„Das ist so ein Psychoterror, davon will ich loskommen.”
Die Sucht nach Luft
Oktober 2014. Die 16-jährige Pia sitzt im Matheunterricht. Sie steht auf, zieht ihren Pulli über die Hosentaschen und geht auf die Toilette. Nein, sie muss nicht mal, sondern schließt sich in einer Toilettenkabine ein, kramt etwas aus ihrer Hosentasche und nimmt zwei Sprühstöße. In jedes Nasenloch einen. Als sie zurückkommt, fragen ihre Mitschüler*innen, „Hä, wie oft musst du denn auf’s Klo?”. Ihre besten Freund*innen wissen Bescheid. Sie geht gar nicht auf die Toilette, sondern nimmt doch nur Nasenspray.
Mit 70 Millionen Packungen ist Nasenspray das meistverkaufte Medikament in Deutschland, um eine verstopfte Nase temporär zu bekämpfen. Quelle: zdf.de
Wie kommt es zur Sucht?
Im Kindesalter fängt es an. Wann genau weiß Pia nicht mehr, „es ist schon zu lange her.” Sie hat starken Heuschnupfen. Weil mehrere Allergiesprays nicht wirken, geben ihre Eltern Pia Nasenspray. Während der Schulzeit wird es dann zum ständigen Begleiter und ist nicht mehr wegzudenken. Ein Spray nach dem anderen leert sich. Neben starkem Heuschnupfen leidet Pia noch an Asthma und angeborenen vergrößerten Nasenmuscheln. Die Vergrößerung erschwert die Atmung durch die Nase. Nasenspray scheint das Allheilmittel für alle Probleme zu sein. Der Konsum ist über zehn Jahre lang Normalität für sie. Ende 2022 macht ihr Freund sie immer wieder unterschwellig auf ein mögliches Suchtproblem aufmerksam. Und dann ist da dieses eine zehnminütige TikTok über Betroffene einer Nasenspraysucht. Anfang 2023 gesteht Pia sich ihre Sucht das erste Mal ein. „Dieses Video hat mir klargemacht: Oh, fuck, man. Du bist auch süchtig danach.” Heute ist Pia 25 Jahre alt, sie wohnt in der Nähe von Hamburg und arbeitet neben dem Job als Erzieherin auch als Influencerin.
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Hauptsache freie Nase
Auf dem Weg zur Arbeit. Pia steigt ins Auto und fährt los. Dann realisiert sie, dass sie ihr Nasenspray zu Hause vergessen hat. „Ich bin ernsthaft nochmal zurückgefahren, weil ich wusste, ich werde diese sechs Stunden nicht überleben.“ Sie kann nicht ohne Nasenspray raus. Der ständige Blick, ob sie „dieses blöde Nasenspray“ dabeihat, ist reiner Stress. An einem Samstag nochmal schnell zur Apotheke rennen, weil man nur noch ein paar Tropfen hat, oder in allen Taschen verzweifelt nach Nasenspray suchen. „Das ist so ein Psychoterror, davon will ich loskommen.” Lachend gesteht Pia sich ein, dass es sie eigentlich nie ohne Nasenspray gibt. In den Kommentaren unter ihren Beiträgen auf TikTok erzählen viele Betroffene davon, ihren Geruchssinn durch die Sucht verändert wahrzunehmen. Pias Riechvermögen ist nicht eingeschränkt. Chronische Kopfschmerzen und Panikattacken gehören bei ihr aber längst dazu. Bei einem Termin stellt ihre HNO-Ärztin fest, dass ihre Nasenschleimhaut kaputt ist. Sie verordnet Pia zwei Wochen Cortisonspray-Therapie. Morgens und abends einmal. Doch auch das hat Pia irgendwann aufgegeben. „Ich hätte einfach auf sie hören müssen” sagt sie mit einem nachsichtigen Unterton.
Hinfallen. Aufstehen. Und wieder hinfallen.
An Tagen, an denen Allergie, Erkältung und Asthma zusammenkommen, kann es schon sein, dass Pia bis zu zehn Mal am Tag zum Nasenspray greift. Fast alle zwei Stunden ein Sprühstoß. In der Nacht träumt sie, zu wenig Luft zu bekommen. Sie wacht bis zu fünf Mal auf. Der Griff zum Spray auf dem Nachttisch erfolgt „schon unterbewusst.“ Nach einem Sprühstoß setzt die Erleichterung ein. Endlich unbeschwert atmen! In der ganzen Wohnung findet man Spuren der Sucht. Bevor sie selbstständig ihren ersten Entzug Anfang März 2023 startet, sammelt Pia alle Sprays, die sie besitzt, ein. „Ich bin gerade selbst schockiert von mir”, sagt sie in ihrem Videotagebuch. Allein vier Sprays sind in ihrem Nachttisch, neun weitere in der Wohnung verteilt. Motiviert hat sie neben dem TikTok auch eine anstehende Reise. Durch eine langsame Entwöhnung gelingt ihr der Entzug so weit, dass sie nur noch vor dem Schlafengehen Nasenspray nimmt. Ganz weg davon kommt sie aber nicht. Dann der Rückschlag. Ein Krankenhausaufenthalt und alles wieder auf Anfang. Liegend, vor allem auf dem Rücken, geht ihre Nase direkt zu. „Du denkst, du stirbst gleich, du kriegst keine Luft.“ Panik überkommt sie. Alles wird eng. Die Gedanken kreisen. Der Griff zum Nasenspray. Ein paar Stunden lang ist alles gut. Nach dem Rückfall weiß sie: Es geht wieder von vorne los. Die Panikattacken werden schlimmer. Nasenspray ist die einzige Rettung. Sobald Pia nur merkt, dass die Luft nicht mehr einwandfrei durch die Nase kommt, greift sie zu dem „Teufelszeug”. Die Zeit vergeht. Pia leert ungefähr zwei Sprays pro Woche. Hochgerechnet gibt sie, laut eigenen Aussagen, um die 40 Euro pro Monat dafür aus.
Neuer Entzug, neues Glück!
Mitte November 2023 dann ein neuer Versuch. Einen radikalen Entzug durchzuziehen ist unrealistisch, deswegen versucht Pia es erstmal auf vier Mal am Tag zu reduzieren. Wieder ein Videotagebuch für ihre Follower*innen auf TikTok. Mithilfe von Nasenduschen, Riechstiften und Cortisonspray will sie der Sucht entkommen. Tag eins startet mit einer Nasendusche, tagsüber machen sich mehrmals Kopfschmerzen bemerkbar. Der Griff zum Nasenspray erleichtert. Für den Schlaf nochmal zwei Sprühstöße.
An Tag 20 nimmt sie einmal vormittags und noch einmal vor dem Schlafen gehen Nasenspray. Das Videotagebuch hört auf. Ende Dezember 2023 dann das Update: „Ich mache es auf jeden Fall weniger am Tag. Ich kriege es einfach nicht hin. Warum existiert das überhaupt?” sagt Pia genervt. Bis zum heutigen Tag ist sie immer noch abhängig.
Wie geht es weiter?
Bis August will Pia vom Nasenspray wegkommen. Eine langsame Entwöhnung durch die Ein-Loch-Therapie will sie ausprobieren und zusätzlich darauf achten, nur dann zum Nasenspray zu greifen, wenn die Nase komplett zu ist. Bei der Ein-Loch-Therapie wird nur in einem Nasenloch Nasenspray verwendet. Für Pia scheint der Weg am angenehmsten: „Durch ein Loch würde ich immer noch Luft kriegen.“ Zusätzlich möchte sie versuchen, sich selbst Grenzen zu setzen und so von der Sucht loskommen. „Dass ich wirklich sage, okay, ich darf jetzt die erste Woche nur viermal am Tag Nasenspray nehmen, dann die nächste Woche nur noch dreimal und dann immer so weiter.” Nach über zehn Jahren Sucht also der dritte Entzugsversuch. Anstehende Reisen, Geld und ihre psychische Gesundheit motivieren Pia wieder. Ob sich dieser Entzugsversuch von den anderen unterscheidet, bleibt offen.