Bahn läuft sie an Rasenkanten und Stromverteilungskasten vorbei, zählt die Straßen, die sie überquert und biegt an einem Mülleimer ab, um den Blindenleitstreifen am Bahnsteig zu finden. Aus solchen Orientierungspunkten und -linien baut sie sich ihre Route – eine Tätigkeit, die Konzentration verlangt.
Früher musste sie entlang einer lauten Bundesstraße mit mehreren Ampelüberquerungen gehen. „Wenn ich diese Viertelstunde gelaufen bin, habe ich danach erst mal fünf Minuten gebraucht, um mich zu sammeln.“ Heute fährt sie mit der S-Bahn. Jetzt steigt sie ein und erst mitten in der Karlsruher Innenstadt wieder aus, gefolgt von kurzen, überschaubaren Fußwegen.
Angekommen an ihrem Arbeitsplatz: das Regierungspräsidium Karlsruhe – für sie ein Vorbild in Sachen Inklusion. Auf dem Weg zum Büro grüßt sie einen Kollegen. Während sie sich mit ihm unterhält, schaut sie ihn an und lächelt – ein Verhalten, das für Sehende selbstverständlich ist, doch für sie nicht. „Wenn ich sehen könnte, hätte ich es mir von meiner Mutter abschauen können. Aber ich konnte es mir nicht abschauen, man musste es mir erklären“, erzählt sie.
Im Gebäude bewegt sich Kerstin sicher und ohne Blindenstock. Mit geübten Händen ertastet sie vertraute Punkte an den Wänden, wie ein großes Gemälde oder Lichtschalter. So bahnt sie sich einen Weg zu ihrem Büro. Dort angekommen startet Kerstin ihre tägliche Routine. Zielstrebig öffnet sie den Schrank. Auch hier hat alles seinen festen Platz. Sie greift nach der Teekanne und kocht sich Tee. Dann beginnt sie zu arbeiten.
„Ich liebe meine Arbeit und bin sehr dankbar für meine Stelle“, sagt sie. Als Beamtin im mittleren Dienst koordiniert sie Schwerlasttransporte in Baden-Württemberg – eine Aufgabe, die auf den ersten Blick unmöglich für eine blinde Person scheint. Während ihre Kolleg:innen hauptsächlich mit Straßenkarten arbeiten, hat Kerstin ihre Karten im Kopf. Schon als Kind war sie fasziniert von Wegen und Strecken. „Mein Lieblingssatz war: ‚Wo sind wir?‘ Ich habe mit dem Karlsruher Liniennetzplan in Blindenschrift lesen gelernt und bin mit meiner Mutter ständig mit Zügen, Straßenbahnen und Bussen in der Gegend herumgefahren. Und wehe im Auto war das Navi war nicht an – ich wollte immer wissen, wo ich bin.“ Bis heute greift sie auf das Wissen aus ihrer Kindheit zurück. Doch dieses Wissen alleine reicht nicht aus, um ihr diese Arbeit zu ermöglichen.
Das leise Klicken der Tasten und der Klang einer monotonen Computerstimme füllen den Raum. Um das spezielle Fachprogramm auf ihrem Laptop bedienen zu können, braucht sie mehr als nur Bildschirm und Tastatur: Eine Sprachausgabe liest in rasender Geschwindigkeit sämtliche Informationen auf dem Bildschirm vor – für Sehende nicht verständlich.
Vor ihr bewegt sich auf der Braillezeile eine Reihe kleiner Stifte, die sich stetig heben und senken und so den Inhalt des Textes in Brailleschrift wiedergeben.
Die Brailleschrift ist ein Schriftsystem für blinde Menschen, das der Franzose Louis Braille entwickelt hat. Sie besteht aus erhabenen Punkten auf dem Papier, die man mit den Fingerkuppen ertasten und so lesen kann.
„Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, ich kann nichts beitragen.“ Für einen Antrag benötigt Kerstin bis zu viermal so lange wie ihre sehenden Kolleg:innen. Bis vor zwei Jahren trieb sie dieses Gefühl bis an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit. „In dieser Zeit habe ich auch außerhalb der Arbeitszeiten am Wochenende viel gearbeitet. Das war das einzige Zeitfenster in denen ich die Vergleichswerte der Kollegen nicht ständig sehen konnte.“
Gefangen in einem Teufelskreis aus Druck und Selbstzweifeln litt nicht nur ihre Psyche, sondern auch ihre Arbeitsleistung. Erst in der Psychosozialberatung des Regierungspräsidiums fand sie die nötige Unterstützung, um dieses Gefühl zu überwinden. Dabei spielte auch ihr Kollegium eine entscheidende Rolle. „Von anderen Blinden höre ich immer: ‚Du hast so viel Glück, so nette, unterstützende Kolleg:innen zu haben.‘“ Ein Glück, das keineswegs selbstverständlich ist. Kerstin berichtet, dass blinde Menschen immer noch Mobbing am Arbeitsplatz erfahren und um die nötige Unterstützung kämpfen würden – sofern sie überhaupt eine Arbeitsstelle bekämen.
Arbeitgeber:innen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind verpflichtet, fünf Prozent ihrer Stellen mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Wird diese Quote nicht erreicht, muss eine Ausgleichsabgabe gezahlt werden. Doch 2022 haben nur rund 40 Prozent der Arbeitgeber:innen diese Pflicht vollständig erfüllt. „Viele zahlen lieber, als tatsächlich einzustellen“, sagt Kerstin. Das Regierungspräsidium Karlsruhe, ihr Arbeitgeber, erfüllt die Quote und übertrifft sie sogar.
Trotzdem ist ihre Anstellung für Kerstin keine Selbstverständlichkeit. „Es schaffen nur die fittesten Blinden. Der Rest fällt durchs Raster.“ Ein Satz, der Kerstins Lebensweg geprägt hat. Fast ihr ganzes Leben hat sich Kerstin darauf vorbereitet, in einen Beruf einsteigen zu können.
„Als ich jünger war, war es wie eine große Familie“, erinnert sie sich und lächelt. Das eingezäunte Gelände vermittelte ihr Sicherheit und bot Freiraum – genug, um alleine mit dem Fahrrad über das Schulgelände zu rasen.
„Es schaffen nur die fittesten Blinden. Der Rest fällt durchs Raster.“
Doch mit der Zeit wuchs auch ihr Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit. „Du bekommst von dem, was außerhalb deines Zauns passiert, nicht viel mit.“ Dieses Gefühl der Abgeschiedenheit machte ihr das Leben im Internat zunehmend schwerer. Um sich dennoch frei zu fühlen, nutzte sie jede Gelegenheit, um auf eigene Faust die Welt zu erkunden. „Den Ausgangsschein habe ich manchmal etwas großräumiger genutzt als erlaubt“, sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln. Auf eigene Faust nahm sie die Bahn zum Heidelberger Stadtpark und setzte die im Unterricht gelernten Orientierungstechniken in der Praxis ein – ganz auf sich allein gestellt. Dabei übte sie, fremde Menschen um Hilfe zu bitten und kam immer wieder mit neuen Menschen ins Gespräch. Doch diese Ausflüge waren aber mehr als kleine Abenteuer – sie waren essenziell, um sich im Leben jenseits des Schulgeländes zurechtzufinden. „Es ist eine ganz andere Welt hinter dem Zaun – und die funktioniert nicht so, wie sie in Wirklichkeit ist.“
13 Uhr – Mittagspause. Häufig geht Kerstin eine Runde im Schlosspark spazieren.
Ein Guide begleitete sie durch jede Etappe, lenkte sie beim Radfahren und lief an ihrer Seite. Tiefes Vertrauen war dabei essentiell. „Blinde können diesem Sport genauso nachgehen, nur brauchen sie eben spezielle Unterstützung – doch die Leistung erbringen letztlich immer noch sie selbst“, sagt Kerstin stolz.
Auch beim Tanzen, einer weiteren Leidenschaft, ist sie auf eine enge Zusammenarbeit mit ihrem Tanzpartner angewiesen. Während sehende Tänzer:innen Bewegungen einfach nachahmen können, muss Kerstin jeden Schritt entweder gezeigt oder genau erklärt bekommen. Das führt manchmal zu Missverständnissen und man muss sie korrigieren. „Da ist der Sport oft geistig anstrengender als körperlich“, meint sie.
Ende der Mittagspause: Mit zielstrebigen Schritten kehrt Kerstin in ihr Büro zurück. Bewegung und soziale Kontakte sind für sie ein Ausgleich zu ihrer Arbeit in der Verwaltung. Sie fragt ihr Handy nach der Uhrzeit: „Es ist 14 Uhr“, sagt die schnelle Stimme. Nicht mehr lange und für Kerstin rückt wohl eine der schönsten Zeiten des Tages näher – denn nach Feierabend ist ihr Tag häufig nicht zu Ende.
Als sie um 17 Uhr ihr Büro verlässt, geht es weiter zum Treffen der Stiftung Kraft-Netz. Als ehrenamtliche „Kraft-Botin“ hilft Kerstin heute bei der Organisation des nächsten Weltglückstages in der Kulturküche, ein interkulturelles Begegnungszentrum in der Karlsruher Innenstadt. Doch für sie ist ihr ehrenamtliches Engagement mehr als eine Herzensangelegenheit: „Ich sehe mich ein Stück weit in der Verpflichtung. Ich bekomme selber so viel Unterstützung, davon möchte ich auch etwas zurückgeben.“ Und diese Haltung prägt in vielerlei Hinsicht ihre Zeit außerhalb der 40-Stunden-Arbeitswoche. Regelmäßig begleitet die 23-Jährige Senior:innen auf einem Kaffeetreff beim gemeinsamen Singen und organisiert das „Singen für die Seele“ am Karlsruher Hauptfriedhof, eine offene Singgruppe, die von ihr angeleitet wird. Musik spielt dabei immer eine zentrale Rolle – seit sie im Alter von fünf Jahren mit dem Klavierspielen begann.
„Ich sehe mich ein Stück weit in der Verpflichtung. Ich bekomme selber so viel Unterstützung, davon möchte ich auch etwas zurückgeben.“
Dank ihres absoluten Gehörs erkennt Kerstin jeden Ton, der gespielt wird. „Wenn mir mein Klavierlehrer zum Beispiel ein A vorgespielt hat, dann wusste ich, welche Taste ich drücken muss.“ Doch sie bleibt nicht nur beim Nachspielen bekannter Melodien. Schon früh beginnt sie, eigene Lieder zu komponieren. „An meinem Geburtstag ist mir dann diese Melodie eingefallen. Das war das schönste Geschenk, das ich mir je gemacht habe.“ Das selbstgeschriebene Stück präsentierte sie schließlich ihrem Musiklehrer. Wenig später, beim großen Schulkonzert, spielte die gesamte Schulband zu ihrem Lied – ein Moment, den Kerstin nie vergessen wird. Mittlerweile hat sie sich für das Begleiten von Liedern auch das Ukulelespielen beigebracht. „Das ist irgendwie meine Lebensaufgabe: Zu schauen, was ich mit meinen Talenten beitragen kann.“
Nach dem ehrenamtlichen Treffen macht Kerstin noch einen Stopp beim Supermarkt. An der Kasse fragt sie nach einer Einkaufs-Unterstützung. Sie hakt sich bei einem Mitarbeiter ein und manövriert mit ihm durch die engen Gänge. In Kerstins Leben ist das ein ständiges Wechselspiel: regelmäßig Hilfe anzunehmen und gleichzeitig wo immer es ihr möglich ist, andere zu unterstützen. Besonders deutlich wird das beim „Singen für die Seele“: Dort zündet Kerstin Kerzen für die Trauernden an – ein symbolisches Licht in dunklen Momenten.
An der Endhaltestelle der S-Bahn steigt Kerstin aus. Mit sicheren Schritten läuft sie in Richtung nach Hause. Als Kerstin im Bett liegt, kreisen ihre Gedanken nicht selten um die vielen Pläne, die sie noch hat. Die Welt bereisen, Radfahren, Wandertouren unternehmen – „Besonders häufig frage ich mich aber auch, wie ich anderen Menschen auf der Welt helfen kann.“ Nächstes Jahr will sie deshalb einen Freiwilligendienst auf Sansibar machen. In einer Schule für Kinder mit verschiedenen Behinderungen, möchte sie die blinden Kinder in Brailleschrift unterrichten und mit ihnen Musik machen.
Für Kerstin gibt es Schranken – aber kaum welche, die sich nicht überwinden lassen. Obwohl sie vieles alleine meistert, liegt es auch an der Gesellschaft, welche Hürden Menschen mit Sehbehinderung in den Weg gestellt werden.
Obwohl sie die Welt nie gesehen hat, ist ihre Sicht auf sie eine sehr positive. Am Ende des langen Tages schließt Kerstin die Augen. Und vielleicht sollten das alle häufiger tun – einfach mal die Augen schließen. Wer weiß, vielleicht öffnet das den Blick für das, worauf es wirklich ankommt.
„Einfach mehr Offenheit und weniger Vorurteile“, wünscht sich Kerstin und fügt hinzu: „Mein wichtigstes Credo: Immer mit richtiger Offenheit, Freude und Liebe auf die Menschen zuzugehen. Das ist die Grundlage jeder Begegnung.“