„Kunst ist für mich wie eine Forschung, ich möchte herausfinden wo die Grenzen sind.“
Inklusion im Rampenlicht
Drei Stunden bis zur Show. Der Bühnenraum im Kulturzentrum Dieselstraße Esslingen ist noch still und leer. Durch zwei offene Türen an der Seite des Saals scheint Licht, ansonsten ist es dunkel. Der Boden, die Türen und die Bühne sind schwarz, die Wände aus grauem, unverputztem Beton. Johannes Blattner sitzt am Bühnenrand und lässt die Füße baumeln. Er legt sich auf den Rücken und schaut zu den Scheinwerfern an der Decke, die auf die Bühne gerichtet sind. Sie sind noch aus. Der Profitänzer und Choreograf ist seit 2019 Teil der inklusiven „Die TanzKompanie by Gregory Darcy“. Heute wird das Stück „Der Sinn des Lebens“ aufgeführt. Aus dem Vorraum hört man herzliche Begrüßungen, Lachen und noch entspannte Schritte. Dann kommt Paul in den Bühnenraum. Paul trägt sein langes hellbraunes Haar offen und hat ein verschmitztes Grinsen im Gesicht. Paul und Johannes umarmen sich innig. Paul erzählt, dass er auch in seiner Freizeit oft tanzt, am liebsten zu „Comet“ von Apache 207 und Udo Lindenberg. Paul hat Trisomie 21.
Auf der Bühne hinter den beiden steht KI-Roboter „MAiRA“ von der Firma NEURA ROBOTICS, seit 2022 Mitglied der Kompanie. Inkludiert werden im Ensemble von Kompanieleiter und Choreograf Gregory Darcy nämlich nicht einzig verschiedene Menschen, sondern mit „MAiRA“ auch Technik.
Auch Pauls jüngere Schwester Marie tanzt heute mit. Sie hat keine Behinderung. Genau das ist das Konzept der 2019 gegründeten Kompanie: Inklusion weiterdenken. Inklusion ist mehr als Sozialinklusion, findet Kompanieleiter Gregory Darcy. Inklusion verschiedenster Menschen, von Technik, Natur und noch viel mehr sei das wichtigste Thema der Menschheit. „Kunst ist für mich wie eine Forschung, ich möchte herausfinden wo die Grenzen sind“. Mit seiner Arbeit möchte er gesellschaftlich unterrepräsentierten Menschen eine Stimme geben, etwas mit Sinn schaffen.
Professionelle Tänzer*innen mit und ohne Behinderung arbeiten in der Kompanie auf Augenhöhe. Da Paul noch nicht wie Johannes eine professionelle Ausbildung durchlaufen hat, bezeichnet Gregory ihn als Mitglied der „Junior Company“. Gemeinsam mit drei anderen Jugendlichen, die auch Trisomie 21 haben: Johanna, Emma und Joshua.
Eine besondere Kooperation
Schlag auf Schlag wird es voller im Bühnenraum. Emma, Pauls feste Freundin, Joshua und Johanna kommen dazu. Auf der Bühne stehen zwei Techniker und „wärmen MAiRA auf“. Der Roboter leuchtet blau und bewegt sich leise surrend umher. Im vorderen Bereich der Bühne fangen Paul und Joschua an, mit Johannes zu raufen. „Emma hilf mir doch mal!“, lacht Johannes. Emma eilt zur Hilfe und versucht Johannes aus den Fängen der Jungs zu befreien, ohne Erfolg.
Mittlerweile ist der Bühnenraum voll mit Jugendlichen des Rohräckerschulzentrum SBBZ, Kompaniemitgliedern, Eltern, Technikern und MAiRA. Mit dem Rohräckerschulzentrum, einem Förderzentrum für Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf, steht Darcy seit zwei Jahren in Kooperation. Deswegen stehen heute, gemeinsam mit Tänzer*innen der Kompanie, Schüler*innen des Rohräckerschulzentrums auf der Bühne.
Die letzten Vorbereitungen werden getroffen
Zwei Stunden bis zur Show. Die Jugendlichen werden zum Umziehen gerufen. Langsam wird die Stimmung etwas angespannter, fokussierter, ernsthafter – und dennoch liegt eine große Gelassenheit über allem. Johannes geht mit Tänzerin Saskia Hamala einen Teil der Choreografie durch. Zu hören ist nur ihr leises Zählen, Atmen und die Geräusche ihrer Schritte auf dem Bühnenboden. Gregory geht umher und kontrolliert. Der Vorhang muss richtig hängen, das Licht stimmen und am wichtigsten: Alle sollen sich wohl fühlen. Aus Erfahrung weiß er: Für die Jugendlichen mit geistiger Behinderung können auch schon vermeintliche Kleinigkeiten schwer wiegen und sie irritieren.
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Die Ruhe vor dem Sturm
Eine Stunde bis zur Show. Auf der Bühne gehen drei Tänzerinnen die Choreografie durch. Die Tür des Bühnenraums öffnet sich. Paul und Emma betreten Hand in Hand den Raum – umgezogen und frisiert. Bedächtig schweigend laufen sie an der Bühne vorbei. „Sucht ihr was?“ fragt Tänzerin Lisa. „Nein“ antwortet Paul freundlich. „Lauft ihr einfach ein bisschen?“ „Ja.“ Paul und Emma gehen langsam einmal vorbei an der Bühne, durch den Zuschauerraum, hinten am Technikpult vorbei und verlassen den Raum dann wieder. Hier wird jeder so akzeptiert, wie er ist.
„Füße küssen“ vor dem Auftritt
Der Einlass beginnt. Während sich der Vorraum füllt, mit Sektgläsern geklirrt, geredet und gelacht wird, hat sich die Kompanie im Tanzraum für das gemeinsame Aufwärmen zusammengefunden. In dem Raum mit den vielen Fenstern und dem hellen Holzboden stellen sich alle im Kreis auf. Die Anspannung ist nun deutlich spürbar. Das Warm-up soll nicht nur den Körper auf die Performance vorbereiten, sondern auch beruhigen und eine gemeinsame Basis schaffen. Es wird zu einer gemeinsamen Atmung gefunden, danach folgen Koordinationsübungen, einige Runden rennen und Liegestütze. Zum Schluss kommt das „Füße Küssen“. Alle halten zuerst den rechten Fuß in die Mitte, sodass sich die Zehenspitzen wackelnd berühren. Dasselbe mit dem linken Fuß und zum Schluss mit den Händen. „OOOOeeeh!“ rufen sie und werfen ihre Hände in die Luft.
„Die Jugendlichen merken die Energie, die man ausstrahlt.“
30 Minuten bis zur Show. Johannes richtet sein Kostüm im Backstage Bereich ein, und wenn er Zeit hat, nimmt er sich nochmal einen Moment, um in sich zu gehen. Besonders an der Arbeit in dieser Kompanie ist für Johannes, dass die Jugendlichen sehr feinfühlig sind. „Die merken die Energie, die man ausstrahlt“, weswegen er bei den Auftritten besonders darauf achtet, präsent und im Moment zu sein.
Fünf Minuten bis zur Show. Die Performenden haben sich hinter der Bühne zusammengefunden. Das Publikum hat seine Plätze eingenommen. 230 Zuschauer haben hier Platz. MAiRA steht mit einem weißen Tuch abgedeckt auf der Bühne, das Publikum murmelt leise.
It’s Showtime!
Der Ton einer Gitarre erklingt, rotes Scheinwerferlicht leuchtet auf und die Show beginnt. Johannes erstes Stück ist ein Duett mit Johanna, in dem sie immer wieder zusammenfinden und sich verlieren. Die Besonderheit dieses Duetts: Choreografisch vorgegeben sind nur die Richtungen und die Stimmung. Alles andere kommt im Moment, erklärt Johannes. Es wird mit den Augen kommuniziert, sich aufeinander eingelassen.
Als Paul dran ist, ist er hochkonzentriert. Jede Bewegung führt er mit Bedacht aus. Er schlüpft in die Rolle eines Kindes, das inmitten eines Kriegschaos Ruhe bei einem sprechenden Roboter, gespielt von „MAiRA“, in einer Roboterfabrik findet. Für den Schlussapplaus kommt nochmal das ganze Ensemble auf die Bühne. Hand in Hand verbeugen sie sich mehrmals. Johannes grinst seinem Partner zu, der heute auch im Publikum sitzt. Paul wirft eine Kusshand nach hinten ans Technikpult.
Sorge trotz gelungenem Auftritt
„Jetzt wird noch ein bisschen gefeiert und dann geht es heim ins Bett“, erzählt Johannes lächelnd nach der Show. Im Tanzraum gibt es Gemüsepizza und verschiedene Getränke zum Anstoßen. Trotz des Erfolgs des Abends hängt eine dunkle Wolke über den Feiernden. Nur Tage vor der Show hat der Kulturausschuss Esslingen eine Dauerförderung abgelehnt. Ein Schock für alle Kompaniemitglieder. Besonders für die Jugendlichen ist die Kompanie ein Safe Space, in dem sie sich ausprobieren, sie selbst sein und sich in ihrer Individualität weiterentwickeln können. Seit der Gründung erhielt Darcy’s Ensemble finanzielle Unterstützung durch eine Konzeptionsförderung der Stadt Esslingen. Diese läuft zum Jahresende aus. Für das weitere Bestehen der Kompanie ist die Genehmigung einer Dauerförderung essenziell. Was an diesem Tag noch keiner weiß – knapp einen Monat später stimmt der Kulturausschuss erneut ab. Mit Erfolg! Die Dauerförderung ist genehmigt.
Während im Tanzraum noch die letzten Stücke Pizza verdrückt und die letzten Umarmungen des Tages verteilt werden, haben sich Paul und Emma zurückgezogen. Draußen im Hof sitzen sie unter den aufgehängten Lichterketten Hand in Hand nebeneinander. Schweigend und lächelnd schauen sie durch die großen Fenster ins Innere des Kulturzentrums, wo sich Gäste und Kompaniemitglieder im Foyer tummeln. Der Bühnenraum ist wieder still und leer. Bis zur nächsten Show.